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Einige Stunden nachdem er angekommen war, hielt Conrad seinen Kopf umklammert und versuchte verzweifelt, seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen. Diese hektische Reizüberflutung durch die Versammlung wirkte sich verheerend auf ihn aus. Wenn die Gefallenen schon Schwierigkeiten mit raschen Bewegungen und lauten Geräuschen hatten, dann hatte er sich wohl in eine ganz besondere Hölle begeben.

Kehr zu ihr zurück.

Er wollte einfach nur einen Weg finden, um ihr zu sagen, was er dachte. Ihr zu sagen, dass er seine Worte zurücknehmen würde, wenn er es könnte.

Genau in dem Moment, in dem Conrad beschlossen hatte, sich nach Elancourt zurückzutranslozieren, sah er Tarut. In voller Größe. Der riesige Dämon überragte eine ganze Gruppe von Dämonen der verschiedensten Spezies, begleitet von seiner Gang von Kapsliga-Schwertkämpfern – keiner von ihnen trug ein Hemd, dafür verlief ein breites Lederband über ihre Brust. Conrad war ebenfalls einmal stolzer Träger dieses Bandes gewesen.

Er kniff die Augen zusammen, als an demselben Ort plötzlich eine Art Rauchwolke entstand, aus der eine Gruppe von sieben Dämonen heraustrat, unter ihnen die Woede-Brüder. Conrad hatte gehört, dass sie irgendwie die Fähigkeit, sich zu translozieren, verloren hatten. Rök, dieser ruchlose Flüchtling, musste sie teleportiert haben. In diesem Moment öffnete Rök den Mund und saugte den Rauch wieder in sich ein.

Tarut und die Woede-Brüder – alle drei Zielpersonen waren hier und warteten nur darauf, dass er sie sich vornahm. Das war ja noch leichter als erwartet. Wenn Conrad die Woede-Brüder angriff, würden sie es nicht wagen, sich in vollem Ausmaß in den Wutzustand zu versetzen, um Conrads Leben nicht zu gefährden, und damit die Informationen, über die er verfügte. Wutdämonen im vollständig ausgebildeten Dämonenzustand waren unglaublich stark, wüteten aber nahezu ohne jeden Verstand.

Und Tarut? Conrad musste sich keine Sorgen mehr machen, durch seine Klauen verletzt zu werden.

Rydstrom und Cade begrüßten Tarut nicht wie üblich, indem sie seine Unterarme ergriffen, sondern behielten ihre Hände in der Nähe ihrer Schwertgriffe. Dann sah Conrad, wie Cadeon innehielt und er Tarut anstarrte, als ob ihm plötzlich etwas klar geworden wäre. Er zerrte Rydstrom beiseite und gestikulierte heftig, während Rydstrom finster in Taruts Richtung blickte.

Dann wussten die Dämonen also, dass sie dieselbe Beute jagten. Wobei Tarut vorhatte, Conrad auf der Stelle zu töten, während die Woede-Brüder ihn am Leben halten wollten, zumindest für eine gewisse Zeit …

Conrad machte sich zum Angriff bereit, seine Fangzähne schärften sich.

Und dann hörte er Néomis Lachen.

„Musstest du die letzte Flasche Wein unbedingt herbeizaubern?“, sagte Nïx leise, doch Néomi hörte sie trotzdem, selbst durch den Krach, der in diesem Gewühl herrschte, und ihr eigenes entzücktes Lachen.

Feuer. Kreaturen aus dem Mythos. Ausschweifung.

Sie war im Himmel! Zum ersten Mal seit achtzig Jahren war Néomi nicht an Elancourt gebunden! Und ja, sie war ein klein wenig beschwipst – hatte Merlot immer schon so wunderbar geschmeckt?

Jetzt vermischte sich der Lärm mit anderen Sinneseindrücken: das unaufhörliche Rascheln der Blätter unter ihren neuen Lederstiefeln, der Duft des Nachtjasmins und verblühter Gardenien, eine Band stimmte im Hintergrund ihre Instrumente, die köstliche Enge ihres neuen Kleides.

Auf die Frage, was sie anziehen wollte, hatte Néomi geantwortet: „Alles außer diesem verfluchten schwarzen Satinkleid. Etwas Buntes! Etwas Kurzes, das richtig sexy ist.“

Mari hatte für Néomi ein scharlachrotes Kleid gezaubert, das ihren Körper umhüllte wie eine Scheide das Schwert. Das schamlose Kleidungsstück besaß lange Ärmel, war dafür aber rückenfrei und kürzer als alles, was sie je getragen hatte.

Das war wohl kaum die Couture einer jämmerlichen Gestalt!

Néomis Schmerz über Conrads Worte schwand mit jeder Sekunde – weil sie nicht jämmerlich war. Sie hatte ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände genommen.

Bei Gott, tat das gut! Ich bin wie die alte Néomi. Die, die die Würfel rollen ließ und dem Schicksal ins Gesicht lachte. Sie würde in absehbarer Zukunft vom Schicksal ausgemerzt werden, und es machte ihr nicht das Geringste aus!

„Das musste ich tun“, murmelte Mari ihre Antwort. „Du hast sie doch gesehen – sie war kurz vorm Ausflippen.“

Zuerst war die Veränderung geradezu überwältigend gewesen. Mit einem Mal in eine Welt voller Wahrnehmungen geworfen, hatte Néomi in ihrem Studio gestanden und mit weit aufgerissenen Augen darum gekämpft, sich auf den Ansturm von Gefühlen einzustellen.

Das Gewicht ihres Körpers hatte sie abrupt auf ihre Füße gedrückt, auf einen Boden, der unvorstellbar starr erschien. Ihr Haar hatte sich schwer auf ihrem Rücken angefühlt, und jeder Quadratzentimeter ihres Körpers war von einer Gänsehaut überzogen gewesen. Néomi war es so vorgekommen, als ob nicht nur sie allein verändert worden wäre, sondern die ganze Welt, als ob sie in einer Blase abgeschottet existiert hätte. Ihr neues körperliches Selbst hatte unter dem Ansturm der Wahrnehmungen gebebt, und ihr war schwindelig geworden. Verwundert hatte sie ihr Gesicht abgetastet und geflüstert: „V-vielleicht war das doch keine gute Idee.“

Mari hatte ihr erklärt, dass man das, was sie gerade fühle, Hypersensitivität nannte, und dass sie selbst vor gar nicht allzu langer Zeit dasselbe durchgemacht habe. Es würde mit der Zeit besser werden …

„Sonst hätten wir sie nie dazu gebracht, in den Spiegel zu klettern“, fügte Mari hinzu. „Das war ja so, als ob man versucht, eine Katze in Säure zu tauchen.“

Frauen, die kleine Schachteln an engen Halsbändern trugen, schlenderten vorbei.

„Was haben die denn da an?“, fragte Néomi – dem Ausdruck auf Maris Gesicht zufolge allerdings eine Spur zu laut. Jedes der Schächtelchen war individuell verziert oder mit Sprüchen bemalt.

„Stimmenmodulatoren. Die Sirenen zeigen sich höflich“, erklärte Mari. „Wenn sie singen, könnten sie sonst alle anwesenden Männer, die in keiner festen Beziehung leben, an sich binden. Nicht gerade fair.“

Auf einer Schachtel stand: „Nichts zu danken!“, auf einer anderen: „Bumm! Ich hab mir deinen Freund geschnappt!“ Néomi lachte entzückt auf. Sirenen! Natürlich!

Eine Gruppe feenhafter Frauen spazierte an ihnen vorüber, mit nichts als durchsichtigen Röcken bekleidet. Ihre Brüste waren nackt, bis auf komplizierte blattartige Muster, die auf ihre Oberkörper gemalt waren.

„Na toll“, murmelte Nïx. „Die Dendrophilen.“

„Die Dendro-was?“, fragte Néomi.

„Baumfreundinnen – die Baumnymphen.“

„Sieh mal einer an, wenn das nicht die komplett durchgeknallte Nïx und die alte Hexe sind“, sagte eine von ihnen, die offensichtlich ihre Anführerin war.

„Sieh mal einer an, wenn das nicht die Schlampen sind“, erwiderte Nïx ungerührt. „Tut mir leid, ihr Nymphomänchen, die Orgie findet nicht hier statt, sondern ein Stück die Straße runter.“

„Nïxie, jede Party ist eine Orgie, die nur darauf wartet, gefeiert zu werden.“

Nïx öffnete den Mund, schloss ihn wieder und zog Néomi und Mari fort. „Tja, wo sie recht haben, haben sie recht.“

Und Nymphen!

Fast zur selben Zeit wurde Néomis freudige Erregung von einem Hauch Enttäuschung gedämpft. Murdoch hatte gesagt, dass Nymphen hier sein würden. Diese erschreckend lieblichen Frauen erinnerten sie daran, dass Conrad in einer von ihnen vielleicht seine Braut erkannt hatte.

Zum Glück gab es auch jede Menge göttlicher Männer, und bald waren Néomi, Nïx und Mari von einer ganzen Reihe von ihnen umzingelt. Alle waren groß und stark. Einige sogar noch größer als Conrad.

Néomi fühlte sich winzig und fehl am Platz, aber sie schienen jede Anstrengung zu unternehmen, sie nicht zu erschrecken, vor allem nachdem Nïx sie als „Néomi, die Sterbliche“ vorgestellt hatte. Néomi lächelte ihnen zur Begrüßung zu, während sie insgeheim an ihnen vorbeispähte, um eventuell einen Blick auf ihren Vampir zu erhaschen.

„Das sind Uilleam und Munro.“ Nïx zeigte auf ein Zwillingspaar, das offensichtlich aus Schottland stammte und auf spitzbübische Art sehr gut aussah. „Wir nennen sie einfach Heiß und Heißer, oder war es Heißer und Heiß?“ Sie zuckte die Achseln. „Sie sind Lykae. Und hier sind die Dämonen Cade und Rydstrom, ebenfalls Brüder. Das sind die, von denen ich dir erzählt habe.“

„Schön, dich kennenzulernen, Süße“, sagte Cade. Aber er schien geistesabwesend und rieb sich zerstreut über die Bartstoppeln an seinem Kinn.

„Es ist mir ein Vergnügen, Néomi.“ Rydstrom schenkte ihr ein Lächeln, das seine bemerkenswert grünen Augen nicht berührte.

Die Gesichtszüge der Brüder ähnelten einander sehr, und doch war ihr Erscheinungsbild insgesamt vollkommen verschieden. Ihre Manieren und selbst ihre Akzente unterschieden sich voneinander. Sie konnte heraushören, dass sie aus den britischen Kolonien stammten, allerdings klang Rydstrom eindeutig nach Oberklasse.

Rydstrom wandte sich Nïx zu. „Ich habe dich gesucht, Walküre.“

„Ach, warum denn? Hast du den gefunden, der ihn im Schlaf sucht?“

„Genau genommen …“ Rydstrom ergriff ihren Oberarm und führte sie beiseite.

„Hilfe, Hilfe!“, rief Nïx über die Schulter zurück. „Ich werde von einem Dämon geschändet!“ Als Néomi Anstalten machte, ihr zu folgen – als ob sie irgendetwas ausrichten könnte –, formte Nïx mit dem Mund die Worte „Nicht wirklich“.

„Da kommt Bowen!“, sagte Mari. Er schien einem Geruch zu folgen. Als er Mari erblickte, stürzte er auf sie zu und zog sie in seine Arme.

Nachdem sie einen tiefen, forschenden Kuss erhalten hatte, der Néomi dazu brachte, sich Luft zuzufächeln, stellte Mari ihn ihr vor. Er lächelte Néomi an, während er Cade einen finsteren Blick zuwarf, der diesen umgehend erwiderte. Intéressant.

Die Musiker, die sie vorhin schon gehört hatte, begannen ein melodisches Stück mit sehr dominantem Schlagzeugpart zu spielen, das Néomi – selbstverständlich – nicht kannte. Sie spürte die Vibrationen deutlich in ihrem Bauch, und zum ersten Mal seit achtzig Jahren empfand sie das dringende Verlangen zu tanzen.

„Geh ruhig tanzen, Néomi“, sagte Mari. „Wir warten hier. Geh nur nicht zu weit weg.“

Néomi nickte glücklich. Die Musik hatte das Kommando über sie übernommen, und sie gehorchte nur zu gerne. Mit jeder Sekunde gewöhnte sie sich mehr an ihren Körper, erinnerte sich daran, wie sie ihn dazu brachte, sich zu bewegen, dahinzugleiten … Alles fühlte sich wie ein Traum an. Es schien eine verzauberte Nacht zu sein.

Nach kurzer Zeit fühlte sie sich beobachtet. Als sie herumwirbelte, erspähte sie rot glühende Augen in der Dunkelheit, die jeder einzelnen ihrer Bewegungen folgten.

Conrad. Wie ein Löwe auf der Jagd nach einem Reh.

Das musste eine Halluzination sein.

Sie kann nicht wirklich sein. Conrad begriff es nicht. Er hatte in dieser Nacht zu ihr gehen wollen. Die ganze letzte Woche lang hatte er sich nur danach gesehnt, sie berühren zu können.

Und jetzt war sie da, für ihn bereit, wie ein Geschenk. In Fleisch und Blut, so lebendig. Sie war kein Geist mehr und auch nicht länger schwarz-weiß. Ihre Wangen waren rosa angehaucht, ihre Lippen so rot wie ihr kurzes Kleid.

Wie war diese Veränderung bloß möglich?

Sie sah aus wie eine Heidin, als sie mit ihrem langen wehenden Haar am Feuer tanzte. Die Art, wie sie ihren Körper drehte und wandte, war verrucht, dekadent.

Tantsija“, murmelte Conrad.

Wie immer hypnotisierten ihre Bewegungen ihn. Aber jetzt beruhigten sie ihn nicht nur – ihr Tanz setzte seinen Körper unter Spannung, wie ein bis zum Reißen gespannter Draht. Sie war schon als Geist wunderschön gewesen, aber jetzt war sie unvergleichlich.

Er könnte sich nun tatsächlich den Kuss holen, nach dem er sich verzehrt hatte, könnte ihre vollen Brüste berühren …

Nein, das konnte er nicht – sicherlich hasste sie ihn.

Selbst über die Entfernung hinweg konnte er ihr Herz vor Erregung hämmern hören, was bedeutete, dass sie bluten konnte. Und das wiederum bedeutete, dass er sie verletzen könnte. Oder töten.

In seinen Fantasien hatte er an ihrem Hals gesaugt. Wäre ich fähig, damit aufzuhören, wenn ich einmal angefangen hätte?

Die Leichtigkeit, die er in ihrer Gegenwart immer verspürt hatte, weil er sie nicht verletzen konnte, war verschwunden, ersetzt durch Angst.

Und jetzt könnte sie auch ein Ziel für seine Feinde werden. Tarut war ihm vor wenigen Momenten entkommen. Conrad stieß einen lästerlichen Fluch aus, als sein Arm unter dem Verband zu schmerzen begann. Denn soeben ist mein sehnlichster Traum Fleisch geworden. Was er am meisten auf dieser Welt begehrte, tanzte da gerade genau vor ihm.

Du musst erst mal einen Traum haben, um ihn verlieren zu können …

Doch sein eigenes Herz lag nach wie vor tot in seiner Brust. Seine Lunge dehnte sich nicht durch Atemzüge aus. Obwohl Conrad sie leibhaftig vor sich tanzen sah, war er nicht zum Leben erweckt worden. Enttäuschung stieg in ihm auf.

Dreh dich um und geh.

Gerade als er sich translozieren wollte, brüllte jemand: „Ein Kampf!“