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Ich habe den Eindruck, dass meine Morgenroutine im Bad anders ist als die der meisten Leute. Ich weiß das nicht sicher, aber ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so schnell duscht wie ich. Danny erzählt jedem, ich würde duschen, als ob eine bewaffnete Miliz gerade die Wohnungstür einträte. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn darauf hinzuweisen, dass die Metapher albern ist, falls es überhaupt eine ist. Ich habe meine Englischprüfung nie bestanden. Würde eine bewaffnete Miliz meine Tür eintreten, würde ich sicher nicht unter der verdammten Dusche stehen. Entweder würde ich versuchen, meinen Hintern durch das kleine Badfenster zu zwängen, um zu entkommen, oder ich würde mich mitten im Bad in einer beeindruckenden Lara-Croft-Haltung, bewaffnet mit einem Pümpel und einem Raumspray, postieren, bereit, es den Schweinen heimzuzahlen, die sich an einer meiner kostbaren Türen vergangen haben.
Ich bin Wohnungseigentümerin. Nicht, dass ich eine normale Wohnung besäße. Es ist nämlich keine. Es ist eine Maisonettewohnung. Ich habe eigenhändig sämtliche Türen geschliffen und geschmirgelt und Stunden damit verbracht, verschiedene Weißtöne zu studieren, bevor ich sie schließlich violett gestrichen habe. Ich liebe meine Türen.
Der Grund, warum ich so kurz dusche, ist der, dass ich danach möglichst viel Zeit habe, Selbstgespräche zu führen. Ich weiß nicht, was ich ohne meine morgendliche Motivationsansprache tun würde. Diese Angewohnheit habe ich mir von meinem Vater abgeschaut. Meine Mutter beginnt den Tag gern mit fünfzehn Minuten Yoga, und als ich noch klein war, kam ich ihr dabei oft in die Quere. Ich störte ihr Karma, also schloss Dad sich mit mir im Bad ein und unterhielt mich. Er setzte mich behutsam auf den Toilettendeckel, und ich sah zu ihm hoch und lauschte, während er sich rasierte und mit sich selbst redete.
»Guten Morgen, Camille, du siehst großartig aus, wenn ich das so sagen darf«, begann er und lächelte sein Spiegelbild an, ich kicherte. »Nun denn, du hübscher Teufel, was steht heute auf dem Programm? Oh, der Clydesdale Cup. Und, werden wir gewinnen? Wir werden. Gut, gut. Wir werden die Kontrolle behalten beim Cha-cha-cha, nicht wahr? Nicht wie beim letzten Mal, als wir Rosemary beinahe in den Schoß des Schiedsrichters katapultiert hätten. Obwohl ihm das sicher gefallen hätte, diesem schmutzigen kleinen Ferkel, nicht?« Dann machte er ein paar Cha-cha-cha-Schritte. »Camille, du sollst dich nicht gleichzeitig rasieren und tanzen, ich habe dich gewarnt. Das kann blutig enden. Schön, wir gewinnen also den Clydesdale Cup. Und was noch? Oh, ich weiß! Ich werde zusammen mit meiner wunderbaren Tochter Gracie zu ihrem Geburtstag einen Song singen. Was sollen wir singen?«
Da sich der Großteil dieser Badszenen abspielte, als ich zwischen drei und acht Jahren alt war, würde man nun erwarten, dass wir Lieder wie Twinkle twinkle little star oder Old MacDonald had a farm sangen. Weit gefehlt. Im Alter von vier Jahren konnte ich Wichita Lineman von Glen Campbell auswendig. Mit fünf war mein Lieblingssong No woman no cry von Bob Marley. Mein siebtes Lebensjahr war sehr produktiv, weil wir viel von Bob Dylan und den Beatles coverten, und ich konnte die meisten Hits dieser Zeit, als ich acht war.
»Uptight. Everything’s alright!«, krähte ich am Morgen meines achten Geburtstags. Ich war in einer heftigen Stevie-Wonder-Phase.
»Gracie«, sagte mein Vater und stoppte meinen Enthusiasmus mit einem Lächeln. »Die Zeit ist reif. Heute ist ein sehr wichtiger Tag, weil ich dir einen ganz besonderen Menschen vorstellen werde. Eine wirklich außergewöhnliche Person. Ein Riesentalent. Eine Frau mit einer wundervollen, tiefen, kräftigen Stimme wie deine, amazing Grace.« Er nannte mich oft so. »Eine Frau, die zu ihren Überzeugungen steht. Eine Frau, die sich unermüdlich für die Rechte von schwarzen Menschen einsetzt. Eine Göttin. Gracie Flowers, ich darf dich bekannt machen mit … der einzig wahren … Nina Simone.«
Und er ging hinüber zu dem Kassettenrekorder auf der Fensterbank und drückte auf Play. Das war das erste Mal, dass ich den Song Feeling good hörte. It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life for me. And I’m feeling good.
Ich beobachtete meinen Vater, der es liebte, wenn ich den Text dieses großartigen Songs lautlos mitartikulierte. Er mimte einen Fisch und einen Schmetterling, und ich lachte vor Vergnügen – allerdings leise in mich hinein, weil ich nichts von dem Text verpassen wollte. Ich weiß noch, dass der Song mir aus der Seele sprach.
Dieser Nina-Simone-Tag ist genau achtzehn Jahre her.
»Happy Birthday, Gracie Flowers, wie geht es dir?«, frage ich mein Spiegelbild. »Nicht so gut? Das liegt bestimmt an dem Tequila gestern Abend. Abdeckstift, wo bist du?«
Ich wühle in dem Kosmetikchaos neben dem Waschbecken. Ich liebe meine Wohnung über alles, auch wenn der Sauberkeitszustand oft zu wünschen übrig lässt. Samstags sieht’s bei mir aus wie im Saustall, denn wenn ich überhaupt zum Saubermachen komme, dann höchstens sonntags.
»So, Gracie Flowers, nun zum Geschäftlichen«, sage ich, nachdem ich meine Tequila-Spuren übertüncht habe. »Du hast heute einiges vor. Dir könnte schwummrig werden nach der Bekanntmachung, und vielleicht gibt es Champagner, also überleg dir vorher, was du sagen wirst.«
Ich trete einen halben Schritt vom Waschbecken zurück und hole tief Luft. Ich stelle mir vor, wie Ken Bradbury sagt, dass es ihm eine große Freude ist, mir den Job zu geben, dann fange ich an, meinen Text zu üben.
»O mein Gott«, stoße ich keuchend aus und schlage die Hände vors Gesicht in gespielter Überraschung. Ich muss kichern. Ich bin so mies im Schauspielern. »O. Mein. Gott.« Ich versuche es mit einer höheren Stimmlage. Schon besser, aber nicht viel. »Argh! Das gibt es nicht!«, kreische ich, was einfach nur grauenhaft ist.
Ich habe ein Problem. Es ist für jeden ziemlich offensichtlich, dass ich zur Bezirksleiterin ernannt werde. Ich bin die beste Maklerin der Firma, und Ken Bradbury selbst hat mir im Prinzip schon gesagt, dass ich die Stelle bekomme. Seine Entscheidung werde sich stark zu meinen Gunsten auswirken, hat er letztens mit einem Augenzwinkern gesagt. Das hätte nicht deutlicher sein können. Deshalb ist das Ganze eigentlich nur eine Formsache. Ken hält gern große Samstagmorgenansprachen, wenn eine Stelle in unserer Firma neu besetzt wird. Er denkt, das fördere eine gesunde Rivalität in der Belegschaft. Ich habe schon jede Menge dieser Ansprachen gehört, und es ist dabei sehr wichtig, so zu tun, als sei man überrascht. Einmal habe ich erlebt, dass ein Kandidat einfach nur nickte und sich erhob, um Ken die Hand zu schütteln. Kein Keuchen, keine Tränen, kein geistreicher Spruch. Wir hatten ein Wort für diesen Mann: Großkotz.
Bei MAKE A MOVE sind meine beste Freundin Friendly Wendy und ich die einzigen Vertreter des schönen und schwachen Geschlechts. Die übrige Belegschaft vertritt das Geschlecht, das den Daily Star liest und sich gern gegenseitig Büromaterial an den Kopf wirft. »Männer« lautet die fachliche Bezeichnung dafür, obwohl Friendly Wendy und ich den passenderen Ausdruck »Hornochsen« bevorzugen.
Der Kerl, der zu seiner Beförderung nickte, bekam letzten Endes den Spitznamen »Großmotz«. Es begann mit Sprüchen wie »Großmotz meckert« und »Großklotz kleckert«. Aber da uns irgendwann die Reime ausgingen, hatte das einen begrenzten Humorwert, und letzten Endes landeten wir wieder bei »Großkotz«, woraus dann schließlich »Großmotz« wurde – und dabei blieb es. Der Spitzname von Ken Bradbury kam auf ähnliche Weise zustande. Zuerst war er unter seinen Initialen »KB« bekannt, daraus wurde dann später das organischere »Schleimi«.
Ich darf nicht großkotzig wirken, wenn ich ernannt werde. Großmotz hat inzwischen die Firma verlassen, und es ist seine Stelle, die ich übernehmen werde. Ich möchte nicht »Großmotz 2« genannt werden oder »Lady Großmotz«. Oder »Klein Schleimi«. Falls ich überhaupt einen Spitznamen bekomme, dann soll es »Chefin« sein.
Ich räuspere mich und mache den nächsten Versuch – dieses Mal entscheide ich mich für sanft und anmutig. »Ach, du meine Güte, Ken, danke schön«, sage ich auf eine Art, die, wie ich hoffe, dezent überwältigt klingt. »Ich verspreche dir, ich werde dich nicht enttäuschen. Ich liebe diese Firma. Ich habe hier vor über fünf Jahren ganz klein angefangen als Samstagsaushilfe für den Telefondienst. Und heute erhalte ich diese unglaubliche Chance. Was für eine Ehre! Ich danke dir, Ken, für deine Unterstützung und Führung. Ich werde dafür sorgen, dass MAKE A MOVE die Agentur in London sein wird, an die die Menschen sich als Erstes wenden, wenn sie eine Immobilie erwerben möchten.« Das wird Ken sicher gefallen. »Und euch werde ich Feuer unterm Hintern machen, Jungs«, füge ich mit einem finsteren Blick zu den Herren der Schöpfung hinzu.
Nachdem ich meine kleine Rede beendet habe, pocht mein Herz laut. Ich betrachte mein Spiegelbild. Ich sehe aus wie die alte Gracie Flowers: ein eins zweiundfünfzig kleiner Zwerg mit langen blonden Haaren. Ich bin immer noch pummliger, als ich sein möchte, aber ich fühle mich fantastisch.
Ich habe so hart auf diesen Tag hingearbeitet, und nun ist er da. Ich habe es geschafft. Ich schwebe wie auf Wolken zu meinem Fünfjahresplan hinüber, der laminiert und eingerahmt im Bad an der Wand hängt. Ich drücke einen Kuss darauf und gehe weiter zur Fensterbank, wo ich kurz beim Anblick meines Kaktus zusammenzucke. Ich bin mir sicher, dass mir mal irgendwer gesagt hat, Kakteen seien nicht kaputtzubekommen. Derjenige muss wohl etwas falsch verstanden haben. Ich starte den CD-Player und lausche Feeling good von Nina Simone.