82
Ich sitze im Backstagebereich, den Kopf an Antons Schulter gelehnt, und wir verfolgen über die Lautsprecher die Auftritte der anderen. Ich fühle mich so leicht, als könnte ich jeden Moment von meinem Stuhl emporschweben.
»Wie geht es dir?«, flüstert Anton.
»Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen. Ich glaube, mir hat jemand was in mein Wasserglas getan.«
»Es wäre möglich, dass wir gewinnen, weißt du.«
»Oh.« An den Sieg habe ich nicht einmal gedacht. Ich hatte ganz vergessen, dass es sich um einen Wettbewerb handelt. Ich war zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie absolut richtig ich mich fühle. »Das kümmert mich eigentlich nicht wirklich.«
»Das Geld könnte ganz gelegen kommen.«
»Man bekommt Geld?«
»Ja, hunderttausend. Gracie Flowers. Siehst du nie fern?«
»Ich habe mir die Show hier noch nie angeschaut.«
»Dabei ist sie wie für dich gemacht.«
»In Zukunft werde ich sie mir anschauen.«
»Außerdem erhält der Sieger einen Plattenvertrag, um ein Album aufzunehmen.«
»Ja?«
»Ja. Würde dir das gefallen?«
»Ob es mir gefallen würde, mit dir ein Album aufzunehmen?«
»Ja.«
»Ja, aber keinen seichten Pop, und ich will auch auf gar keinen Fall halb nackt für das Cover posieren müssen.«
»Nein.« Er lacht. »Ich, äh … O Gott, Grace.«
Er fischt etwas aus seiner hinteren Hosentasche.
»Was ist?«
»Ich habe hier ein paar Zeilen, die ich zu Papier gebracht habe. Lies. Ich bin ein alter Narr.«
Ich nehme den gefalteten Zettel, den er mir entgegenstreckt.
»Du bist mein alter Lieblingsnarr«, erwidere ich.
Anton sieht sichtlich unbehaglich auf seinen Schoß, während ich den Zettel auseinanderfalte.
Grace,
ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich will dir etwas sagen, kann es jedoch nicht persönlich tun. Ich habe es versucht, aber in deiner Gegenwart verliere ich die Fähigkeit, zusammenhängende Sätze zu formulieren. Ich könnte es dir nicht einmal in einem Song sagen.
Oh, Grace, ich bin seit dem Moment von dir geblendet, an dem du zum ersten Mal mein Lokal betreten hast. Geblendet von dieser kleinen jungen Frau mit den langen blonden Haaren, die sich eine Wohnung direkt gegenüber von meinem Pub gekauft hat. Ich schätze, was mich geblendet hat, war deine Seele. Eine freundliche Seele, eine kämpferische Seele, eine lächelnde Seele. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, meine Worte greifen zu kurz. Ich habe es mit den Worten von John Denver versucht, und sogar das habe ich vermasselt. Aber du findest alles, was ich dir sagen möchte, in dem Text von Annie’s Song.
Gracie, ich mag zwar im selben Alter wie George Clooney sein (tatsächlich bin ich dreizehn Monate jünger!), ich bin jedoch deutlich älter als du und in einer anderen Phase meines Lebens. An jenem Abend, als wir in meinem Schlafzimmer waren, war ich wie erstarrt. Ich musste an deinen Vater denken. Ich habe ihn respektiert, Grace, und ich wollte dir gegenüber das Richtige tun, dir und deinem Vater gegenüber. Ich wollte mir nicht nehmen, was ich mir nicht nehmen durfte. Trotzdem habe ich mir viele Gedanken darüber gemacht, und egal, wie sehr ich mir den Kopf zerbreche, ich lande immer wieder bei einer Tatsache, die wichtiger ist als alle Fragen und Zweifel, nämlich der Tatsache, dass ich mich total in dich verliebt habe, Grace. Wenn ich Songs singe, wenn ich Songs spiele, sind sie immer für dich.
Okay, ich möchte nur, dass du eins weißt: dass ich an dich denke und dass ich mir mehr als alles andere wünsche, dass du glücklich bist.
In Liebe, ein alter Narr und Verehrer
Anton xx
»Den werde ich immer in Ehren halten«, flüstere ich, und ich sehe in seine Augen und lächle. »Ich werde ihn in eine kleine Schachtel legen und unter unserem Bett verstauen.«
»Grace.«
Wenn man gerade von der Störung des Jahrzehnts spricht … Es ist Ruth Roberts, und sie lächelt mich an. Das hat sie bei unserer letzten Begegnung sicher nicht getan.
»Hallo, Ruth.«
»Hallo, Gracie. Ich fand deinen Auftritt super. Früher war ich immer neidisch auf deine Stimme, aber es war schön, sie wieder zu hören. Ich habe sie vermisst.«
»Danke. Und ich habe mich gefreut, dich wieder Amazing Grace singen zu hören. Es war wunderschön.«
Ich schaue Ruth einen Moment an, während ich überlege, ob ich mich für den Vorfall vor zehn Jahren entschuldigen soll, doch der hektische Aufnahmeleiter nimmt mir die Entscheidung aus der Hand, indem er in den Backstageraum stürmt.
»Alle Finalisten in einer Reihe aufstellen! Gleich wird der Gewinner verkündet!«
Ruth saust zurück an ihren Platz, und ich stehe zusammen mit Anton auf. Er nimmt meine Hand, und ich halte seine, und alles, jedes kleine Ding auf der Welt, fühlt sich richtig an.