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Es ist Viertel vor neun, Schleimi und Posh Boy sind bereits da.

»Was ist denn hier los?«, frage ich Schleimi, während ich an meinen Schreibtisch gehe und meinen Computer einschalte – ich werde nie wieder auch nur ein Wort mit Posh Boy reden.

»Gracie Flowers, lass die Jacke an. Wir nehmen dich mit.«

»Wohin? Zu einer Besichtigung?«, wende ich mich direkt an Schleimi.

»Nein.«

»Wohin dann? Oh, bitte nicht schon wieder so ein Teambuilding-Event.«

»Es gibt was zu feiern.«

»Was denn? Wo denn?«

»Grace, halt einfach die Klappe und folge mir hinaus zum Wagen. Fünfzig Fragen auf einmal, typisch Frau«, sagt Schleimi und hält mir die Tür auf.

Ich gehe wieder auf die Straße hinaus. Ich habe Posh Boy bisher keines Blickes gewürdigt, daran wird sich auch nichts ändern. Wir steigen in Schleimis Audi, und er fährt uns zu einem Luxushotel auf der Park Lane.

»Was um alles in der Welt machen wir hier?«, frage ich missmutig. Ich will heute Morgen beziehungsweise auch an jedem anderen Morgen nicht in Posh Boys Nähe sein. Ganz zu schweigen von einem fröhlichen Dreier mit ihm und Schleimi, um etwas zu feiern.

»Champagnerfrühstück, mein Schatz.«

»Champagner? Warum? Ich kann morgens um neun keinen Champagner trinken. Dann schlafe ich spätestens um zehn ein.«

»Unser Okay hast du, stimmt’s, John?«

»Absolut, Ken. Heute ist dein Tag, Grace«, tönt Posh Boy.

»Bitte, sprich mich nicht an«, murmle ich.

»Kinder«, sagt Schleimi tadelnd. »Habt ihr zwei Krach miteinander?«

Ich werde in einen Aufzug geleitet, der uns in die oberste Etage des Hotels bringt, und als ich aussteige, sehe ich mich einer Glasfront vom Boden bis zur Decke gegenüber. Ganz London liegt zu meinen Füßen. Ich kann den Hyde Park sehen, den Marble Arch und dahinter Straßen mit Häusern, die ich in den letzten fünf Jahren verkauft habe.

»Wow! Was für ein Ausblick«, sage ich.

»London City. Ist sie nicht eine Schönheit?«, sagt Schleimi seufzend, während er sich neben mich stellt. »Die Straßen dort unten sind mit Gold gepflastert, was, Grace?«

Ich verziehe das Gesicht, weil Schleimi heute Morgen so maßlos überzogen daherredet.

»Wohl eher mit Müll.«

»Grace Flowers?« Eine Kellnerin kommt mit einem Glas Buck’s Fizz auf mich zu. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Was habe ich getan?«, frage ich. »O mein Gott, bin ich etwa Maklerin des Jahres?«, keuche ich erschrocken.

»Sie denkt, sie ist Maklerin des Jahres«, sagt Schleimi lachend zu John.

Ich blicke nicht mehr durch.

»Wahrscheinlich wird sie das bald sein«, zwitschert Posh Boy.

»Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Wegen der Höhe?«, fragt Schleimi.

»Nein, weil ihr euch aufführt wie zwei Geisteskranke! Was soll das alles?«

»Komm mit, komm mit.«

Ich werde in einen Konferenzraum geführt, der ebenfalls ein Panoramafenster von der Decke bis zum Boden hat, von hier aus kann ich den Buckingham Palast sehen. In der Mitte des Raumes steht ein großer Glastisch, an dem vier Leute sitzen: eine Frau Mitte vierzig, deren Frisur sehr teuer aussieht, zwei Männer im mittleren Alter, die mir unbekannt sind, und der SJS-Mann, Posh Boys Vater. Ich starre in die Runde. Nun bin ich endgültig verwirrt, also kann ich auch meinen Cocktail trinken. Die drei in der Runde, die ich nicht kenne, stehen sofort auf, als ich den Raum betrete, und strecken mir die Hände entgegen, um mir zu gratulieren.

»Was soll das hier?«, frage ich.

»Das ist es, Grace Flowers«, antwortet Schleimi. »Ich bin so stolz auf mein Mädchen.« Seine Stimme bricht, und er drückt mich an sich.

»Grace«, sagt John St. John Smythe senior. »Lassen Sie mich erklären. Bitte, nehmen Sie Platz. Füll bitte Grace’ Champagnerglas auf, Sohn.«

Ich ignoriere John junior weiter, damit ich nicht in Versuchung komme, ihm mein Getränk ins Gesicht zu schütten.

»Gut. Hier ist der komplette Vorstand von John St. John Enterprises versammelt, mit Ausnahme von zwei Mitgliedern, die sich geschäftlich auf den Kaimaninseln aufhalten. Zu den John St. John Enterprises gehört unter anderem SJS Bau, das landesweit viertgrößte Unternehmen im gewerblichen Wohnungsbau. Außerdem gehört uns die Immobilienagentur Smiths.«

Meine Augen werden groß.

»Wir haben das Y und das E in Smythe ersetzt, weil das als Marke freundlicher wirkt«, erklärt er. »Wir besitzen außerdem diverse andere Unternehmen, aber SJS Bau und Smiths sind die größten und die, Grace, die Sie direkt betreffen.«

»Bitte? Inwiefern?«

»Wir planen die Fusion von MAKE A MOVE und Smiths, und es ist unser Wunsch, dass Sie die neue Firma leiten. Sie wird in Zukunft SMITHS MAKE A MOVE heißen, so können wir die beiden zugkräftigen Namen beibehalten. Mein Sohn hat während der letzten paar Monate, in denen der Deal eingefädelt wurde, verdeckt bei Ihnen gearbeitet, um sich mit den Grundlagen vertraut zu machen und um herauszufinden, auf Vorschlag von Ken hier, ob Sie die richtige Frau sind, um das Unternehmen zu führen. Und Sie haben bei ihm einen starken Eindruck hinterlassen. Er behauptet, Sie seien der beste weibliche Makler im ganzen Land.« Ich schüttle den Kopf über den »weiblichen Makler«. »Es handelt sich also um eine große Aufgabe, die wir Ihnen da übergeben, aber wir wissen, dass Sie sie bewältigen können. John wird für den organisatorischen Ablauf der Umstrukturierung verantwortlich sein, während Ken Bradbury, Ihr alter Fürsprecher, in den Vorstand wechselt. Wir zahlen Ihnen das dreifache Gehalt und bieten Ihnen zusätzlich einen Firmenanteil von fünf Prozent. Außerdem erhalten Sie eine großzügige Provision, falls jede Filiale ihre Vorgaben erfüllt. Das ist der große Wurf, Grace. Ich gratuliere.«

Ich stehe blinzelnd da und sehe in die Runde. Ich lächle nicht. Ich denke, ich werde an sie gebunden sein. Dies wird in Zukunft mein Leben sein. Und ich frage mich: Will ich das? Gracie Flowers, ist das wirklich das, was du tief in deinem Inneren willst? Eine Weile stehe ich noch sprachlos da, dann fasse ich mich.

»Tut mir leid, ich … ich kann nicht. Ich dachte, das wäre das, was ich wollte, aber … tut mir leid. Ich muss gehen.«

Ich marschiere zurück zum Aufzug und aus dem Hotel. Erst als ich mitten im Hyde Park stehe und meine Schuhe ausziehe, das feuchte Gras unter meinen Füßen spüre, mein Handy gegen einen Baum schleudere und mein Champagnerglas in einem Zug leere, dämmert es mir, dass ich gerade meinen Job gekündigt habe. Doch es macht mir nichts aus. Ich möchte mich wieder wie mit fünfzehn fühlen, vor den ganzen schlechten Sachen. Ich werfe meine Jacke unter einen Baum und krame in meiner Handtasche nach meinem alten Tagebuch. Ich will darin lesen und dieses Mädchen wiederfinden, diese Gracie Flowers. Die, die das Singen liebte. Ich möchte sie wieder kennenlernen. Ich mache es mir unter dem Baum bequem und fange an zu lesen.

Ich habe gewonnen! Das hätte ich nie gedacht. Das bedeutet, dass ich in diesem Jahr alle Preise abgeräumt habe. Jetzt beginnt die von meinen Eltern auferlegte Singpause, denn ich muss meine Abschlussprüfungen machen, und dann kommt der Hammer: der nationale Gesangswettbewerb für Jugendliche unter sechzehn. Offenbar bin ich die Favoritin. Ich will mich nicht zu sehr hineinsteigern. Das ist nicht alles im Leben. Manche Leute bekommen einen Plattenvertrag, obwohl sie eine schreckliche Stimme haben. Ich meine, was, wenn von mir verlangt wird, dass ich seichten Pop aufnehme und mich halb nackt ausziehe für das Cover? Das bin nicht ich. Ich darf mir nicht zu viele Hoffnungen machen. Es kommt, wie es kommt.

Also, Songauswahl. Ich habe mich noch nicht festgelegt. Dad und ich haben darüber im Wagen gesprochen. Ich muss ein Kirchenlied oder einen Gospelsong vortragen, und mir fällt nichts ein. Ich gebe Dad die Schuld, weil er mich zu einer Nichtgläubigen erzogen hat! Dad meinte, ich solle Amazing Grace singen, nur um Ruth zu ärgern! Wie grausam. Vielleicht wähle ich Kumbaya oder Little Donkey. Am liebsten würde ich ein Stück von Nina singen, zum Beispiel Feeling good, weil ich mich definitiv gut fühlen werde, wenn ich meine Prüfungen hinter mir habe. Egal, es ist ja noch jede Menge Zeit.

Dad und ich hatten eine sehr lustige Rückfahrt. Dad war richtig gut drauf. Er hat die Einleitung für sein Buch fertig. Er hat gesagt, dass sie mir bestimmt gefallen wird. Und dann! Und dann! O mein Gott!!! Er hat mir einen Vortrag über die Liebe gehalten. Das war ziemlich kitschig! Ich vermute, der Auslöser dafür war, dass Danny Saunders mit mir gehen will.

Offenbar werde ich wissen, dass ich dem Richtigen begegnet bin, wenn ich in seiner Gegenwart schüchtern und sonderbar werde, mich seltsam benehme und mich total blamiere. Wenn ich nur noch an ihn denken kann. Wenn ich nur noch das Bedürfnis habe, ihn zu küssen und zu berühren. Wenn er in mir den Wunsch auslöst, ein besserer Mensch zu sein. Wenn ich das Bedürfnis habe, für ihn zu singen. Wenn alle meine Lieder für ihn sind. Puh! Klingt anstrengend!

Ich glaube, da gab es noch mehr, was ich aber schon wieder vergessen habe. Doch selbst wenn ich das alles fühle, darf ich erst wenn ich vierzig bin Sex mit ihm haben. Wie dieser Mann wohl sein wird?

Ich springe wieder hoch zum Anfang der Seite. Irgendwas stimmt hier nicht. Als Mum und ich nach Dads Tod den Text für den Fünfjahresplan formulierten, gab es keine Einleitung auf seinem Computer. Das größte Problem mit dem Buch war für uns nämlich der Anfang. Kapitel 1 kam uns nicht vor wie das erste Kapitel. Wir hatten das Gefühl, als müsste noch etwas davorstehen, also schrieben wir schließlich ein Vorwort über Dad.

Ich schließe das Tagebuch und stehe auf, dann nehme ich den Bus zum Haus meiner Mutter.