75
»Mildred, was mache ich hier?« Ich tänzle über sie hinweg und betrete das Haus. »Mum? Mum!«, rufe ich. »Mum!«
»Grace, du lieber Himmel, was machst du hier?« Sie kommt mit einer Teigschüssel und einem Kochlöffel aus der Küche. Der Anblick lässt mich abrupt stehen bleiben.
»Backst du einen Kuchen?«
»Ja.«
»Einen Kuchen?«
»Warum bist du nicht auf der Arbeit?«
»Mum, hör zu, ich habe mein altes Tagebuch gelesen. Es gibt noch ein Kapitel für den Fünfjahresplan. Dad hat ein weiteres Kapitel geschrieben – einen Prolog. Das steht in meinem Tagebuch. Lies selbst.« Ich schlage die betreffende Seite auf. »›Dad war richtig gut drauf. Er hat die Einleitung für sein Buch fertig.‹ Es existiert ein Kapitel, das wir nie gelesen haben. Es war definitiv nicht auf seinem Computer. Die abgespeicherten Aufzeichnungen beginnen damit, wie man den Plan schreibt. Es muss irgendwo ein Kapitel geben, das wir übersehen haben. Ich habe es noch nicht geschafft, meinen neuen Plan zu schreiben. Und ich muss das wissen, Mum, weil ich gerade meinen Job gekündigt habe. Ich muss dieses Kapitel finden.«
»Du hast was? Aber ich dachte, man hat dir einen neuen Job angeboten.«
»Woher weißt du das?«
»John hat es mir gesagt.«
Ich erhebe die Augen zum Himmel und schüttle den Kopf. Ich hasse diese Freundschaft zwischen Posh Boys Vater und meiner Mutter.
»Mum, wo könnte das Kapitel sein? Wo soll ich suchen?«
»Grace!«, schreit sie. Die Hand, die den Kochlöffel umklammert, verkrampft sich. Ich fahre zusammen. »Das Buch ist längst fertig«, sagt sie, eine Spur leiser. »Bitte, Schatz, belass es dabei. Ich möchte etwas anderes mit dir besprechen.«
»Aber ich …«
»Grace!«
»Warum schreist du so?«
»Weil du mich nicht ausreden lässt.«
»Sorry.«
»Ich möchte mit dir über meinen Freund John reden, den Mann von SJS Bau. Wir verbringen recht viel Zeit miteinander, und wir dachten, wir sollten dir sagen, dass sich zwischen uns Gefühle entwi…«
»Nein, Mum. Nein, nein, nein! Das ist kein netter Mensch, und das hat nicht nur mit dem Umstand zu tun, dass er versucht hat, dir das Grab deines Mannes abzuluchsen. Ich …« Ich unterbreche mich kurz und schlucke. »Mum, ich sage das nur ungern, aber der Kerl ist ein Schürzenjäger. Ich weiß, dass er die Nacht mit einer anderen Frau verbracht hat.«
»Wann? Nein, sei nicht albern, Grace. Keiner von uns … wir haben besprochen …«
»Ich habe sie gesehen, Mum. In seinem Haus. Sie trug Lockenwickler und ein Honigglas.«
»Wann?«
»Heute Morgen.«
»Was?«
Ich nicke.
»Was hast du in seinem Haus verloren?«
»Ich habe bei seinem Sohn übernachtet. Bitte, keine Fragen. Ich bereue das sehr. Als ich gegangen bin, ist mir die Frau im Haus begegnet.«
Mum sieht mich eine Ewigkeit nicht an, sondern steht einfach nur da und rührt den Kuchenteig. Sie starrt in die Schüssel und rührt immer heftiger.
»Mum, sprich mit mir«, sage ich leise.
»NEIN!«, schreit sie. Sie schreit im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist ein sehr schmerzhafter Ton. »AAH!« Sie schleudert die Schüssel in meine Richtung. Sie verfehlt mich, aber ich werde mit Schokoladenteig vollgesprenkelt. »Warum musst du alles ruinieren, Grace?« Sie spuckt die Worte aus. »ALLES! Du hast meine Beziehung mit deinem Vater ruiniert. Du hast …«
»Was? Was habe ich getan?«
»Ich war achtzehn! Ich wollte kein Kind. Ich wollte mit ihm zusammen sein!«
»Aber …«
»Und dann … und dann …« Sie krümmt sich und schluchzt. »Und dann haben wir wegen dir gestritten. Wegen DIR! Wir hatten wegen dir Streit in der Nacht, bevor er starb, und ich habe mich am nächsten Morgen nicht von ihm verabschiedet. Ich habe mich nicht verabschiedet.«
Sie kauert sich auf den Boden.
»Warum?«, frage ich und mache einen Schritt von ihr weg.
»Er hat mir gesagt, dass er sich mit dir für diese Superstarsendung bewerben möchte, die im Fernsehen läuft, mit dem Song, den ihr zusammen in Rom aufgeführt habt. Und ich war dagegen, denn dann wäre es nur noch um euch zwei gegangen. Ich war eifersüchtig. Ich war auf euch beide eifersüchtig!«
Sie schluchzt wie ein verlassenes Kind, aber ich gehe nicht zu ihr. Ich gehe in Dads Arbeitszimmer und ziehe die Jalousien hoch. Der aufwirbelnde Staub bringt mich zum Husten. Ich fange in einer Zimmerecke an und arbeite mich systematisch durch, nach dem verschollenen Kapitel suchend. Ich sehe alles durch, bis ich es gefunden habe, und als ich den Raum verlasse, ist Mum verschwunden. Ich rufe nicht nach ihr. Ich gehe einfach.