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Sebastian fuhr mit leiser Stimme fort: „Würdest du nicht gerne noch einmal mit einer Frau ins Bett gehen? Es ist ja nicht so, als ob du ein Mann mit Erfahrung wärst, der mit jeder Frau geschlafen hätte, die ihm über den Weg lief, Conrad. Wenn du mir auch nur ein bisschen ähnelst, dann kannst du die Gelegenheiten an einer Hand abzählen.“
Conrad leugnete die Worte seines Bruders nicht, stattdessen knirschte er mit den Zähnen und schob den Unterkiefer nach vorn.
An einer Hand? Wie schrecklich, dachte Néomi und glitt zum Fußende seines Bettes, wo sie in sitzender Position in der Luft stehen blieb.
Auch wenn sie selbst nicht einmal annähernd so viele Liebhaber gehabt hatte, wie sie sich gewünscht hätte – der Gedanke an eine Schwangerschaft war für eine Ballerina einfach zu abschreckend –, hatte sie die wenigen in vollen Zügen genossen.
Selbst bei all dem Schmutz, der Conrads Gesicht bedeckte, und den Narben auf seinem Körper konnte sie doch erkennen, dass er ein gut aussehender Mann war. Frauen würden ihn attraktiv finden. Zumindest genug von ihnen, dass er mit einer ins Bett gehen konnte, wenn er es wollte. Auch Sebastian war sehr stattlich, und doch hatte er gesagt, dass er darauf hatte verzichten müssen. Sie hatte ihren Gesprächen über ihr kleines Land zugehört, dessen Bevölkerung durch Seuchen dezimiert worden war, in dem seit Jahrzehnten gekämpft wurde. Gab es dort keine Frauen, bei denen sie Trost und Unterstützung fanden?
„Le dément … ist kein erfahrener Mann?“, murmelte sie in ihrer seltsamen, geisterhaften Stimme. „Intéressant.“
Obwohl es ihr immer noch schwerfiel zu sprechen, staunte sie doch, um wie vieles leichter es bei jedem neuen Versuch wurde. Je mehr sie redete, umso einfacher wurde es – wie wenn man übte, durch knietiefes Wasser zu laufen. Nur schade, dass ihr niemand antwortete, wo sie doch gerade so gut darin war.
Doch selbst wenn niemand antwortete, fühlte sie sich … realer, seit sie angefangen hatte zu reden. Manchmal war sie sich wie der sprichwörtliche Baum im Wald vorgekommen. Man könnte fast behaupten, dass sie einfach deshalb gar nicht existierte, weil sie seit ihrem Tod niemand gesehen oder gehört hatte.
Sie seufzte und zog die Beine an die Brust. Als der Schlitz ihres Kleides verrutschte, verspürte sie den merkwürdigen Impuls, ihre Beine in Gegenwart des Vampirs zu bedecken. Aber warum nur? Niemand konnte sie sehen, und zu ihren Lebzeiten war sie alles andere als prüde gewesen. Im Grunde genommen eher das genaue Gegenteil.
Jegliche Hemmungen waren ihr in ihrer Jugend ausgetrieben worden. Sie war in einer winzigen Wohnung über einer burlesken Bar aufgewachsen, deren Publikumsmagnet schließlich ihre liebe maman gewesen war.
Von Kindesbeinen an war Néomi in den Umkleideräumen der Tänzerinnen ein- und ausgegangen, fasziniert von den Seidenstoffen, dem Make-up und den exotischen Parfums, gefesselt von der sinnlichen Musik, zu deren Klängen sie sich wiegte …
Und doch hätte sie schwören können, dass die Augen des Vampirs wollüstig aufgeblitzt hatten.
Nein. Es war an der Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Entweder empfand er ihre geisterhafte Erscheinung als wunderschön, beherrschte seinen Lidreflex und weigerte sich einfach, ihre Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen – oder er war genau wie jeder andere, der im Verlauf der letzten acht Dekaden einen Fuß in dieses Haus gesetzt hatte.
Sie lachte ohne jeden Humor. „Wenn ich davon überzeugt wäre, dass du mich sehen kannst“, begann sie langsam, „würde ich noch weitaus mehr zeigen als bloß ein Strumpfband.“
Außerdem wäre Conrad sowieso nicht auf diese Art und Weise an ihr interessiert. Nicht ein Mal hatte er in der vergangenen Woche eine Erektion gehabt. Ob es ihm vielleicht nicht möglich war? Was war mit dem „Feuer“ gemeint gewesen, das seine Braut entfachen würde?
Von allen Themen, die die Männer diskutierten, faszinierte sie diese Vorstellung einer vom Schicksal zugewiesenen Braut am meisten.
Vorhin hatte sie Sebastian mit der seinen telefonieren hören. Er hatte ihr versichert, dass ihre Anwesenheit hier nicht notwendig wäre, dass sie lieber weiterhin bei ihren Schwestern bleiben solle und dass er bald nach Hause kommen würde. Schon das bloße Telefonat mit dieser Kaderin schien ihn ganz und gar in Anspruch zu nehmen.
Nikolai hatte ebenfalls mit seiner Braut telefoniert, einer weiteren Walküre namens Myst, und war genauso aufmerksam und fürsorglich. Allerdings hatte er bei ihr weniger zuversichtlich geklungen, was Conrads Heilungschancen betraf, als bei seinen Brüdern.
„Möglicherweise werden wir Rioras Gabe benutzen müssen“, hatte er mit leiser Stimme gesagt.
Wer ist Riora? Noch ein Geheimnis.
Die Hingabe der beiden Männer zu ihren Frauen löste in Néomi große Sehnsucht aus, denn für sie war nichts anziehender als ein durch und durch verliebter Mann.
Sie bezeichnete ihr Verlangen als Sehnsucht, da sie sich von den körperlichen Symptomen der Lust unterschied, die sie verspürt hatte, als sie noch am Leben war. Sie litt unter dem, was sie als Begierde erinnerte, sehnte sich immer noch danach, zu berühren und berührt zu werden, aber jetzt glich dieses Verlangen eher einer elektrischen Stimulation, einer Aufladung, die immer weiter anwuchs. Es war, als ob sie am ganzen Körper Nadelstiche und Jucken verspürte, ohne sich kratzen zu können.
Néomi hatte achtzig Jahre dieser aufgestauten Sehnsüchte hinter sich. Da es ihr unmöglich war, sich Erleichterung zu verschaffen, fühlte sie sich manchmal wie eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen konnte – eine sich vor Sehnsucht verzehrende, hungrige Bombe in Néomi-Gestalt.
Angesichts ihrer niemals endenden Frustration neigte sie dazu, sich schlecht zu benehmen. Und als die Brüder alle ins Zimmer zurückkehrten, war die Versuchung einfach zu groß, als dass sie ihr hätte widerstehen können.
Als sie sich vom Bett erhebt, wartet er einen Augenblick ab und riskiert dann einen weiteren Blick. Und hätte sich beinahe verschluckt. Sebastians Geldclip schwebt aus seiner Manteltasche in ihre ausgestreckte Handfläche.
Dann hinterlässt sie dort einen … Kieselstein als Ersatz? Sebastian merkt nichts davon, nicht einmal dann, als sie den Clip fortträgt.
Telekinese? Ja, und in vollendeter Ausführung.
Nach einem argwöhnischen Blick auf ihn – er beeilt sich, seine Miene zu einer ausdruckslosen Maske zu glätten – schleicht sich die Frau an ihr nächstes Opfer an. Sie manövriert sich geschickt durch die Gruppe hindurch, doch trotz ihrer Gewandtheit passiert es, dass einer von ihnen mit einer Hand oder einem Ellbogen durch sie hindurchfährt. Jedes Mal erstarrt sie, und dann überläuft sie ein Schaudern, als ob sie ein eisiger Hauch gestreift hätte.
Nikolai ist der Nächste. Nur eine kurze Geste ihrer Hand und sein Handy gleitet aus seiner Jacke heraus. Wieder lässt das Wesen einen Kieselstein zurück, bevor sie das Handy in die Ecke schweben lässt.
Dieses Katz-und-Maus-Spiel amüsiert ihn. Er möchte, dass sie diese Mistkerle gründlich ausnimmt. Sie ist wesentlich interessanter als Sebastians gönnerhafte Ansprache über Familie und Ehre und Vergebung. Er fragt sich, wohin dieses kleine Wesen wohl seine Beute bringt. Warum nimmt sie diese Dinge? Ist es für sie ein Spiel? Oder ist es ein Zwang, wie sein Verlangen zu töten?
Als Murdoch an der Reihe ist, zieht sie eine mit Juwelen besetzte Haarspange aus seiner Tasche. Für wen kauft Murdoch Haarspangen?
Angesichts ihrer Beute lächelt sie entzückt. Dieses Lächeln … Ihre Augen funkeln, ihre Lippen verziehen sich. Sie hätte genauso gut eine Waffe tragen können.
Als sie in Richtung Zimmerecke schwebt, hebt sie ihre schlanken, bloßen Arme und führt eine makellose Pirouette aus. Dann noch eine. Ihr Rock bauscht sich, und er hört das Rascheln des Stoffes. Ein einzelnes Rosenblatt löst sich aus ihrem zerzausten Haar und schwebt durch die Luft auf sein Bett zu, wo es neben ihm auf dem Laken landet.
Ihr geschmeidiger Körper, die Art, wie sie sich bewegt, diese seltsamen Schuhe – sie muss eine Tänzerin gewesen sein. Eine tantsija. Natürlich.
Als sie ein weiteres Mal herumwirbelt, beginnt sie unvermittelt zu lachen. Es klingt gespenstisch. Aber aus irgendeinem Grund reagiert er darauf, indem sich seine Lippen kräuseln. Das Grinsen verwandelt sich in einen mürrischen Gesichtsausdruck, als Sebastian ihn anblickt, als ob er vollkommen übergeschnappt wäre. Das hohle Grinsen eines Verrückten.
Denn er ist verrückt. Es gibt keinen Geist mit rabenschwarzem Haar, der ihn mehr sehen lassen möchte als seine Strumpfbänder.
Dennoch kann er den Blick nicht von ihr abwenden, während Sebastian seinen Sermon fortsetzt. Er hört nur vereinzelte Satzfetzen, die er wiederholt, so wie er es oft macht, wenn er müde ist und allein gelassen werden möchte. In einer anderen Sprache murmelt er vor sich hin.
„Sie frisst Nikolai auf, die Schuld … sie kämpfen seit dreihundert Jahren gegen die Vampirhorde … wir können uns ihrer Armee anschließen … sie alle töten … nicht alle Vampire sind schlecht.“
Er blinzelt, als Sebastian verstummt.
Sebastian sagt mit zusammengekniffenen Augen: „Du führst überhaupt keine Selbstgespräche. Du wiederholst einfach nur unsere Worte. Dieses Mal auf Griechisch! Du hast gar nicht halluziniert – du hast zugehört.“ Sebastian nickt, als ob er diesen Gedanken ermutigend fände. „Ich frage mich, was du sonst noch tun kannst, von dem wir nichts wissen.“
Ich kann Geister sehen.
„Rechts von dir, siehst du da nicht irgendetwas Seltsames? Eine Frau in diesem Zimmer?“, fragt er Sebastian auf Estnisch.
Sebastian blickt sich um und antwortet dann langsam in derselben Sprache. „Es sind nur wir vier hier im Zimmer, Conrad.“ Sein Tonfall klingt so, als ob er ihm erklären würde: „Eigentlich, mein Bruder, ist der Himmel nicht grün. Er ist blau.“
Die Frau scheint mit ihren Diebstählen fertig zu sein. Sie scheint langsamer zu werden, schwächer. Ob sie müde ist?
„Conrad, siehst du noch jemanden hier?“, fragt Sebastian. „Ihr sollt angeblich unter schweren Wahnvorstellungen leiden …“
Seine „Wahnvorstellung“ belauscht gerade Murdochs und Nikolais im Flüsterton geführte Unterhaltung am Rande des Zimmers.
„Er stinkt nach Blut und Dreck“, sagt Nikolai. „Es mag schon sein, dass er sich erholt, aber für andere wird es nicht so aussehen. Wenn wir unseren Plan je rechtfertigen müssen …“
Ohne Vorwarnung lässt sie sich auf dem Bett neben ihm nieder. Viel zu dicht an seinem Ohr fragt sie: „Ist das wahr, Vampir?“ Ihre Worte kommen diesmal sehr viel schneller, es klingt fast schon normal. Jetzt kann er erkennen, dass sie mit einem leichten französischen Akzent spricht.
„Stinkst du, dément? Ich kann nicht riechen. Aber es leuchtet ein … so schmutzig, wie du bist.“
Ihm wird schmerzlich bewusst, dass sein Gesicht mit Blut und Dreck verkrustet ist und sein Haar vor Schmutz starrt. Dément. Ist das alles, was sie in ihm sieht? Ein Verrückter, den man am besten ignoriert? Oder schlimmer noch – bemitleidet? Ja, genauso sieht sie ihn. Als einen verdreckten, sexuell unerfahrenen Irren.
Sie hat ihn Blut spucken sehen. War sie auch dabei, als er seinen Kopf stumpfsinnig wieder und wieder gegen die Wand geschlagen hat? Verdammt noch mal, langsam beginnt diese Klarheit in seinen Gedanken ihm auf die Nerven zu gehen! Wieder sehnt er sich nach dem Zustand des Vergessens. Es ist einfacher, sich in fremden Erinnerungen zu verlieren, zu hassen, zu verletzen …
Doch die Frau neben ihm hält seinen Verstand in der Gegenwart fest wie ein Anker.
„Sie sollten dich ein Bad nehmen lassen“, sagte sie in ihrer Flüsterstimme, im selben Moment, in dem Sebastian verkündet: „Nur die Ruhe, Conrad. Die Halluzinationen werden verschwinden. Ehe du dich versiehst …“
„Lass mich allein!“, fährt er ihn an. Fast hätte er gesagt: „Lass uns allein!“
Der Geist schwebt davon, ordnet seine Beutestücke, um zu verschwinden. Nein, du doch nicht! Als sie mitsamt den Gegenständen verschwindet, bleibt von ihr nichts als das Blütenblatt auf dem Laken. Er schiebt sich in Richtung des Blattes, will es berühren. Aber es beginnt zu verblassen und verschwindet schließlich ebenfalls.
Unruhig wälzt er sich auf dem Bett hin und her, scheuert sich an seinen Fesseln die Haut wund. Ich will sie hier haben.
Sebastian erhebt sich. „Na gut, wir werden gehen. Ruf uns, wenn du irgendetwas brauchst. Oder wenn du trinken möchtest.“
Sie lassen ihn in dem dunklen Zimmer allein.
„Hast du mein Handy gesehen?“, erkundigt sich Nikolai auf dem Weg nach draußen.
Noch bevor er Zeit hat zu überlegen, wieso ihn ihre Abwesenheit derartig enttäuschen könnte, steigen die Erinnerungen anderer in seinem Geist auf wie Luftblasen in einer Quelle.
Er hat im Laufe der Jahre keine ehrenhaften Männer getötet, ganz im Gegenteil, einige von ihnen waren sogar noch monströser als er. Und ihre Erinnerungen, die jetzt auch seine Erinnerungen sind, lassen ihn bis ins Mark erstarren.
Er sieht Bilder von Folterungen vor sich, für die er nicht verantwortlich ist, grauenhafte Morde an Frauen und Kindern, die er nicht begangen hat. Glasige, blinde Augen starren ihn an, und doch nicht ihn.
Diese Erinnerungen wollen anerkannt werden. Ehe sie sich zerstreuen lassen, muss jede einzelne von ihnen noch einmal durchlebt werden. Dabei nagen sie unerbittlich an seiner geistigen Gesundheit.
Und die ist ohnehin schon stark angegriffen.