11

Zwei gottverfluchte Tage. Die Frau war seit zwei Tagen nicht mehr in seinem Zimmer erschienen. In dieser Zeit hatte Conrad hin und her geschwankt zwischen dem brennenden Wunsch freizukommen und dem Verlangen herauszufinden, was sie ihm bedeutete.

Während der Nächte waren seine Brüder gekommen und hatten versucht, zu ihm durchzudringen, aber er hatte keine Zeit für sie. Auch wenn es ihm jetzt besser ging, war der Teil von ihm tot, der für seine Familie offen hätte sein können.

Außerdem beherrschten die Gedanken an Néomi seinen Geist vollkommen.

Jetzt knirschte er mit den Zähnen, in dem Bemühen, Ruhe zu bewahren. Er saß in der Falle, konnte sie nicht ausfindig machen. Wenn er noch einen seiner Wutanfälle bekäme, würden seine Brüder ihn möglicherweise zwingen, diesen Ort zu verlassen, und irgendwo anders einsperren.

Und er war hier nicht fertig, noch nicht … Nicht ehe er herausgefunden hatte, ob sie auf seinen Geist einwirkte. Auch wenn er nach wie vor unter Anfällen unkontrollierbarer Gewalttätigkeit litt, bekam er seine Aggression und seine Wut langsam immer besser unter Kontrolle. Schon die Tatsache, dass er sich in der Dusche hatte beherrschen können, bewies das.

Vielleicht liegt es gar nicht an ihr – vielleicht liegt es an diesem Haus. Schließlich konnte er in diesem Moment klar denken, obwohl sie nicht da war.

Nein, das spielte keine Rolle. Er konnte sie immer noch ständig spüren. Gestern war ohne Unterlass ein zarter Nieselregen gefallen, und er hätte schwören können, dass er fühlte, wie … traurig sie war. Spät nachts hörte er sie regelmäßig durch die Gänge ihres Hauses streifen. Er nahm das gespenstische Rascheln ihrer Röcke wahr oder sogar ein gelegentliches Seufzen. Wenn sie an der Tür zu seinem Zimmer vorbeikam, bemerkte er die Veränderung in der Luft. Er hatte gelernt, nach dem schwachen Duft von Rosen zu suchen.

Er hatte nach ihr gerufen, aber immer war es Nikolai, der ins Zimmer gehastet kam. „Mit wem redest du?“, hatte er mit besorgter Stimme gefragt.

Nun fühlte Conrad sich, als ob er unter einer neuen Form von Wahnsinn litt. Muss sie finden. Will sie hierhaben. Fragen über ihr Leben quälten ihn. Sie trug Schmuck – Ohrringe, ein Halsband, einen breiten Ring am Zeigefinger –, aber keinen Ehering. Wenn dies ihr Eigentum gewesen war, dann musste sie reich gewesen sein, aber offenbar war sie unverheiratet. Und er glaubte nicht, dass sie in eine wohlhabende Familie hineingeboren worden war. Irgendetwas an ihrem Auftreten deutete auf eine Vergangenheit hin, in der es nichts zu verlieren gab.

Könnte eine Tänzerin genug verdient haben, um sich dieses Haus leisten zu können?

Zum Teufel, bei ihrer sinnlichen Ausstrahlung und absoluten Hemmungslosigkeit hätte sie eine Kurtisane sein können. Damit hätte sie ein Vermögen verdient.

Wer auch immer diese Néomi zu ihren Lebzeiten gewesen war, jetzt war sie tot. War er abartig veranlagt, dass er den Geist einer Frau dermaßen begehrte? Im Verlauf der vergangenen zwei Tage hatte er sich ihren nackten Körper wieder und wieder vorgestellt. Er war ihretwegen nicht hart geworden, aber er wünschte es sich jedenfalls.

Er war abartig. Nicht nur verrückt, sondern abartig.

Wenn er schlau war, würde er dieser schnell wachsenden Besessenheit ein Ende machen und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, um seine Flucht.

Er war ein Getriebener: Er ließ sich einfach nicht ablenken, weil er nicht aufhören konnte, daran zu denken, wie sich ihre milchigen Brüste seinen Händen entgegengereckt hatten.

Bei Anbruch der Dämmerung tauchten die letzten Sonnenstrahlen das Bayou in dunstige Farben. Entlang der von Zypressen bewachsenen Ufer ergoss sich Moos von den Ästen. Nahe am Wasserrand hielt sich hartnäckig ein klappriger Pavillon.

Vor vielen Jahrzehnten war diese kleine Einbuchtung schiffbar gewesen, aber im Laufe der Jahre hatten Gräser und Ablagerungen die Bucht verstopft, sodass diese Gegend heute eher einem Sumpf glich. Es wimmelte von wilden Tieren. Schlangen, Alligatoren und Nerze hatten sich dort angesiedelt. Biberratten – große Wassernagetiere – tollten zwischen den Seerosen umher und bleckten ihre orangefarbenen Zähne.

Dies war einer von Néomis Lieblingsplätzen auf ihrem Anwesen. Sie hatte den ganzen Tag am Ufer verbracht, am Rand des Wassers gekauert und zugeschaut, wie den Kaulquappen Gliedmaßen wuchsen.

Das war das Beste, was ihr eingefallen war, um sich abzulenken, damit sie nicht in das Zimmer des Vampirs zurückkehrte.

„Halt dich von mir fern“, hatte er sie gewarnt. Bonne idée, hatte Néomi beschlossen.

Denn sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Das Wissen um seine heldenhafte Vergangenheit hatte sie milde gestimmt und der Anblick seines nackten Körpers mit Bewunderung erfüllt, sodass er inzwischen eine gewaltige Anziehungskraft auf sie ausübte. Ihre Unterhaltung hatte Néomi regelrecht berauscht, hatte sie süchtig gemacht. Selbst sein Furcht einflößendes Gebrüll hatte daran nichts geändert.

Und es konnte nur noch schlimmer werden.

Denn was würde passieren, wenn er fortging? Sie würde sich erneut allein in ihrem leeren Haus wiederfinden, ihr leeres Leben ertragen. Ohne einen verrückten, aber sexy Vampir, der sie von ihrer Existenz ablenken könnte.

Für jemanden, der so gesellig war wie Néomi, war es bitter gewesen, sich nach ihrem Tod an die Einsamkeit und die unendlich lang erscheinenden Tage zu gewöhnen. Noch niederschmetternder war es jedes Mal, wenn die Mieter das Haus wieder verließen.

Und sie gingen immer.

Auch Conrad Wroth wird gehen.

Diese Vorstellung deprimierte sie derartig, dass sie sich geschworen hatte, ihnen allen fernzubleiben. Am besten gewöhne ich mich gar nicht erst daran, sie um mich zu haben.

Ihr Kampf, sich so lange von ihnen fernzuhalten, hatte ihre gesamte Willenskraft aufgezehrt, aber was diesen Abend betraf, glaubte sie nicht an einen Sieg. Bald würde der Splittermond wie ein schmaler Rippenbogen am Himmelszelt aufgehen, und sie fühlte sich verletzlich, wie immer zu dieser Zeit.

Néomi hatte Conrad erzählt, dass sie nichts fühlte, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Wenn sie um Mitternacht tanzte, würde sie den Schmerz ihres Todes fühlen, den Todeskampf noch einmal durchleben.

Ich will nicht allein sein. Nicht heute Nacht …

Bei Anbruch der Dämmerung befand sie sich auf dem Weg zu ihm, als ob sie von unsichtbaren Schnüren gezogen würde. Als sie draußen vor seiner Tür zögerte, sagte er: „Geist, komm zu mir!“

Genieße die Unterhaltung, ermahnte sie sich selbst. Gewöhn dich nur nicht dran.

„Ich weiß, dass du da bist.“ Sein Tonfall klang erschöpft. „Hast du jetzt Angst vor mir?“

Sie würde den grauenerregenden Laut nie vergessen, den er ausgestoßen hatte, dieses aggressive Knurren, das Schmerz androhte, eine brutale Erinnerung an das, was er war. Aber sie fürchtete sich nicht vor ihm.

Sie biss sich auf die Lippe. Wenn ich hineingehe, werde ich feststellen, dass er gar nicht so gut aussieht, wie ich gedacht hatte. Sie schwebte durch die geschlossene Tür und riss auf der Stelle die Augen auf. Nein, er sah sogar noch besser aus. Très beau.

Warum fand sie ihn dermaßen attraktiv? Sie hatte stets ältere Männer bevorzugt, die es im Leben zu etwas gebracht hatten, deren Feuer durch die Prüfungen des Lebens schon etwas gedämpft war.

Conrad war nichts als Feuer … Ein wunderschöner Wahnsinniger.

„Wo hast du gesteckt, verflucht noch mal?“, fuhr er sie unverzüglich an. Seine roten Augen zuckten mit gierigem Blick über ihr Gesicht, ihren Busen, ihren ganzen Körper abwärts und wieder nach oben. Er musterte sie, wie alle Männer es getan hatten, bevor sie gestorben war. Wie sollte sie weitere achtzig Jahre ohne glühende Blicke wie diesen ertragen?

„Hast du mich vermisst?“, fragte sie, ohne sich um seinen Ton zu scheren. Ihr Gebaren wirkte fröhlich. Er würde nie erfahren, wie viel Mühe es sie gekostet hatte, fortzubleiben. „Hätte ich lieber hier sein sollen?“

„Früher bist du jeden Tag gekommen“, erwiderte er mürrisch.

„Du hast mir geraten wegzubleiben, erinnerst du dich? Und dann hast du mich angebrüllt wie ein tollwütiger Bär.“

Ein tollwütiger Bär? Ich wollte nicht, dass meine Brüder dich unbekleidet sehen.“

„Conrad, sie konnten mich gar nicht sehen.“

Er schaute mürrisch drein. „Das … hatte ich völlig vergessen! Zumindest in diesem Moment. Manchmal fällt es mir schwer …“ Er verstummte. „Verdammt noch mal, sie hatten mir kurz vorher eine Spritze gegeben!“, beendete er schließlich seinen Satz.

Die Anteilnahme, die daraufhin in ihr aufwallte – wieder einmal –, war ihr gar nicht lieb. Sie fragte sich, was wohl nötig wäre, um die nahezu unerschütterliche Anziehungskraft zu schmälern.

„Warum kümmert es dich, ob sie mich nackt sehen?“

Er sah zur Seite und murmelte: „Ich wünschte, ich wüsste es.“

Néomi unterdrückte ein Lächeln. Mittlerweile fühlte er sich ebenso zu ihr hingezogen wie sie sich zu ihm.

„Was hast du vorhin draußen gemacht?“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll.

„Woher weißt du, dass ich draußen war?“

„Hab dich den ganzen Tag nicht gehört.“

Sie runzelte die Stirn. „Schläfst du denn niemals?“

„Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“

Néomi war aufgefallen, dass er höchstens drei oder vier Stunden am Tag schlief. „Und du schläfst auch nicht in regelmäßigen Abständen. Ich kann kein Muster erkennen.“

„Dann kann das auch niemand anders“, sagte er, aber bevor sie seine Worte infrage stellen konnte, fuhr er fort: „Jetzt erzähl mir, was du gemacht hast.“

„Wenn du es unbedingt wissen willst … Ich habe Kaulquappen beobachtet. Ich habe beschlossen zu erforschen, wie lange es dauert, bis ihnen Beine wachsen. Auf die Minute genau.“

„Kaulquappen. Warum solltest du das tun?“

„Nenn mir eine Alternative, Conrad. Was sollte ich sonst tun?“

Offensichtlich war er überfragt.

„Die einzige Zeitung, die ich mir von der Einfahrt habe angeln können, ist ausgelesen. Das Haus beherbergt weder unersättliche Frischvermählte noch abenteuerhungrige Teenager mit Farbspraydosen, also habe ich niemanden, den ich angaffen oder verschrecken könnte. Aber jetzt bin ich hier, also, was wolltest du?“

Es verstrichen einige Momente, in denen er nicht zu wissen schien, was er sagen sollte, und nur zweimal den Mund öffnete und wieder schloss.

„Nichts?“, fragte sie leichthin und winkte ab. „Na gut, dann wünsche ich dir noch eine gute …“

„Bleib!“, brachte er heraus. „Ich will, dass du hierbleibst.“

„Warum? Weil du mich unterhaltsamer findest, als der Farbe über dem Bett beim Abblättern zuzusehen?“

Er schüttelte den Kopf. „Will mit dir reden.“

Mit hocherhobenem Kinn durchquerte sie nonchalant das Zimmer bis zu ihrem Fenstersitz, über dem sie in der Luft stehen blieb. „Vielleicht werde ich bleiben, wenn du zustimmst, mir ein paar Fragen zu beantworten.“

„Was für Fragen?“

„Ich habe deine Brüder reden hören, aber oft habe ich keine Ahnung, was sie meinen. Du könntest mir einiges erklären.“

Er nickte barsch, als ob er verstimmt wäre.

„Was meinen sie, wenn sie von deinen Erinnerungen sprechen?“

„Wenn ein Vampir direkt aus der Ader eines Lebewesens trinkt, ist das Blut lebendig, es enthält die Erinnerungen eines ganzen Lebens. Diese Erinnerungen haben sich so lange angehäuft, bis ich sie nicht mehr beherrschen konnte. Ich kann sie auch nicht mehr von meinen eigenen unterscheiden.“

„Jede Nacht kehrt Murdoch mit weiteren Informationen über dich zurück. Er sagte, es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die dich am liebsten tot sehen würden.“

„Das ist wahr.“

„Er sagte auch, er hege den Verdacht, du habest mit deinen Opfern gespielt, bevor du sie umgebracht hast.“

„Ich tat nur, wofür ich bezahlt wurde.“

„Wurdest du dafür bezahlt, Leute zu köpfen, während du sie leer trinkst?“

Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Von jemandem zu trinken überträgt seine Erinnerungen auf dich. Von jemandem zu trinken, während du ihn tötest, überträgt außerdem einen Großteil seiner Kraft auf dich, sogar einige seiner mystischen Fähigkeiten. Und Köpfen ist die einzige Möglichkeit, einen Unsterblichen umzubringen.“

„Hast du auch Frauen und Kinder getötet? Oder Menschen?“

„Warum sollte ich?“ Er schien ehrlich verwirrt.

Von seiner Antwort halbwegs beruhigt, fragte sie weiter: „Wie bist du zum Vampir geworden?“

Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. „Nikolai beschloss, mir kurz vor meinem Tode sein verpestetes Blut einzuflößen.“

„Er musste dich nicht beißen?“

„So was gibt es nur im Film“, sagte Conrad. „Blut ist die wirkende Kraft bei der Transformation, und der Tod ist der Katalysator. So funktioniert die Wandlung bei jeder Spezies der Mythenwelt.“

„Es ist so einfach, ein Vampir zu werden?“

„Einfach? Es funktioniert nicht immer. Und wenn es nicht klappt, stirbst du.“

„Wer hat deine Brüder gewandelt?“

„Kristoff, ein gebürtiger Vampir – und jemand, über den ich nicht sprechen werde. Frag jemand anders.“

„Na gut. Kannst du immer noch Nahrung zu dir nehmen?“

„Ja, aber zu essen ist für mich ungefähr genauso interessant, wie es für dich wäre, Blut zu trinken.“ Ihre Miene verzog sich angeekelt. „Genau. Aber ich genieße ab und zu einen guten Whisky.“

Genau wie sie früher. Sie besaß einen Geheimvorrat in ihrem Studio. „Was ist mit dieser Teleportation, mit der Translokation? Wie weit kannst du damit kommen?“

„Wir können die ganze Welt durchqueren – nicht nur den Wohnsalon eines Spukhauses.“ Bei diesen Worten schürzte sie die Lippen. „Allerdings können wir nur zu Orten reisen, an denen wir vorher schon einmal waren oder die wir sehen können.“

„Und die Akzession?“

„Ein Phänomen der Mythenwelt, alle fünfhundert Jahre oder so. Familien degenerieren und Unsterbliche breiten sich aus wie Unkraut. Kämpfe brechen aus und verschiedene Fraktionen ziehen in den Krieg. Viele Unsterbliche finden den Tod.“

Néomi hatte diese unheimlichen Männer von der Mythenwelt sprechen hören, als ob es sich dabei um eine ganz eigenständige Art von Lebewesen handelte. Sie hatte sie über Walküren, Hexen und Ghule reden hören und das „noble Feenvolk“. Es gab Werwölfe und Gespenster – und offenbar redeten und lebten diese Wesen alle miteinander.

„Gibt es wirklich Meerjungfrauen?“, fragte sie.

„Ja.“

Unfähig, ihre Aufregung zu verbergen, stieß sie erstaunt den Atem aus und riss die Augen auf.

„Hast du schon eine gesehen? Haben sie lange Fischschwänze? Mit Schuppen? Und was ist mit Nessie? Gibt es die auch? Ist sie bissig, und ist sie vielleicht eigentlich ein Neddie …“

„Wie alt warst du, als du gestorben bist, Geist?“, unterbrach er sie mit herablassender Miene. „Bist du je erwachsen geworden?“

Sie straffte die Schultern. „Ich war sechsundzwanzig.“

„Wie kommt es, dass du so jung gestorben bist?“, murmelte er mit zusammengezogenen Augenbrauen.

Was sollte sie darauf antworten? Sie konnte wohl kaum zugeben, dass sie ermordet worden war, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Und die Einzelheiten ließen sie schwach erscheinen. Aber schließlich stellte es wohl die ultimative Schwäche dar, ermordet zu werden, oder etwa nicht? Nur jemand, der unterlegen war, konnte das verstehen.

Dieser Mann würde es verstehen, flüsterte es in ihren Gedanken. Er würde wie kein anderer den Schmerz begreifen, den sie erlitten hatte.

„Ich wurde ermordet“, antwortete sie schließlich.

„Wie?“

„Was glaubst du denn?“

„Eine eifersüchtige Ehefrau hat die hübsche Geliebte ihres Mannes erschossen.“

„Du findest mich hübsch?“ Sie errötete vor Freude, während er ihr nur einen ungeduldigen Blick zuwarf, als ob sie dieses Thema schon hundertmal durchgekaut hätten. „Ich habe mich nie auf einen verheirateten Mann eingelassen.“

„War es ein verschmähter Liebhaber, der dich eine Treppe hinuntergestoßen hat?“

„Wieso gehst du davon aus, dass es ein Verbrechen aus Leidenschaft war?“, fragte sie.

„Nur so ein Gefühl.“

„Dein Gefühl trügt dich nicht. Mein Exverlobter hat mir … ein Messer ins Herz gestoßen.“ Dies laut auszusprechen ließ sie frösteln, als ob ein eisiger Windhauch sie getroffen hätte. „Es ist hier geschehen. Als ich aufwachte, war ich an diesen Besitz gefesselt, unfähig, ihn zu verlassen, unfähig zu fühlen.“

Die roten Augen des Vampirs wurden milde.

„Warum hat er dir das angetan?“, erkundigte er sich mit rauer Stimme.

„Er konnte nicht akzeptieren, dass ich ihn verlassen hatte.“ Louis hatte ihr immer wieder versichert, dass er eher sterben würde, als ohne sie zu leben, dass ihn nichts dazu bringen könnte, sie gehen zu lassen. „Gleich nach mir hat er die Klinge gegen sich selbst gerichtet.“

Conrad erstarrte, seine Miene wieder zu einer Maske der Gewalttätigkeit verzerrt. „Ist er hier?“

„Nein. Ich weiß nicht, warum ich hier bin und er nicht, aber das ist das Einzige, wofür ich dankbar bin.“

Er entspannte sich geringfügig. „Wann ist das passiert?“

„Am vierundzwanzigsten August neunzehnhundertsiebenundzwanzig. Am Abend meiner Einweihungsparty anlässlich meines Einzugs in Elancourt. Ich war kurz zuvor erst mit der Restaurierung fertig geworden.“ Sie hatte sich auf den ersten Blick in den vernachlässigten Besitz verliebt und liebevoll jedes noch so kleine Detail seiner Renovierung überwacht, in deren Verlauf das Herrenhaus und der Garten in alter Pracht wiederauferstanden waren.

Damals hatte sie nicht ahnen können, dass es ihr Heim für alle Ewigkeit sein würde.

„Genug über ihn.“ Sie schüttelte die düsteren Erinnerungen an Louis ab. Jetzt wo sie hier mit Conrad zusammen war, war sie fest entschlossen, jede Sekunde dieser Unterhaltung zu genießen.

Die zweite Unterhaltung überhaupt in ihrem Lebens nach dem Tod.

„Was glaubst du, warum du ein Geist geworden bist?“, fragte er.

„Ich hatte gehofft, einer von euch würde mir das vielleicht sagen können.“

„Ich denke nicht, dass in der Mythenwelt oft über dieses Thema geredet wird – Geister sind ein menschliches Phänomen –, aber soweit ich weiß, kommen sie nur sehr selten vor. In all meinen Jahren habe ich vor dir nie einen zu Gesicht bekommen.“

„Oh.“ Sie hatte ja nicht erwartet, von ihm in sämtliche Geheimnisse der Geisterwelt eingeweiht zu werden, aber ein paar Einzelheiten wären schon schön gewesen.

„Wurdest du auf Elancourt … beerdigt?“

„Wie seltsam diese Frage klingt, n’est-ce pas? Also, wenn nicht irgendetwas schrecklich schiefgegangen ist, dann wurde ich in der Stadt beerdigt, in dem alten oberirdischen Grab der French Society.“ Néomis … sterbliche Überreste lagen in einem Sarg unter jenem hoch aufragenden Gewölbe, das noch mindestens dreißig weitere Leichen beherbergte. „Aber es kann auch genauso gut sein, dass Grabräuber meine Leiche für Voodoo-Rituale gestohlen haben.“

Er blickte sie mit gerunzelter Stirn an. „Machst du dich etwa darüber lustig?“

„Sag mir, Conrad, was schreibt die Etikette vor, wenn man über seinen eigenen Leichnam spricht? Keine Scherze über die eigenen Gebeine? Wie ungeschickt von mir.“

Er warf ihr einen Blick zu, der besagte, dass er niemals aus ihr schlau werden würde und es darum vermutlich auch gar nicht erst versuchen würde. „Wie bist du an diesen Besitz gekommen?“

„Ich hab ihn gekauft. Ganz allein und ohne männliche Hilfe.“

„Und wie konntest du dir das leisten?“, fragte er in ungläubigem Tonfall.

Typisch. „Ich habe gearbeitet“, sagte sie, unfähig, einen Hehl aus ihrer Genugtuung zu machen. „Ich war eine Ballerina.“

„Eine Ballerina. Und jetzt ein Geist.“

„Ein Kriegsherr. Und jetzt ein Vampir.“ Angesichts dieser Gegensätze musste sie lachen. „Was für ein Paar wir abgeben.“

Er musterte sie. „Dein Lachen erscheint mir unangebracht.“

„Warum?“

„Sollten Geister nicht eigentlich von Trauer und Elend durchdrungen sein?“

„Im Augenblick genieße ich es, mich mit dir zu unterhalten, also bin ich glücklich. Ich habe später noch mehr als genug Zeit zum Unglücklichsein.“

„Bist du für gewöhnlich unglücklich?“, fragte er.

„Das liegt nicht in meiner Natur, aber meine gegenwärtigen Umstände sind alles andere als ideal.“

„Das haben wir dann wohl gemeinsam. Néomi, wenn meine Brüder zurückkommen, möchte ich, dass du einen Schlüssel für meine Ketten stiehlst.“

„Stehlen? Moi? Niemals!“, hauchte sie.

„Ich habe selbst gesehen, wie du ihnen Dinge weggenommen hast“, entgegnete er. Sie blickte an die Decke und versuchte sich zu beherrschen, um nicht schuldbewusst vor sich hin zu pfeifen. „Warum hast du Kieselsteine anstelle deiner Diebesbeute hinterlassen?“

„Na ja, es ist eine Sache, den Lebenden etwas wegzunehmen, und eine andere, zu geben. Ich wollte jemanden sagen hören: ‚He, wo kommt denn der Stein her?‘ Das wäre zumindest eine Bestätigung meiner Existenz. Ich dachte, das wäre der Beweis dafür, dass ich real bin.“

„Und jetzt, wo ich mich mit dir unterhalte, weißt du, dass du real bist?“ Sie nickte. „Dann sollte man doch meinen, du würdest ein wenig dankbarer sein und gewillt, mir zu helfen. Néomi, ich verliere noch den Verstand, wenn ich Stunde um Stunde in diesem Zimmer verrotten muss.“

„Du bist doch schon verrückt.“

Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Es heißt doch immer, Geister teilen ihr Heim nicht gerne mit anderen. Bring mir diesen Schlüssel, und dann kannst du das Haus wieder ganz für dich allein haben.“

„Ich bin nicht immer allein“, sagte sie. „Manchmal wohnen Familien hier. Und im Gegensatz zu dem, was man sich so über Geister erzählt, liebe ich es, Menschen um mich zu haben. Sogar wenn sie mich nicht sehen oder hören können, sind sie doch immerhin unterhaltsam.“

„Wann waren die letzten hier?“

„Vor zehn Jahren. Ein charmantes junges Pärchen ist hier eingezogen.“ Die beiden waren fassungslos gewesen, zu welchem Schnäppchenpreis sie Elancourt kaufen konnten. Damals hatten sie noch keine Ahnung, dass das Haus der Schauplatz eines „grauenhaften Mordes und anschließenden Selbstmordes“ gewesen war, wie die Zeitungen es genannt hatten.

Sie hatten eifrig daran gearbeitet, so viel wie möglich selbst zu renovieren und zu modernisieren. Als dann ihr erstes Kind gekommen war, hatte Néomi das kleine Mädchen verhätschelt, hatte seine Wiege geschaukelt, Puppen und Stofftiere zu seiner Belustigung durchs Zimmer schweben lassen und auch sonst alles getan, um den erschöpften Eltern eine Hilfe zu sein. Doch als das Kind begonnen hatte zu sprechen und weinend nach dem unsichtbaren Puppenspieler verlangt hatte, hatten die Eltern es mit der Angst zu tun bekommen und waren ausgezogen.

Es hatte Néomi fast das Herz gebrochen. Danach war sie die nächsten zehn Jahre allein gewesen … bis Conrad und seine Brüder gekommen waren.

„Hast du denn nie jemanden verscheucht?“, fragte er, als wenn das genau das wäre, was er in ihrer Lage getan hätte.

„Ich muss zugeben, ich verteidige mein Revier mit aller Kraft gegen Vandalen. Ich jage ihnen Angst ein – und bisher ist noch keiner wiedergekommen“, sagte sie stolz.

„Ich habe deinem Haus sicher schon mehr Schaden zugefügt als die meisten Vandalen. Trotzdem bist du nicht darauf erpicht, mich loszuwerden?“

Wenn sie ihm einen Schlüssel besorgen würde, wäre er schneller weg, als die Ketten auf dem Boden aufkommen könnten. Und sie wusste, dass sie ihn niemals wiedersehen würde.

Merde, dieser Gedanke tat richtig weh. Sie schüttelte sich innerlich. „Selbst wenn ich ihn bekommen könnte, warum sollte ich ihn dir geben? Damit du deine Drohungen gegen deine Brüder in die Tat umsetzen kannst?“

„Du würdest ihn mir geben, weil ich, wenn du das nicht tust, ebenso dein Gefangener wäre wie der ihre.“

„Warum bist du so begierig darauf, von ihnen fortzukommen, Conrad? Sie versuchen doch nur, das Beste für dich zu tun.“

„Du weißt gar nichts.“

„Dann sag mir, wieso du sie so sehr hasst. Weil sie dich gewandelt haben?“

Er lachte bitter auf. „Reicht das denn noch nicht?“

„Das ist sehr lange her, und sie geben sich jetzt so viel Mühe. Sie schlafen nicht, translozieren sich über das Meer, kämpfen gegen böse Vampire, wenn auf der anderen Seite Nacht ist, und kommen in aller Eile wieder her, um zu versuchen, dir zu helfen.“

Mit unergründlicher Miene fragte er: „Hasst du?“

„Pardon? Redest du davon, eine Person zu hassen?“

Er nickte. „Stell dir denjenigen vor, den du am meisten auf dieser Welt hasst.“

„Das ist leicht – Louis. Der Mann, der mich erstochen hat.“

„Dann stell dir jetzt vor, du stirbst, und wenn du aufwachst, musst du feststellen, dass du bis in alle Ewigkeit an diesen Mistkerl gebunden bist. Würdest du nicht auch denjenigen hassen, dem du das zu verdanken hast?“

Oh mein Gott, er hatte gar nicht so unrecht.

„Sie haben mir meine Mission genommen, meine Kameraden, mein Leben, wie ich es kannte und wie es sein sollte …“

„Wärst du lieber tot?“

„Ohne Frage.“

Sie musste einsehen, dass es sinnlos war, ihn in dieser Angelegenheit von etwas anderem zu überzeugen.

„Du hast sicher mitbekommen, dass es allerlei Gruppierungen auf meinen Kopf abgesehen haben“, sagte er. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich hier finden. Ich brauche diesen Schlüssel, Geist.“

„Mein Name ist nicht ‚Geist‘.“

„Und meiner nicht ‚dément‘.“

Touché, dément“, sagte sie ausdruckslos.

„Verdammt noch mal, hab ich dir nicht gerade gesagt, du sollst mich nicht so nen…“

Mit einem Mal tauchte Murdoch im Zimmer auf.