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Während Conrads Augen sich schlossen, spannten sich seine Kiefermuskeln an. Néomi wurde klar, dass er die Worte seines Bruders nicht leugnen würde.

Ihre Lippen teilten sich. Er war noch nie mit einer Frau zusammen gewesen? Wenn Conrad ihr vorher schon überaus begehrenswert erschienen war, hatte sich sein Status soeben zu unwiderstehlich geändert. Dieser Mann, mit seinem fantastischen Körper, der geradezu dafür geschaffen schien, Frauen zu beglücken und zu beschützen, war Jungfrau.

Oh, aber diese Enthüllung war ein Problem. Conrad, dieser verschlossene, stolze Mann brannte förmlich vor Scham und wand sich in seinen Ketten. Seine Arme schwollen an, da er offensichtlich hinter seinem Rücken die Hände zu Fäusten ballte. Er empfand es als Schmach, dass sie jetzt sein Geheimnis kannte. Und dabei hatte sein Stolz sowieso schon gelitten. Sie kannte die Männer und wusste, dass jedes Anzeichen von Verletzlichkeit in Gegenwart einer Frau, zu der sie sich hingezogen fühlten, als Niederlage angesehen wurde.

Bei diesem Gedanken brach ihr schier das Herz.

Murdoch runzelte die Stirn angesichts von Conrads Reaktion. „Denk doch nur mal … Wenn du bei der Versammlung deine Braut treffen würdest, könntest du innerhalb von einer Woche das Bett mit ihr teilen. Bist du denn gar nicht neugierig, wie das wäre?“

Geh jetzt“, sagte Conrad in aufgebrachtem Ton.

„In Übersee braut sich etwas zusammen. Keiner von uns wird vor morgen spät abends zurückkommen können. Möchtest du etwas trinken, bevor ich gehe?“

Conrad begann sich gegen seine Ketten aufzubäumen, bis die Muskeln an seinem Hals vor Anstrengung hervortraten. „Geh mir aus den Augen!“ Als er sich auf die Seite warf, sah er Blut auf dem Laken – die Handfesseln hatten sich tief in seine Gelenke gegraben.

„Conrad, so beruhige dich doch.“ Murdoch stand auf. „Ich gehe ja schon.“

Als Murdoch verschwunden war, holte Néomi tief Luft und schlich sich dann an Conrad heran. Sie bemühte sich, ihre Stimme gleichmütig klingen zu lassen, als sie ihn ansprach.

„Diese Sache scheint dir Unbehagen zu bereiten, aber das sollte sie nicht. Et alors. Ce n’est pas grand-chose. Das ist doch keine große …“

„Raus.“

„Conrad, dein Bruder scheint zu glauben, dass du bald deine Braut finden und mit ihr schlafen könntest, aber ich denke, er hat eine wirklich wichtige Sache unter den Teppich gekehrt: Sie muss auch dich begehren. Ich könnte dich lehren, was Frauen gefällt. Ich könnte dir zeigen, wie du sie verführen kannst.“

Das schien seinen Zorn noch zu vergrößern.

„Hör zu“, sagte sie rasch, „dies hier ist dein Zimmer, und ich werde deine Privatsphäre respektieren, aber könnte ich vielleicht heute Nacht bei dir sitzen bleiben? Ich werde auch kein Sterbenswörtchen sagen. Ich will nur einfach nicht allein s…“

„Und du weißt, was ich will.“

Ihr war schon früher aufgefallen, dass sich seine Fänge zu schärfen schienen, wenn sich Aggressivität in ihm aufbaute – so wie jetzt.

„Also, sei ein braves Mädchen und versprich mir“, er hatte den Satz mit leiser Stimme begonnen, um ihn jetzt mit lautem Brüllen zu beenden, „dass du mir einen gottverdammten Schlüssel besorgst!

„Du hast gesagt, du willst deine Brüder umbringen. Du hast gesagt, du sehnst dich geradezu danach.“

„Und?“

Sie stieß einen leisen Ton der Ungeduld aus. „Also, falls ich dich befreie, könntest du dich einfach hier auf die Lauer legen und sie angreifen. In dem Fall wäre ich deine Komplizin bei einem Mord.“

Er sah aus, als ob er zumindest sie mit Freuden erwürgt hätte. „Ich würde es nicht hier tun.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde es nicht mal in Erwägung ziehen, ehe du nicht schwörst, ihnen unter gar keinen Umständen Schaden zuzufügen.“

„Warum liegt dir das so am Herzen?“

„Ich habe das Gefühl, ich kenne sie alle, und ich glaube, es sind ehrenwerte Männer“, erwiderte sie. „Sie verdienen es nicht zu sterben, vor allem nicht nur deshalb, weil sie versucht haben, dir zu helfen.“

„Wenn du mir den Schlüssel nicht besorgst, ich schwöre dir, dann fackel ich diese verfaulende Bretterbude ab!“

„Warum sagst du so etwas?“, rief sie.

„Weil ich meine, was ich sage. Und jetzt raus mit dir! Und wage es ja nicht, ohne den Schlüssel wiederzukommen.“

„Das ist mein Haus. Ich muss nicht gehen!“

„War ja klar, dass du das nicht willst. Ich schätze, das ist eben dein Schicksal: den Lebenden zu folgen wie ein erbärmliches, mitleiderregendes Schoßhündchen.“

„Sch-schoßhündchen?“ Hatte er sie wirklich gerade so genannt?

„Genau. Du führst deine Tricks auf, bettelst um das kleinste Krümelchen Aufmerksamkeit. Reißt dir die Kleider vom Leib.“

Ihr blieb fast die Luft weg. Sie erwog, seine Bekanntschaft mit der Zimmerdecke zu erneuern.

„Nun lauf schon, braves Geistchen. Oder habe ich dir noch nicht genug Reste hingeworfen?“

Mit einem letzten bösen Blick drehte sie sich um sich selbst und verschwand aus dem Zimmer. Verdammter Kerl! Sie wollte nicht allein sein! Nicht heute Nacht.

Warum wurden Männer bloß so wütend, nachdem sie ihre verletzliche Seite gezeigt hatten? Warum fiel es ihnen derartig schwer, auch einmal die Schilde herunterzunehmen? Es war ihr doch völlig egal, ob Conrad noch Jungfrau war oder nicht. Na ja, eigentlich stimmte das nicht, aber auf jeden Fall reagierte sie nicht so, wie er erwartet hatte.

Was wäre, wenn ich einfach zurückgehe und ihm gestehe, dass ich mich zu ihm hingezogen fühle – und dass diese Information meine Gefühle in keinster Weise mindert?

Damit er sie weiter anschreien konnte? Sie beleidigen konnte? War sie die Art von Frau, die sich lieber beleidigen ließ, als allein zu bleiben?

Auf keinen Fall.

Aber was sollte sie tun? Wohin sollte sie gehen? Conrads Bemerkungen hallten immer noch in ihr wider, während sie trübselig durch die Gänge ihres Heimes schlich.

Am Wochenende würden die Brüder alle gemeinsam fortgehen. Und sie … nicht. Néomi hatte schrecklich gerne an Versammlungen aller Art teilgenommen, sie hatte es geliebt, sich dafür herauszuputzen. Sie hatte schlichtweg alles geliebt, was eine soziale Komponente beinhaltete.

Sie rief sich all die Dinge in Erinnerung, die sie je erlebt hatte: Lagerfeuer am Golf, Hausbootpartys auf dem Mississippi, Mardi Gras mit anderen Bonvivants feiern, mit lebhaften, vergnügungssüchtigen Theaterleuten.

Einmal hatte sie sich am Unabhängigkeitstag in den Brunnen am Jackson Square gestürzt. Unter der Hitze des Feuerwerks und von den sanften Klängen des Jazz umgeben, hatte sie einen völlig fremden Mann geküsst. Seine Lippen hatten nach Absinth geschmeckt.

Auch ich war einmal stolz, der Mittelpunkt jedes Festes. Das war vorbei. Jetzt war sie sich nicht einmal mehr zu fein, wie ein mitleiderregender Hund um ein paar Krumen Aufmerksamkeit zu betteln.

Ihre Laune besserte sich ein wenig, als sie von unten eine Stimme hörte. Murdoch war noch nicht fort. Sie translozierte sich zu ihm und sah, dass er gerade eine Nummer auf seinem Handy wählte. Sie beschloss nachzusehen, ob in einer seiner Taschen vielleicht noch so eine hübsche Spange steckte.

„Heb schon ab, Danii“, murmelte er. Als Danii seinen Worten keine Folge leistete, schmetterte er seine Faust gegen die Wand.

Wenn irgendein Wroth noch ein einziges Mal mein Haus demoliert …

Er war so beschäftigt, dass er nicht das Geringste bemerkte, als sie seine Tasche durchwühlte …

Und einen Schlüssel herauszog.

Schon nach wenigen Stunden hätte Conrad sie am liebsten zurückgerufen.

Etwas in ihrem Gesichtsausdruck hatte ihn nervös gemacht. Ihre Miene hatte gewirkt, als ob sie zum Tod am Galgen verurteilt worden wäre – sie drückte zum Teil Angst, zum Teil Resignation aus. Ihre Augen waren so traurig gewesen, so ganz anders als ihr vorheriges fröhliches Auftreten, als sie ihn ausgerechnet nach Meerjungfrauen gefragt hatte.

Es war nicht ihre Schuld, dass sie Conrads beschämendes Geheimnis mitangehört hatte, aber genau so hatte er sie behandelt. Weil er es so leid war, sich ohnmächtig und hilflos zu fühlen, weil er es leid war, beides zu sein. Er stand kurz davor, seinen Stolz hinunterzuschlucken und nach ihr zu rufen, als er auf einmal etwas roch: brennende Kerzen und … Wäschestärke?

Seine Nackenhaare sträubten sich. Etwas ging vor sich. Etwas, von dem sie gewusst hatte, dass es sie erwartete. Sie hatte nur mit ihm zusammen sein wollen, weil sie sich gefürchtet hatte. Aber wovor?

Und er hatte sie grausam fortgeschickt, sie im Stich gelassen. Eine ungekannte Art von Schrecken stieg in ihm auf, so stark, dass es ihn durch und durch erschütterte. Ihm brach der Schweiß aus.

Néomi sollte niemals Angst haben müssen. Nicht, solange noch ein Rest von Stärke in seinem Körper war.

Seine Augen weiteten sich, als er Musik von unten heraufdringen hörte. Da stimmt was nicht. Ganz und gar nicht. Langsam geriet er in Panik, wiegte sich vor und zurück, riss an seinen Ketten, setzte all seine Kraft gegen den einen Arm ein. Wieder und wieder zog und zerrte er … bis er sich mit einem Ploppen die Schulter ausrenkte.

Das verschaffte ihm gerade genug Spielraum, um seine Hände unter seinen Füßen hindurchzuziehen und die Fesseln vom Bettrahmen zu lösen. Er stand auf und schmetterte seine Schulter so lange gegen den Türrahmen, bis sie wieder da saß, wo sie hingehörte, und stürmte dann nach unten. Schließlich gelangte er in den Ballsaal, indem er dem Rosenduft folgte.

Dem Saal war von der Zeit – und von Conrad – übel mitgespielt worden. Doch in diesem Moment erschien er so, wie er vor achtzig Jahren ausgesehen haben musste. Der Marmorfußboden war eine einzige spiegelnde Fläche unter dem Licht von, wie es schien, tausend Kerzen. Der ganze Raum war mit frisch geschnittenen Rosen, gestärkten Tischdecken und offensichtlich kostspieligem Mobiliar herausgeputzt worden. Die Quelle jener gespenstischen Musik war nicht auszumachen.

Unwirklich. Die Situation ähnelte stark einer Halluzination. Aber er glaubte nicht, dass es sich um eine solche handelte. Dann sah er, wie sie den Raum betrat, als ob sie sich in Trance befände.

„Néomi?“

Sie antwortete nicht, sondern fing an zu tanzen. Sie begann langsam, wobei sie es irgendwie schaffte, Brust, Kopf und Arme vollkommen stillzuhalten, während sie das Bein ausstreckte und sich um sich selbst drehte. Mit zunehmendem Tempo begann sie die Arme zu schwenken, mit präzisen und doch flüssigen Bewegungen. Sie bewegte sich wie fließende Seide, als ob keinerlei Knochen die Bewegungen ihrer Arme behinderten.

Tantsija“, murmelte er überwältigt.

Sogar er erkannte einige der Schritte aus dem klassischen Ballett, aber sie füllte sie mit Sinnlichkeit. In ihrer Art zu tanzen lag etwas … Suggestives, als ob sie es täte, um einen Mann anzulocken.

Es funktionierte. Ihre Bewegungen lösten Emotionen in ihm aus.

Aus gewissen Perspektiven wirkte Néomi gespenstisch, doch er hatte noch nie zuvor etwas so Wunderschönes gesehen. Ihre Haut leuchtete, ihre blassen Lippen wirkten wie eine zarte Schleife. Die rauchigen Konturen rund um ihre Augen betonten die blauen Iris noch. Die Schatten unter ihren Wangen ließen diese noch schärfer hervortreten.

Ihr Gesicht strahlte pures Glück aus, nahezu unbeschwerte Freude. Sie zu betrachten beruhigte ihn, und er vergaß seine frühere Enttäuschung. Auch die Erinnerungen anderer schafften es nicht, den Bann dessen, was er sah, zu brechen. Mit jeder Sekunde zogen sie sich weiter zurück, bis sie dann, zum ersten Mal seit Jahrhunderten, vollkommen verschwanden.

Eine tote Tänzerin mit freudestrahlendem Gesicht stimmte ihn … erwartungsvoll. Er hatte das Gefühl, sich noch auf etwas freuen zu können – sie noch einmal tanzen zu sehen, mit ihr zu reden.

Zuvor hatte er die Tatsache akzeptiert, dass er bald sterben würde, hatte geglaubt, dieses Schicksal zu verdienen. Er war ein Vampir, ein Wesen, das zu hassen man ihn sein Leben lang gelehrt hatte.

Jetzt … er war noch ganz und gar nicht für das Ende bereit. Während er sie beobachtete, dachte er: Ich werde wahrscheinlich nicht mehr auf sie verzichten können.

Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Ich will … die Tänzerin.

Mit ihr zusammen unter der Dusche hatte er erkannt, dass sie auf irgendeine Art und Weise etwas Besonderes für ihn war. Heute Abend hatte seine Vermutung neue Nahrung gefunden, dass sie seine Braut sein könnte. Jetzt leugnete er es nicht länger. Dass sie ihn nicht erweckt hatte, musste wohl daran liegen, dass sie genau genommen nicht am Leben war.

Néomi ist die Meine.

Dass ihm eine solche Frau anvertraut wurde …

Könnte er seine Rachepläne auf Eis legen – für eine Chance mit ihr? Und die Gewissheit, dass er bald schon tot sein würde?

Mühelos wirbelte sie auf den Zehenspitzen über die Tanzfläche, sodass ihr schwarzer Rock und ihr langes Haar wild um sie herum flogen. Ihre Anmut schnürte ihm die Brust ab.

Ja, er könnte es. Sie gehört mir. Und ich werde sie besitzen. Sicher, es gab Hindernisse, aber es war seine Spezialität, alles, was sich ihm in den Weg stellte, zu eliminieren.

Bald wurden ihre Schritte sogar noch schneller. Da stimmt was nicht. Draußen begannen gelbe Blitze vor der Sichel des zunehmenden Mondes zu zucken, und der Wind toste durch die Zweige, sodass es Blätter regnete. Langsam alterte der Raum, er verfiel direkt vor seinen Augen. Dann endete die Musik abrupt.

Der Boden war mit Rosenblättern bedeckt.

Conrad stürzte auf sie zu – die Ketten hinderten ihn daran, sich zu translozieren. Doch bevor er sie erreichte, beschleunigte sie das Tempo noch weiter.

„Néomi!“

Die Luft lastete plötzlich schwer auf ihm. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie wirkte nicht mehr verträumt und verführerisch, sondern verängstigt.

Als er sie endlich erreicht hatte, schrie er: „Hör sofort damit auf, Néomi!“

Sie sah nicht hoch, schien dazu nicht in der Lage zu sein. Ihre Augen waren starr, ihre Atmung ging stoßweise. Als er versuchte, ihr Einhalt zu gebieten, fuhr sie mitten durch ihn hindurch, und er erschauerte wie unter einer elektrischen Entladung.

Mit einem Schlag erwachte sein Beschützerinstinkt zu vollem Leben. Beschütze sie … Wache über sie.

Doch es war ihm nicht möglich. Vor Enttäuschung brüllte er laut auf, als sie erneut durch ihn hindurchtanzte.

Wie lange konnte sie dieses Tempo wohl noch durchhalten? Schneller, immer schneller wirbelte sie von ihm fort, bis sie … verschwand.

Langsam drehte er sich im Kreis und brüllte ihren Namen. Aber die Geräusche hörten nicht auf, Geräusche, die er am liebsten nicht identifiziert hätte: ein feuchtes Schaben über Knochen, ihr Schrei – der schlagartig abbrach. Mit einem Mal breitete sich eine Blutlache auf dem Boden aus, die die Blütenblätter verschlang.

Bis auch diese verschwunden waren.