16
„Wettest du gerne, Conrad?“ Néomi war überrascht, dass ihre Stimme nicht zitterte.
Er hatte sich rasiert, wodurch der markante Schnitt seines schmalen Gesichts so richtig zur Geltung kam. Und das ohne jede Vorwarnung. Sie war in den Raum geweht, um gleich darauf zu erstarren, sprachlos angesichts seines Anblicks, wie er da auf seinem Bett ruhte.
Schrecklicher Mann. Sie fragte sich, warum sie ihm einfach nicht böse sein konnte.
Er runzelte die Stirn, als er ihre Reaktion bemerkte. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, was sein Anblick bei Frauen auslöste. „Kommt drauf an.“
Als sie gestern von ihren ausgedehnten Träumereien erwacht war, hatte sie einen Stapel Zeitungen auf dem Fußboden entdeckt.
„Ich hab ein paar von denen zu fassen bekommen, die außerhalb deiner Reichweite lagen“, hatte er schroff gesagt.
Für einen Mann wie Conrad war das wohl ungefähr so, wie wenn ein anderer Mann ihr Blumen gepflückt hätte. Auch wenn seine Geste sie ein wenig besänftigt hatte, hatte sie doch gezögert, als er sie bat, in seiner Nähe zu bleiben.
„Warum sollte ich freiwillig bei dir sein wollen?“, hatte sie gefragt. „Du wirst doch nur wieder meine Gefühle verletzen oder mich wegen des Schlüssels bedrängen.“ Wegen des Schlüssels, den sie Murdoch gestohlen und versteckt hatte.
„Meine Brüder waren vorhin hier“, hatte Conrad geantwortet. „Sie sagten, sie würden für die nächsten zwei Tage weg sein. Also gibt es ein Moratorium in Bezug auf den Schlüssel. Und ich werde dich nicht beleidigen.“
Offenbar hatten seine Brüder ihm erlaubt, sich frei zu bewegen, wenn seine Hände auch immer noch vor dem Körper gefesselt waren – selbst nachdem er ihnen mitgeteilt hatte, dass hier ein Geist lebte.
Die Vorstellung, dass er ihnen gegenüber steif und fest behauptet hatte, er hätte den Geist dazu bringen können, seine Existenz zu beweisen, wenn er nicht gerade schliefe, war zu komisch. Sich vorzustellen, wie er ein Bettlaken anbrüllte, war zum Totlachen.
Sie hatte beschlossen, ihm noch eine Chance zu geben. Aus diesem Grund hatte sie an diesem Abend ein Kartenspiel mitgebracht.
„Ich fordere dich zu einundzwanzig Runden vingt-et-un heraus. Wer von uns eine Runde verliert, muss eine Frage beantworten, wahrheitsgemäß und umfassend. Jede Frage.“
Er setzte sich auf. „Abgemacht.“
Sie schwebte über dem Fußende des Bettes, ihm genau gegenüber. Er hatte Schwierigkeiten mit den Karten, da seine Hände immer noch gefesselt waren, bat sie aber nicht um Hilfe. Und sie musste sich mit aller Kraft auf ihre Telekinese konzentrieren, was bedeutete, dass sie wieder würde lange schlafen müssen. Aber trotzdem hielten beide durch.
Nachdem er die erste Runde gewonnen hatte, verzog er seine Lippen. Es war noch nicht ganz ein Lächeln, aber trotzdem musste sie sich schütteln.
„Gewonnen.“
Ja, das hast du … Im Spiel der Anziehungskräfte sollten Lippen wie die seinen als unfairer Vorteil verboten werden.
Was hatten sich die Frauen seiner Zeit eigentlich dabei gedacht, sich einen Mann wie ihn entgehen zu lassen? Sie hätte sich am liebsten mit den Karten in ihrer Hand Luft zugefächelt.
„Dann stell deine Frage“, sagte sie geistesabwesend.
„Lebt noch jemand aus deiner Familie?“
„Non. Meinen Vater hab ich nie gekannt. Maman starb, als ich gerade sechzehn geworden war. Ich war ein Einzelkind.“
Sie teilte erneut Karten aus. Er hatte ein Ass offen vor sich liegen, und sie hatte insgesamt siebzehn Punkte. Passe. „Merde“, fluchte sie, als er eine Kreuz-Zehn umdrehte.
„Warum hast du deinen Vater nicht gekannt?“, fragte er. Als sie zögerte, wiederholte er ihre Worte: „Jede Frage. Wahrheitsgemäß und umfassend.“
„Ich kannte ihn nicht, weil er ein Schuft war. Er war reich, stammte aus Nîmes in Frankreich, und meine Mutter war eine junge Bedienstete in seinem Haus. Er war verheiratet, verführte sie aber trotzdem. Als sie ihm anvertraute, dass sie ein Kind von ihm erwartete, sagte er ihr: ‚Du reist nach Amerika, und ich werde dir gleich nach meiner Scheidung folgen. Dort werden wir das Baby als Familie großziehen.‘ Aber er kam nicht. Sie wartete auf ihn – mittellos, schwanger und ohne genug Geld für die Rückfahrt.“
„Vielleicht ist er bei der Überfahrt ums Leben gekommen. Wer weiß, was ihm zugestoßen ist.“
„Non, er schickte maman ein paar Almosen, die nur dazu dienten, sie wissen zu lassen, dass sie hereingelegt worden war. Die Gefahr eines Skandals war mit aller Entschlossenheit aus dem Weg geräumt worden. Bis zu ihrem Todestag glaubte sie daran, dass er kommen und uns holen würde. Deshalb hat sie nie geheiratet.“ Obwohl es ihr nicht an Angeboten gemangelt hatte – einige davon waren sogar seriöser Natur gewesen.
Néomi hatte einfach nicht begreifen können, wie Marguerite die Möglichkeit, ein besseres Leben zu führen, hatte ablehnen können; Möglichkeiten, für eine französische Emigrantin und Tänzerin und ihren Bastard, aus dem Vieux Carré herauszukommen.
Néomis Ansicht nach durfte eine Frau, die dumm genug war, auf einen Mann zu warten, der sie retten würde, nicht allzu wählerisch sein, welcher Mann das dann sein sollte. Marguerites Leben hatte Néomi viel gelehrt. Sie hatte sich geschworen, niemals in eine derartige Lage zu kommen – sie wollte niemals von einem Mann abhängig sein.
Sie teilte wieder Karten aus. Sie hatte neunzehn Punkte und er den Herz-Buben vor sich liegen.
„Karte“, sagte er. Sie legte eine Karte verdeckt vor ihn hin. „Noch eine.“ Die nächste Karte folgte. „Und noch eine.“ Er drehte die Karten um: Bube, zwei, drei, sechs.
Sie presste die Lippen aufeinander. Dieses Kartenspiel funktionierte nicht ganz so, wie sie es geplant hatte. Sie hatte gehofft, etwas über seine Vergangenheit herauszufinden, und wie es kam, dass er noch nie im Leben Sex gehabt hatte – wollte aber nicht selbst ausgefragt werden.
„Einundzwanzig, auf die harte Tour. Wieder gewonnen. Wenn deine Mutter nicht geheiratet hat, wovon habt ihr dann gelebt?“
„Sie hat gearbeitet.“
„Das ist keine vollständige Antwort.“
„Sie war Burleskentänzerin. Ich bin in einem möblierten Zimmer über dem Club aufgewachsen.“
Er hob die Augenbrauen. „Das erklärt so einiges an dir. Vor allem deine mangelnde Prüderie. Aber bei deinem Aussehen …“ Sein Blick glitt zu ihren Brüsten und gleich wieder nach oben. „Wieso bist du nicht in ihre Fußstapfen getreten?“
Sie lächelte ihn ausdruckslos an. „Wer sagt, dass ich das nicht getan habe?“
Er wirkte entsetzt. „Aber du warst Balletttänzerin!“
„Nicht immer“, murmelte sie.
„Das reicht mir nicht.“
„Dann gewinn die nächste Runde.“ Zwanzig für sie und siebzehn für ihn. „Gewonnen.“ Endlich. Und wenn er in ihrer Vergangenheit wühlte, dann … „Warum bist du deiner Familie gegenüber nicht loyaler?“
Er kniff die Augen zusammen. „Du willst meinen Sinn für Loyalität in Zweifel ziehen?“
„Oui. Genau genommen habe ich das gerade getan.“
„Ich war achtzehn Jahre lang bei den Kapsliga. Dann haben sie sich gegen mich gewendet. Ich kämpfte über ein Jahrzehnt Seite an Seite mit meinen Brüdern – und dann machten sie mich zu einem Ungeheuer.“
„Warum hast du das Gefühl, dass du ein Ungeheuer bist? Ich wünschte, du würdest die Vampire nicht so sehen, wie du es tust. So langsam wächst du mir ans Herz“ – ich bin in dich verliebt –, „und ich halte deine Brüder für ehrenhafte Männer. Die Tatsache, dass ihr alle Vampire seit, ist nebensächlich.“
„Nebensächlich. All meine Überzeugungen in einem einzigen Wort zusammengefasst.“ Er fingerte an einer Karte herum. „Wenn du mich in einem Anfall von Blutgier zu Gesicht bekommen hättest, würdest du mich ebenfalls für ein Ungeheuer halten. Jetzt gib schon. Ich möchte endlich Antworten auf meine Fragen.“
Sie teilte die Karten aus. „Ha! Gewonnen! Warum sind deine drei Brüder so … anders als du? Warum haben sie niemals direkt aus der Ader getrunken?“
„Sebastian hat sich davon abgehalten, indem er zum Eremiten wurde. Die beiden ältesten haben sich dem Orden der Devianten angeschlossen. Ihr wichtigstes Gesetz verbietet es, von Lebewesen zu trinken. Obwohl ich jetzt erfahren habe, dass sie von ihren unsterblichen Bräuten trinken.“
„Die Devianten sind die Armee König Kristoffs, n’est-ce pas?“ Er nickte. „Warum hast du dich nicht einfach deinen Brüdern angeschlossen?“
„Kristoff ist ein verdammter Russe!“, blaffte er. Seine breiten Schultern spannten sich an. „Ich habe über zehn Jahre gegen diese Bastarde gekämpft, nahezu jeden Tag, und schließlich wurde ich durch russischen Stahl getötet. Dann wache ich auf, und das Blut von so einem verdammten Kerl fließt in meinen Adern, und meine Brüder geloben ihm in meinem Namen ewige Lehenstreue – einem Russen und Vampir. Es könnte keine Kombination geben, die ich mehr verachten würde.“
„Wenn diese Devianten unermüdlich gegen schlechte Vampire kämpfen …“
„Kristoff hat Tausende von Menschen gewandelt. Die Mythenwelt hält sich selbst im Gleichgewicht, aber nicht, wenn er am laufenden Band neue Vampire schafft.“ Sie sah ihm an, dass er bemüht war, sich zu beruhigen. „Gib.“
„Das Glück wendet sich“, sagte sie, als sie vingt-et-un erreichte. „Erzähl mir von deiner Familie.“
„Meine Eltern haben aus Liebe geheiratet“, sagte er ungeduldig. „Meine Mutter starb bei der Geburt der letzten unserer vier sehr viel jüngeren Schwestern. Mein Vater war beträchtlich älter als sie und hat ihren Verlust nie verkraftet.“
„Drei Brüder und vier Schwestern? Du hattest sieben Geschwister? Ich habe mir immer wenigstens einen Bruder oder eine Schwester gewünscht.“
„Meine Schwestern haben nicht lange gelebt. Sie starben an der Seuche. Die älteste war erst dreizehn.“
„Das tut mir leid, Conrad.“
„Ich stand ihnen nicht so nahe, wie es mir möglich gewesen wäre. Wie es nötig gewesen wäre. Ich kämpfte schon seit einigen Jahren für die Kapsliga, als die erste von ihnen auf die Welt kam. Sie standen Sebastian näher.“
„Warum warst du der Sohn, der für die Kapsliga auserwählt wurde?“
„Nikolai war der Erbe, Sebastian der Gelehrte. Murdoch war der Liebhaber. Da ich keinerlei spezielle Interessen zeigte, wurde ich der Mörder.“
„Warum siehst du dich nicht eher als Beschützer? Du hast Menschen das Leben gerettet. Du hast sie vor einem grauenhaften Schicksal bewahrt.“
„Um später dann selbst anderen ein grauenhaftes Schicksal zuzufügen. Jetzt gib.“
„Merde“, murmelte sie wieder, als sie um einen Punkt verlor. „Pose ta question.“
„Du hast tatsächlich deine Kleider vor einem Haufen fremder Männer ausgezogen?“
„Ja, das habe ich. Meine Mutter war gerade unerwartet gestorben. Ich hatte die Wahl, entweder nachts im Club zu tanzen und tagsüber mit dem Ballett weiterzumachen oder in die Papierfabrik zu gehen, um dort für den Rest meines Lebens zu arbeiten.“ Das war vor der Zeit, in der sie sich vor Heiratsanträgen nicht retten konnte. Sie war schließlich gerade erst sechzehn geworden.
Er kniff die Augen zusammen. „Du hast gesagt, deine Mutter starb, als du sechzehn warst.“
„Und?“
Seine Lippen öffneten sich und entblößten seine spitzen Zähne, die ihr auf einmal überaus attraktiv erschienen. „Aber sechzehn?“
„Et alors. Ich habe nicht vor, mich dafür zu entschuldigen. Es waren andere Zeiten damals und meistens habe ich es sogar genossen. Ich habe dieses Kapitel meines Lebens geheim gehalten, nicht weil ich mich schämte, sondern weil ich wusste, dass die Menschen genauso reagieren würden wie du. Und jetzt mach bitte endlich den Mund zu, Vampir.“
„Du warst keine Jungfrau, oder?“
Sie zwinkerte ihm zu. „Non, je suis Capricorne.“
Ohne auf ihren Kommentar einzugehen, fuhr er fort: „Und du warst nicht verheiratet?“ Als sie den Kopf schüttelte, warf er ihr einen Blick zu, der deutlich sagte: Aha, eine von den Frauen.
„Ja, Conrad. Ich bin eine von den Frauen.“ Sie lächelte und teilte neue Karten aus. „Und wegen dieses Teils meines Lebens empfinde ich ebenfalls keine Scham.“
Er hatte es in dieser Runde auffällig eilig und gewann erneut. Aber als er dann mit seiner Frage zögerte, wusste sie, dass er vorhatte, sie zu fragen, wie viele Männer sie gehabt hatte – und Néomi bezweifelte, dass ihm die Antwort gefallen würde …