39

„Um Gottes willen, hör endlich auf!“ Minuten später erklang Maris Stimme aus dem Spiegel. „Wir kommen ja schon!“

Néomi öffnete ihre Lider einen Spalt, als Conrad neben ihr auf die Bettstelle sank. Zärtlich legte er ihren Kopf in seinen Schoß.

„Warum musst du eigentlich immer der Erste sein?“, verlangte Maris Stimme zu wissen.

„Weil ich größer bin als du“, lautete Bowens Antwort.

Als der Lykae aus dem Spiegel trat, gleich darauf gefolgt von Mari, rissen sie die Augen auf.

Mari wollte sofort zu Néomi eilen, aber Bowen streckte blitzschnell die Hand aus, schnappte sich ihren Arm und schob sie hinter sich. Nachdem er sich prüfend umgeschaut und die Luft durch die Nase eingesaugt hatte, wandte er sich Conrad zu. „Wer hat das deiner Frau angetan?“

„Dämon“, erwiderte Conrad mit vom Brüllen heiserer Stimme. „Cadeon.“

„Dieser Dreckskerl!“, knurrte Bowen und zog Mari an seine Seite. „Du hättest mich nicht davon abhalten sollen, ihm im Dschungel den Kopf einzuschlagen!“

„Cade? Oh, Hekate, das ist doch wohl nicht dein Ernst!“ Mari eilte zu Néomi. „Also war er es wohl, der versucht hat, mich anzurufen. Es muss ein Unfall gewesen sein.“

Néomi nickte schwach, um gleich darauf wieder Blut zu spucken.

Conrad drückte ihre Hand viel zu fest. Er schien am Rande des Abgrunds zu balancieren.

Maris Blick fiel auf Néomis Hals. „Du hast sie gebissen. Hast du ihre Erinnerungen gesehen?“

„Nein, es ist erst vor ein paar Stunden …“

„Und woher wusstest du dann, wie du mich durch den Spiegel kontaktieren kannst?“

„Néomi hat es mir nach … nachdem sie … Verdammt, was spielt das für eine Rolle? Bring einfach nur den Zauber in Ordnung, Hexe.“

„Es tut mir leid.“ Mari schüttelte traurig den Kopf. „Ich kann nichts tun. Das habe ich Néomi von Anfang an gesagt.“

„Heile … diesen … Körper.“

„Es ist nur eine Hülle. Selbst wenn ich sie heilen könnte, würde sie nur wieder und wieder getötet werden.“

„Wenn ein realer Körper alles ist, was sie braucht … Ich bin gleich wieder da!“

Das ist mein Conrad. Mit dem Kopf durch die Wand.

„Die Bedingungen, unter denen der Körper eines anderen angenommen werden kann, sind sehr umfangreich“, sagte Mari. „Vor allem bei den Menschen – der Körper muss von seinem Besitzer gestiftet werden. Nicht, äh, beschlagnahmt.“

„Dann gib ihr ihren alten zurück. Ich kannte Hexer, die totes Fleisch mit neuem Leben füllen, einen Körper aus einer Haarsträhne erschaffen konnten.“ Er bemühte sich so sehr, kämpfte, um die richtigen Worte zu finden. „Das könntest du auch mit Néomi machen.“ Seine Stimme brach, als er ihren Namen aussprach.

„Auf diese Weise werden seelenlose Zombies geschaffen“, erwiderte Mari.

„Wir haben eine Seele, sie wartet gleich hier“, wandte Conrad ein.

Néomi fühlte, wie sie dahinschwand.

„Bleib bei mir, Néomi. Bitte, Kleines“, murmelte er.

„Einem Körper einen Geist einzuhauchen ist keine Wissenschaft. Es ist eine Kunst, und dazu noch eine, die meine Fähigkeiten übersteigt. Vor allem wenn ich gleichzeitig auch noch ihren toten Körper wieder zum Leben erwecken soll. Normalerweise würde eine Hexe erst einmal den Körper heilen, das ist der erste Schritt, und dann den Geist in einem weiteren Schritt einpflanzen. Und du verlangst von mir, dass ich beides auf einmal tue? Wo ich nichts von alldem zuvor schon je einmal getan habe?“

„Ja. Du musst!“ Er holte tief Luft, um seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. „Ein Traumdämon hat mich mit seinem Mal versehen. Ich glaube, dieser Fluch hatte irgendetwas mit ihrer Verletzung zu tun. Es ist geschehen, kurz bevor der Dämon heute Nacht getötet wurde.“

Mari kniff die Augen zusammen. „Du meinst, ein Traumdämon hat mir in mein Fachgebiet hineingepfuscht, um dir Albträume zu verursachen? Meine mystische Signatur war ganz deutlich zu erkennen. Und irgendein Idiot hat das einfach ignoriert?“

Bowen legte ihr die Hand auf die Schulter. „Vielleicht hat er es übersehen, Mari.“

„Jeder, der sich mit Magie auch nur ein bisschen auskennt, hätte das gesehen. Das macht mich jetzt echt sauer. Da heißt es, ich wäre die mächtigste Hexe der Welt, und mein Zauber ist nach nur zwei Wochen einfach im Arsch.“

Denk nach … denk nach.

Kontrolle – nie hatte Conrad sie dringender gebraucht, und nie war die Gefahr größer gewesen, sie endgültig zu verlieren.

Warte …

„Hexe, wenn du jetzt nichts unternimmst, dann werden alle denken, dass sie deine Zauber ganz nach Belieben außer Kraft setzen können. Wer würde dich noch bezahlen, für einen Zauber, der nichts nützt?“

MacRieve knurrte.

„Meinst du vielleicht, ich merke nicht, was du vorhast?“, sagte Mariketa. „Leider funktioniert es.“

„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, fuhr MacRieve sie an.

Mariketa warf dem Lykae einen besorgten Blick zu, um sich gleich darauf wieder an Conrad zu wenden.

„Vampir, du musst wissen, dass ich das noch nie mit einem Menschen gemacht habe. Dazu kommt noch ein Problem. Ich habe ihren Körper nicht. Ich müsste erst einmal danach suchen, während ich mich gleichzeitig um alles andere kümmern muss.“

„Sie hält nicht mehr lange durch.“ Conrad fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Die Zeit läuft uns davon! Was haben wir denn zu verlieren?“

„Sie könnte anders zurückkehren“, sagte MacRieve.

Conrad blickte ihm in die Augen. „Wenn das geschieht, werde ich tun, was getan werden muss.“

„Es ist nicht nur das“, sagte der Lykae. „Mari könnte sich selbst im Spiegel verlieren. Ihre Augen würden alles einäschern, was zwischen sie und ihr Spiegelbild gerät, und sie würde in ewiger Trance gefangen sein. Ich fühle mit dir, Vampir, aber ich werde nicht zulassen, dass sie sich diesem Risiko aussetzt.“

„Sebastian hat dir das Leben gerettet. Und er hat dich vor einem unaussprechlichen Schicksal bewahrt. Du schuldest ihm etwas.“

MacRieves Blick zuckte zu Mariketa, und eine heftige Gefühlsregung veränderte die Farbe seiner Augen. Mit versteinerter Miene wandte er sich wieder Conrad zu. „Aber das nicht.“

Mariketa richtete das Wort an Néomi auf ihrem Lager. „Würdest du das wollen, Liebes? Ein sterbliches Leben?“

Als sie schwach nickte, erhob sich Mariketa und ging zu MacRieve. Sie blickte ihm in die Augen und sagte: „Ich glaube, ich kann es schaffen. Ich muss es versuchen. Ich meine, sieh dir nur diesen Vampir an.“

Néomi hatte soeben das Bewusstsein verloren. Conrad wusste, man sah ihm an, dass er am Rande des Abgrunds stand, als MacRieve ihn mit finsterer Miene musterte.

„Die Zeit läuft uns davon“, krächzte Conrad.

Mariketa zog MacRieve zur Seite. „Du hast doch gesagt, dass du unter keinen Umständen meiner Karriere im Wege stehen würdest, wenn ich dich heirate. Das wäre jetzt ein gutes Beispiel dafür, wie du dich meiner Karriere auf spektakuläre Weise in den Weg stellst. Weißt du, wie sich das in meinem Lebenslauf machen würde?“

„Ich habe deinen Eltern und deinem Koven aber auch versprochen, dass ich nicht zulasse, dass du dich noch einmal im Spiegel verlierst. Du bist noch nicht so weit, mein Mädchen! Es ist zu schnell nach … dem letzten Mal.“

„Bowen, diese ganze Sache liegt mir schwer im Magen, seit ich den Zauber für Néomi gewirkt habe. Und ich weiß ja, du hasst Cade, aber er und sein Bruder haben mir das Leben gerettet. Dies ist sein Ruf um Hilfe. Wenn ich Néomi rette, kann ich damit meine Schuld begleichen.“ Sie nahm eine seiner Hände zwischen ihre. „Du musst mir einfach glauben. Ich kann es schaffen. Ich fühle es.“ Als er die Zähne aufeinanderbiss, offensichtlich zum Zeichen seiner Niederlage, lächelte sie. „Bist du so lieb und holst mir meine Handschuhe für die Mächtige Magie?“

Auf Gälisch vor sich hin murmelnd schlurfte er in den Spiegel zurück.

Während MacRieve fort war, hatte die Hexe Conrad noch einiges zu sagen. „Die Kosten werden exorbitant sein, Vampir. Ich brauche hierfür zehn Millionen. Ich akzeptiere Grundbesitz, Edelsteine oder Goldbarren. Oder Aktienzertifikate aus den Zwanzigern, die exponentiell unterbewertet sind. Und du musst beim Mythos schwören zu bezahlen, da wir keine Zeit für Verträge haben.“

„Einverstanden, zehn Millionen“, erwiderte er auf der Stelle. „Ich schwöre beim Mythos, zu bezahlen. Aber dafür musst du das Ganze geheim halten. Wenn die Dämonen davon erfahren, werden sie nur wieder hinter ihr her sein.“

„Ich bin durch den Söldnerkodex daran gebunden, unsere Geschäfte vertraulich zu behandeln“, sagte sie, obwohl es ihr offenkundig nicht gefiel, die Sache vor ihrem Dämonenfreund zu verheimlichen, einem Dämon, der ihr das Leben gerettet hatte.

„Also gut. Nur fürs Protokoll, Hexe, ich glaube auch, dass du es schaffen kannst.“

Ihre Miene wurde grimmig. „Halte dich bereit, ein paar harte Entscheidungen zu treffen, Conrad, für den Fall, dass ich es nicht kann.“

Immer noch mürrisch kehrte MacRieve mit einem Paar seltsamer fingerloser Handschuhe zurück, in deren Handflächen sich eine Art biegsamer Spiegel zu befinden schien.

Mariketa zog sie über und holte tief Luft, wie um ihre Unruhe abzuschütteln.

„Ich mag Néomi“, sagte sie zu Conrad. „Ich hätte es auch für die Hälfte versucht.“

„Ich liebe Néomi. Ich hätte alles bezahlt, was du gefordert hättest.“

„Ach, Mist! Man lernt nie aus, wie? Also gut, eine Vampirbraut frisch zurück aus dem Grab.“ Sie klatschte die behandschuhten Hände zusammen und rieb sie aneinander. „Dann wollen wir mal sehen, ob das die Nacht der lebenden Toten wird.“