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Mariketa stellte sich vor den Spiegel und legte den Kopf zur Seite.

„Das ist das erste Mal seit Monaten, dass ich mich so richtig im Spiegel ansehe.“ An den Lykae gewandt: „Kein Wunder, dass du mich liebst. Gibt’s was Hübscheres als mich?“

„Du kannst mich mit deinen Mätzchen nicht von meiner Sorge ablenken, gib dir also keine Mühe“, sagte MacRieve. „Du ziehst dich sofort zurück, wenn du fühlst, dass irgendwas nicht stimmt, verstanden?“

Sie nickte. „Alles klar. Also, ich brauche zwei Spiegel, an jeder Seite einen, und zwar sofort.“

Conrad ließ widerwillig Néomi los. „Hier gibt es nur die zerbrochenen Spiegel an dieser Wand.“

„Hol sie und bring sie her.“

Er packte eine der größeren Scherben und zerrte sie von der Studiowand. Blut aus seinen Fingern rann über die Kanten, als er die gezackte Spitze in den Holzboden stieß, sodass die Scherbe aufrecht stand. „Wird es so gehen?“

„Es muss gehen“, sagte sie geistesabwesend. Sie betrachtete sein Blut. „Und jetzt den zweiten.“

Er wiederholte die Prozedur. Sie starrte weiter auf das Blut, bis sie auf einmal die Augen aufriss, als ob ihr etwas klar geworden wäre, um gleich darauf aus schmalen Schlitzen auf den roten Streifen zu schauen.

„Soll ich das sauber machen?“

Sie zögerte eine ganze Weile. „Lass es“, sagte sie schließlich, nachdem sie geschluckt hatte.

„Ist das alles, Hexe?“, fragte Conrad mit rauer Stimme.

Sie wandte ihr Gesicht ab, als ob sie sich schuldig fühlte. „Wir sind bereit.“

Sobald Mariketa von den Spiegeln eingerahmt war, ballte sie die Hände zu Fäusten und schloss die Augen. Als sie die Lider wieder öffnete, waren ihre Augen selbst zu Spiegeln geworden, leuchtend reflektierten sie alles, was sie ansah. Sie streckte die Finger wieder aus, und auf einer ihrer behandschuhten Handflächen erstrahlte ein Licht.

Conrad eilte zurück an Néomis Seite, aber sie schwand dahin. Je weiter Néomis Gestalt verging, umso heller leuchtete das Licht auf der Handfläche der Hexe.

Als die Zehen der Hexe vom Boden abhoben, ergoss sich ein Wortschwall von ihren Lippen, in einer Sprache, die Conrad nicht erkannte, doch er spürte, dass jedes einzelne Wort vor Macht pulsierte. Sie ballte die Hand um das Licht zur Faust, als ob sie Néomis Geist festhalten wollte.

„Sie wird jetzt verschwinden“, sagte Mariketa, ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden.

Als Néomis Hand aus seiner verschwand, drohte der Wahnsinn ihn zu überwältigen. Ihr Morgenmantel, das Nachthemd und der Ring, den er ihr geschenkt hatte, waren das Einzige, was noch auf ihrer Bettstelle lag. Er schluckte. Reiß dich zusammen.

Er nahm den Ring, in der festen Überzeugung, er werde ihn noch einmal an ihrem Finger sehen.

„Ich hab ihr Grab gefunden.“ Die Hexe zeigte mit dem Zeigefinger der anderen Hand nach unten und begann in der Luft zu rühren. „Ich fange mit dem Körper an.“ Wieder und wieder ließ sie den Finger kreisen. Es hatte den Anschein, als ob sie auf großen Widerstand träfe. Der Zauber begann seinen Tribut von ihr zu fordern. Sie geriet außer Atem, fing fast an zu hyperventilieren.

„Du kannst es schaffen, Mariketa.“ Conrad schluckte. „Bring mir meine Néomi zurück.“

Das Licht in ihren Händen strahlte noch intensiver. Die Luft schien schwer zu werden, unheilvoll. Als ob die Spannung sie aufgeschreckt hätte, begannen die kleinen Lebewesen zu lärmen, die in den Wänden um sie herum lebten.

MacRieve blickte sich um. „Das fühlt sich nicht richtig an. Als ob wir etwas tun, was wir niemals hätten tun dürfen!“

„Halt’s Maul, MacRieve“, fuhr Conrad ihn an, obwohl er dieselbe Atmosphäre spürte – bedrohlich. Sie forderten eine Macht heraus, die weitaus größer war als sie und die sie für ihre Dreistigkeit jederzeit zerquetschen könnte.

Mariketa begann einen feierlichen Gesang. Das Licht wuchs und wuchs … Sie streckte die Hände aus, anscheinend, um ihrem Zauber noch mehr Magie zuzuleiten. Das Haus begann zu beben.

„Ich muss … mir einen Weg bahnen. Muss altern …“

Altern?

Wieder unverständlicher Sprechgesang, immer lauter, bis sie die Worte praktisch hinausschrie. Die Fenster des Studios explodierten. Zeitungen wurden von stürmischen Winden umhergewirbelt. „Bowen, ich … kann nicht mehr!“

„Mariketa!“ Mit lautem Gebrüll stürzte MacRieve sich auf sie, versuchte, sie von den Spiegeln wegzuziehen. Aber es gelang dem Lykae nicht, die zierliche Frau auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Ihr silberner Blick verdunkelte sich, als ob sich ihre Augen mit Tinte füllten. Sie verfärbten sich schwarz.

„Das ist nicht gut!“, rief sie.

„Nein, Mari, tu das nicht!“ Er legte ihr die Hand über die Augen, aber gleich darauf brannten sich zwei Löcher in seine Haut.

Oh, Hekate, nein!“, kreischte sie.

Das Licht in ihren Händen explodierte wie eine Bombe, so grell, dass Conrad kurz geblendet war.

„Was war das?“, schrie er. „Was ist los?“

Mariketa rang nach Luft. „Néomi … wieder körperlich.“

Er sah sich hastig nach allen Seiten um. „Wo ist sie? Sag es mir!“

„Es gibt ein Problem. Es …“ Ihr Körper verkrampfte sich. Sie stand vollkommen bewegungslos da und starrte ohne zu blinzeln in den Spiegel.

„Oh Gott, nicht schon wieder, Mari!“ MacRieve nahm jetzt seine andere Hand, um ihre Augen abzuschirmen, bis auch in dieser zwei rauchende Löcher zu sehen waren. Er zerrte noch einmal an ihr, aber trotz seiner gewaltigen Kraft konnte er sie nicht vom Fleck bewegen.

„Was war das Problem, Hexe? Wo ist Néomi?“ Conrad musste sie sehen. „Wo ist ihr neuer Körper?“ Er stürzte auf Mariketa zu. „Weck deine Hexe auf, MacRieve!“

Der Lykae blickte über die Schulter hinweg zu ihm und bleckte seine Fänge. „Pass auf, was du tust, Vampir. Ich stehe kurz davor, mich zu verwandeln.“

„Wie kann ich Néomi finden? Zerbrich den verdammten Spiegel doch einfach!“

„Auf keinen Fall. Das könnte sie umbringen.“

„Dann stell etwas Größeres vor sie!“ Conrad kämpfte mit aller Macht darum, sich zu beherrschen.

„Sie verbrennt alles.“

„Wie lange kann das anhalten?“

„Für alle Zeit, verdammt noch mal!“, brüllte MacRieve. Seine Augen leuchteten jetzt in eisigem Blau, und die Gestalt der Bestie erschien flackernd über seinem Körper. Wenn sich der Lykae verwandelte, weil seine Gefährtin in Gefahr war, hatte selbst Conrad keine Chance gegen ihn. „Wie ich dir von vornherein gesagt hatte, du Idiot!“

Conrad begann auf und ab zu gehen und fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar. „Oh Gott, ich weiß nicht, wo Néomi ist.“

Er hatte geträumt, dass sie von ihm ferngehalten wurde, ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, sie zu erreichen. Albträume, in denen sie … in der Dunkelheit gefangen war? Er vergrub die Stirn in seinen Händen.

Sie saß irgendwo in der Falle, in diesem Augenblick. Das war der Grund, aus dem die Hexe Néomi nicht hierher zu ihm zurückgebracht hatte. Aber wo zum Teufel konnte sie stecken?

Augenblick mal. Wenn die Hexe Néomi ihren Körper hatte zurückgeben können und ihren Geist wieder in ihn eingepflanzt hatte, dann aber unterbrochen wurde …

Das war die Antwort!

„Oh Gott, ich weiß, wo sie ist!“ Und er konnte sich nicht zu ihr translozieren, weil er dort noch nie gewesen war. „Ich brauche ein Auto!“ MacRieve und die Hexe waren durch den Spiegel hergekommen. Nikolai hatte seinen Wagen vor Wochen weggefahren.

Der Lykae ignorierte ihn und legte seine Finger zärtlich unter Maris Kinn. „Mari, meine Liebste, das wird jetzt schrecklich wehtun.“ Er holte tief Luft. Und dann trat er genau vor ihre Augen.

Die Haut seines Oberkörpers begann zu schmelzen, als ob sie von Lasern weggebrannt würde, aber er biss die Zähne zusammen und ertrug den Schmerz.

„He, mein Mädchen“, stieß er hervor, „wenn das vorbei ist, müssen wir uns dringend mal unterhalten.“

Wo bin ich?

Néomi erwachte an einem feuchtkalten, beengten Ort. Sie blinzelte ein paar Mal in der Dunkelheit. Sie spürte keinerlei Schmerz in ihrem Körper. Überhaupt keinen. Es fühlte sich an, als ob ihre Wunde komplett verheilt wäre. Mari hatte es geschafft! Aber wo waren die anderen? Warum war sie allein?

Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr auf, aber sie kämpfte dagegen an. Ihre Atmung ging stoßweise, furchtbar laut in dieser Enge.

Als das Schwindelgefühl verging, versuchte sie aufzustehen, stieß sich aber sofort den Kopf.

Neiiiin!“, jammerte sie. Sie begann zu zittern. „Das ist doch nicht möglich.“ Tränen liefen aus ihren Augen. Mère de Dieu … Das kann alles nicht wahr sein!

Sie befand sich in ihrem Sarg, im Grab der French Society auf dem St. Louis Cemetery No. 1. Dort gab es noch wenigstens dreißig andere Särge.

Conrad wird mich holen kommen. Irgendwie wird er mich finden.

Aber es schien Stunde um Stunde zu vergehen. Sie atmete die schale Luft und versuchte, nach Möglichkeit nicht an die Leichen zu denken, die um sie herum verwesten.

In ihrem Sarg befanden sich keinerlei Knochen. Es war, als ob sich diese wieder in ihren Leib eingegliedert hätten. Sie hatte einen Körper, was bedeutete, dass sie wieder am Leben war.

Néomi hatte gerade rechtzeitig einen neuen Körper erhalten, um zu sterben …

Dann kamen die Insekten.

Sie kreischte. Ihre hysterischen Schreie verstummten erst, als die faulige Luft knapp wurde.