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Néomi war im Großen und Ganzen ein offenes Buch – offen in Bezug auf ihre Sexualität, ihren Körper, ihre Ansichten. Aber sie besaß zwei kleine schmutzige Geheimnisse.

Eines davon war ihre Neigung, den ein oder anderen Gegenstand, der ihr nicht gehörte, an einen anderen Ort zu bringen. In ihrer verborgenen Kammer, hinter der verborgenen gotischen Eingangstür, stellte sie ihre Neuerwerbungen auf den Ausstellungstisch. Hier lagen all ihre Schmuckstücke und Schätze, die sie im Verlauf der Jahre von ihren Mietern stibitzt hatte. Der Tisch war schon fast voll. Bald würde sie auch noch ihr Beistelltischchen dazunehmen müssen. Gar nicht mal schlecht, wenn man bedachte, dass Elancourt nur für ungefähr ein Drittel ihres Lebens nach dem Tode bewohnt gewesen war.

Ich bin eine regelrechte diebische Elster.

Sie eignete sich nicht unbedingt Dinge von Wert an, es handelte sich eher um Gegenstände, die sie faszinierten. Ihre Sammlung umfasste unter anderem: ein batteriebetriebenes Fernsehgerät, dessen Batterien seit Langem leer waren, ein ziemlich moderner BH, ein Grammofon und eine Schachtel mit Kondomen, für die sie in den Zwanzigern gerne ein kleines Vermögen bezahlt hätte.

Sie besaß Streichhölzer und Medaillen vom Mardi Gras, Süßigkeiten, die sie niemals essen würde, und ungefähr ein Dutzend Farbsprühdosen, die sie von den zahlreichen Vandalen im Teenageralter konfisziert hatte.

Mithilfe von zugeschlagenen Türen, umherfliegenden Bettlaken und wild wirbelnden Blättern hatte sie die artistes graffiti über den Punkt spontanen Urinierens hinausgetrieben – in diesem Moment ließen sie für gewöhnlich ihre Dosen fallen und rannten um ihr Leben. Dies war Néomis Zuhause, ihre ganze Welt. Sie dachte gar nicht daran, bis ans Ende ihrer Tage diese grauenhaft schlechten „Kunstwerke“ erdulden zu müssen.

Wie ein Vogel, der sein Nest mit Federn auspolstert, hatte sie Dinge aus der Außenwelt gesammelt und sie in ihre verborgene Enklave gebracht. Dieser Raum war früher einmal ihr Tanzstudio gewesen. Mit Ballettstangen, einem hölzernen Parkettfußboden und Spiegeln, die die ganze Wand bedeckten. Das Studio selbst war großenteils unverändert, nur lagen jetzt überall Zeitungsstapel herum, und die Spiegel waren modifiziert worden, um zu ihrem gegenwärtigen Erscheinungsbild zu passen. Mit anderen Worten: Sie hatte sie zerstört.

In den Tagen nach ihrem Tod, als Möbelpacker Kartons für all ihre Besitztümer gebracht hatten, hatte sie sich so schrecklich danach gesehnt, sie in diesen Raum zurückzuschmuggeln, dass sie sie tatsächlich bewegt hatte. So hatte sie zum ersten Mal erkannt, dass sie die Fähigkeit besaß, Dinge durch die Kraft ihrer Gedanken zu bewegen.

In panischer Hast hatte sie sämtliche Dinge, die ihr lieb und wert waren, in Sicherheit gebracht: ihren Schmuck, Kleider, Alben, ihren Geheimvorrat an verbotenen alkoholischen Getränken und sogar ihren schweren Safe. Sie hatte alles in ihr verborgenes Studio schweben lassen.

Doch jetzt konnte sie nichts tun, als dabei zuzusehen, wie ihre Besitztümer vor ihren Augen alterten. Genau wie ihr Heim. Sie konnte nichts davon berühren, konnte mit ihren gierigen Fingerspitzen weder über eine Lage kühler Seide noch über die kitzelnde Spitze einer Feder fahren …

„Und jetzt?“, fragte sie laut.

Die dröhnende Stille schien sie zu verspotten. Allein … allein … allein …

Néomi erwog kurz, sich im Zimmer des Vampirs zu materialisieren – beziehungsweise sich dorthin zu translozieren. Sie versicherte sich, dass es nur die drückende Stille sei, wegen der sie dorthin zurückkehren wollte, und nicht etwa der Wahnsinnige selbst. Aber er schien sie am besten von allen, die jemals einen Fuß nach Elancourt gesetzt hatten, zu spüren.

Auch wenn er verrückt und ungewaschen war, irgendetwas an ihm zog sie an. Sie verspürte den unbestreitbaren Drang, mit ihm zu sprechen.

Doch am Ende war sie zu erschöpft, um zurückzukehren. Ihre Essenz war jeglicher Energie beraubt, die sie für ihre konzentrierte Telekinese benötigt hatte. Sie musste sich ausruhen und schwebte zu ihrer Bettstelle.

Sie hatte sie schon vor langer Zeit in ihr Studio gebracht. Obwohl sie sie nicht fühlen konnte, genauso wenig wie die Decken, die sie darauf verteilt hatte, schlief sie fast jede Nacht dort. Sie verhielt sich in der Regel so wie zu ihren Lebzeiten. Einmal abgesehen davon, dass sie durch Wände gehen und sich translozieren konnte, natürlich.

Ein paar Zentimeter über ihrem Lager rollte sie sich zusammen, um sich ihren Träumereien hinzugeben. Néomi nannte ihren gespenstischen Schlaf Träumerei, da er sich von dem unterschied, was sie zu Lebzeiten gekannt hatte. Zum einen brauchte sie diese Ruhephase nicht jeden Tag. Wenn sie die Telekinese lediglich dazu benutzte, die Zeitung umzublättern, konnte sie sogar tagelang ohne sie auskommen. Der Augenblick des Erwachens kam sehr plötzlich, ohne dass irgendeine Änderung eingetreten wäre, abgesehen von ihrem Energieniveau. Sie trug immer noch dieselben Kleider, ihr Haar war unverändert, und sie musste niemals ihre Beine und Achseln rasieren. Normalerweise verlor sie einfach für ungefähr vier Stunden das Bewusstsein.

Das heißt, bis der Splittermond – die erste Mondsichel nach Neumond – am Himmel erschien. Monat für Monat zwang sie irgendeine Macht in dieser einen Nacht zu tanzen. Wie eine gespenstische Marionette drehte sie sich bis zu demselben schaurigen Moment, wenn sie sich erschöpft und zutiefst erschüttert danach sehnte, endgültig zu sterben.

Es blieben nur noch drei Tage bis zu ihrem nächsten Auftritt …

Ihre maman pflegte zu sagen, dass der Splittermond Menschen wie ihnen Glück brächte – Menschen, die sich mit aller Kraft am Himmel festhalten, und das wieder und wieder. Ganz gleich, wie oft sie ihn verlieren. Das war der Grund, warum Néomi ihre Party an jenem Abend veranstaltet hatte.

Wenn sie diese Party beschreiben sollte – die Party, auf der sie das Erreichen all ihrer Träume feiern wollte –, wäre „Glück“ allerdings nicht der Begriff, der ihr als Erstes eingefallen wäre. Mit sechsundzwanzig Jahren hatte Néomi ganz allein dieses Haus gekauft, nachdem sie sich aus dem Vieux Carré herausgearbeitet hatte und es ihr gleichzeitig gelungen war, ihre anrüchige Vergangenheit geheim zu halten.

Ihre vornehmen Gönner hatten niemals herausgefunden, dass Néomi der Bastard eines französischen Emigranten war, geboren im zwielichtigen Französischen Viertel. Sie hatten Néomi Laress nie mit Marguerite L’Are in Verbindung gebracht, der berüchtigten burlesken Tänzerin. Sie waren nie dahintergekommen, dass auch Néomi eine Zeit lang selbst eine solche gewesen war.

Nachdem ihre maman der Influenza zum Opfer gefallen war, als Néomi gerade sechzehn geworden war, hatte sie angefangen, selbst aufzutreten. Néomi war zu diesem Zeitpunkt gut entwickelt und mit dem richtigen Make-up und in den richtigen Kostümen war sie für zwanzig durchgegangen. Es waren harte Zeiten gewesen, aber das Geld war gut.

Sie verspürte keine Hemmungen und besaß keine moralischen Überzeugungen, die dagegen gesprochen hätten. Jeder bekam, was er brauchte, und niemandem wurde ein Leid zugefügt. Obwohl sie sich niemals dessen schämte, was sie getan hatte, hielt sie es geheim, weil sie wohl begriff, dass andere Leute diese Angelegenheit anders sehen würden als sie.

Nachdem sie ein Jahr lang gespart hatte, hörte Néomi auf. Sie hatte immer davon geträumt, Ballerina zu werden, und hatte die Unterrichtsstunden nicht vergeuden wollen, die ihre Mutter sich vom Munde abgespart hatte. Und die ganze Arbeit, die Néomi geleistet hatte, um dieses unglaubliche Opfer zu rechtfertigen. Und irgendwie hatte sie es geschafft …

Dann bin ich gestorben …

Sie wünschte, Conrad hätte sie als die Ballerina sehen können, die sie einst gewesen war – auf der Bühne, in einem luxuriösen Kostüm, mit vor Stolz geröteten Wangen, von kräftigem Beifall überflutet. Ob er sie wohl hübsch gefunden hätte?

Sie seufzte düster. Das würde sie nie erfahren …

Was würde wohl der morgige Tag bringen, mit Conrad, dem Assassinen-Vampir mit dem starken Körper und dem kranken Verstand? Während sie in das Reich der Träume hinüberglitt, fragte sie sich: Können wir ihn retten, wenn er nicht gerettet werden will?

Wir?

Der Geist kehrt in dieser Nacht nicht mehr zurück.

Und das nimmt er ihm übel.

Erst am späten Nachmittag des nächsten Tages nimmt er endlich wieder den Duft von Rosen wahr. Das Zimmer ist von der Nachmittagssonne durchflutet, aber trotzdem kann er sehen, wie sie auf direktem Wege durch die geschlossene Tür hereingleitet. Inzwischen weiß er, wonach er Ausschau halten muss, wie er nach ihr suchen muss. Es ist wie eine verborgene Botschaft in einem visuellen Puzzle.

Sie verhält sich, als ob sie nie fort gewesen wäre, legt sich wie geistesabwesend auf die Matratze und streckt die schlanken Arme über den Kopf. Ihr langes Haar ergießt sich über das Laken – glänzend und schwarz hebt es sich von dem Weiß des Stoffs ab. Ihre blassen Brüste sprengen fast ihr Kleid.

Ich vergebe ihr.

Wenn er nie erweckt wurde, wieso findet er diesen Anblick derartig fesselnd? Wieso beginnen seine Fänge zu schmerzen?

Er führt die innere Debatte fort, ob es sich nun um den Splitter einer Erinnerung, eine Halluzination oder einen Geist handelt. Soweit es die Möglichkeit eines Erinnerungssplitters betrifft: Sie passt zu perfekt zu diesem Ort, dieser Situation. Und wenn sie eine Ausgeburt seiner Fantasie ist, warum sollte er sich eine Frau vorstellen, die das genaue Gegenteil dessen ist, was ihn normalerweise anzieht?

Er dachte immer, dass er große nordische Frauen bevorzuge, mit blondem Haar und von der Sonne und dem Leben im Freien geröteter Haut. Aber diese Frau ist zierlich und bleich, kaum größer als einen Meter fünfzig. Ihr Haar ist so schwarz wie die Nacht.

Während seines rauen menschlichen Lebens hätte er ihr höchstens einen mitleidigen Blick geschenkt, in der Annahme, dieses zarte Mädchen würde in ihrem vom Krieg gebeutelten Land wohl kaum den nächsten Winter überleben. Und sie hatte ja auch tatsächlich nicht lange überlebt. Sie scheint nicht älter als Anfang zwanzig zu sein. Wenn Geister tatsächlich aus Gewalt entstehen, wie konnte es sein, dass sie so ein frühes Ende gefunden hatte?

Das wäre nicht passiert, wenn sie einen starken Beschützer gehabt hätte. Ich bin stark. Er unterdrückt ein leises Stöhnen. Ich hätte sie beschützt, wenn sie die Meine gewesen wäre.

Vielleicht hätte er doch nicht gleich ihr frühes Ende im nächsten Winter vorausgesehen und sich nicht abgewandt. Vielleicht hätte er sich ihr genähert. Auf seine ruppige Art hätte er möglicherweise versucht, sich ihr als Beschützer anzubieten. Er war ein erfahrener Offizier. Er war von edler Geburt, und das galt doch etwas – zumindest vor dem Großen Krieg. Vielleicht hätte sie ihn akzeptiert.

Mein Gott, so eine Frau in meiner Obhut zu haben … sie jede Nacht zu nehmen.

Er kann sich vorstellen, wie sich das angefühlt hätte. In letzter Zeit werden seine Albträume immer wieder von seltsamen neuen Träumen unterbrochen, in denen er ihre Arme über ihrem Kopf festhält und sich auf ihren sinnlichen, zarten Körper legt.

Es gibt eine Grenze … es gibt eine Grenze …

Kann diese Frau am Ende doch real sein? Das würde nicht nur bedeuten, dass er sich den Geist nicht eingebildet hätte, sondern auch, dass er seit ganzen drei Tagen nicht eine einzige Halluzination mehr gehabt hatte. So etwas ist ihm seit hundert Jahren nicht mehr passiert.

Was wiederum bedeuten würde, dass er vielleicht doch noch … geheilt wird.

Es ist, als ob ein Strahlenkranz zwischen seinen Augen explodiert. Endlich erinnert er sich daran, was er bereut hatte, wonach er sich so furchtbar gesehnt hatte.

In diesem Moment betreten Nikolai und Sebastian mit grimmiger Miene das Zimmer. Warum hat Nikolai eine Spritze in der Hand?

„Wofür ist diese beschissene Spritze?“, fragt er. Seine leise Stimme täuscht nicht über den warnenden Unterton hinweg. „Ich habe nichts getan.“

„Nein, aber wir fürchten, das wirst du“, sagt Nikolai. „Wir müssen dich aus diesem Zimmer herausholen, und das hier sorgt dafür, dass dir dabei nichts geschieht.“

Als Nikolai näher kommt, brüllt Conrad: „Lass mich mit diesem Scheißding in Ruhe, Nikolai!“ Er will nicht wieder stumpfsinnig daliegen, das darf nicht geschehen. „Nein!“

Ich will nicht, dass sie mich so sieht.

„Verdammt noch mal, ich hab Nein gesagt!“