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Meinen allerschönsten Tag hatte ich in Rom. Es war märchenhaft. Und zwar so märchenhaft, dass ich mich manchmal frage, ob ich es wirklich erlebt habe. Es kommt mir vor, als wäre die junge Frau in meiner Erinnerung eine völlig andere. Ich war fünfzehn, und ich war mit meinen Eltern nach Rom gereist, weil dort die Weltmeisterschaft in den Standardtänzen stattfand. Normalerweise begleitete ich meine Eltern nicht zu Turnieren, aber dieses Mal war es anders. Ich wurde sogar eigens dafür vom Unterricht befreit, weil man mich gefragt hatte, ob ich in Rom singen könnte. Die Veranstalter wünschten sich, dass ich vor der Preisverleihung sang. Also sang ich. Und zwar Mr. Bojangles. Aber ich war nicht allein auf der Bühne – mein Vater begleitete mich.
Ich versuche, nicht zu oft auf die Zeit zurückzublicken, als Dad noch lebte, aber manchmal kann ich nicht anders. Es kommt mir oft so vor, als wäre das Leben in Farbe gewesen, als er noch unter uns war, und nach seinem Tod schwarz-weiß geworden. Dad ließ mich den Song fast allein singen, aber er schlüpfte in die Rolle von Mr. Bojangles. Mr. Bojangles zog früher mit seinem Hund herum und tanzte für Drinks und Trinkgeld. Mein Vater sang nur bei manchen Parts mit und tanzte zu anderen. Zu Hause hatten wir Mr. Bojangles oft zum Spaß gesungen, ich war also nicht nervös. Ich freute mich richtig darauf, und Mum nähte mir extra ein Kleid. Gott, es war wunderschön, Sophia Loren oder Marilyn Monroe hätten es auch angezogen. Es war aus blauem Satin und hatte ein Miederoberteil und einen Rock, der von den Hüften bis zu den Knien eng anlag, sodass ich trippeln musste wie beim Sackhüpfen. Es sah fantastisch aus.
Nach unserer Darbietung brach Applaus aus, und wir verbeugten uns vor dem Publikum, es hörte jedoch nicht auf zu klatschen. Im Saal waren über zweitausend Zuschauer, und sie hörten einfach nicht auf zu klatschen. Ich trippelte von der Bühne, aber der Applaus hielt an, also musste ich wieder hinaus und mich wieder verbeugen. Die Veranstalter sagten hinterher, dass unser Auftritt fünf Minuten gedauert habe und der Applaus sieben. Das war allerdings noch nicht das Beste. Das Beste kam erst noch.
Unser Hotel lag an einer piazza, umringt von Altbaufassaden, und an jenem Abend spielte dort eine Band, ein Gitarrist, ein Bassist und ein Akkordeonspieler. Meine Eltern und ich saßen nach der Preisverleihung in einem Café auf der piazza und lauschten der Musik. Wir tranken Prosecco und tanzten auf unseren Stühlen. Plötzlich lief mein Vater nach vorne zu der Band und erklärte den Musikern, dass ich Sängerin sei, woraufhin sie mich einluden mitzusingen. Ich sang stundenlang zu ihrer Musik, und sie sammelten an jenem Abend viel Geld ein, das sie mit mir teilen wollten. Ich wollte jedoch nichts davon haben. Ich war einfach nur glücklich, etwas zu tun, das ich liebte und woran andere Menschen auch Freude hatten. Jeder trug ein Lächeln im Gesicht. Immer wenn ich an diesen Tag zurückdenke, sehe ich genau das vor mir: lächelnde Gesichter. Ich war so begeistert, dass ich sicher war, Sängerin werden zu wollen. Als ich in jener Nacht im Bett lag, träumte ich mit offenen Augen davon, dass ich, falls ich den Gesangswettbewerb und den Vertrag mit Sony nicht gewinnen sollte, nach Rom zurückkehren würde, um für den Rest meines Lebens mit dieser Band auf diesem Platz zu singen.
Ricardo lächelt mich an. Das tut er schon den ganzen Abend. Die Erinnerungen an Rom sind so wunderbar, dass es mir gelingt, sein Lächeln zu erwidern, obwohl wir ausgerechnet an dem Tisch sitzen, den Danny und ich früher »unseren Tisch« nannten. Danny und ich waren oft im Paradise, als ich noch zu Hause bei meiner Mutter wohnte. Ungefähr einmal in der Woche ging er mit mir dort essen. Ich mochte diesen Tisch, weil er in der Nähe der Lichterketten steht, Danny, weil er von hier aus leicht den Barkeeper auf sich aufmerksam machen konnte, wenn er noch ein Pint wollte. Wir beide mochten ihn, weil der Platz abseits vom Trubel war und sich zum Knutschen eignete.
»In Italia wir haben eine Sprichwort. Man soll nicht machen swei Dinge auf einmal, oder man hat cacca an die Schuhe«, bemerkte Ricardo, als ich mich zu ihm setzte.
Was immer das auch bedeuten mag, entzieht sich meiner Logik, aber so lautete die Begründung für seine Weigerung, über das Geschäftliche zu reden, bevor wir mit dem Essen fertig sind.
Als Folge davon weiß Ricardo nun weitaus mehr über mich als jeder andere meiner Kunden. Ich habe ihm sogar von Dannys brutaler Trennung erzählt. Ein elementarer Fehler, denn seit Ricardo diese Information besitzt, berührt er mich jedes Mal am Bein oder am Arm, wenn er mit mir spricht.
»Dann sind Sie also aus London?«, fragt er und streichelt meine Schulter.
»Ja, ich bin sogar hier in der Nähe aufgewachsen.«
»Und Ihre famiglia wohnt immer noch ’ier?«
»Äh … ja. Aber nur meine Mutter.«
»Ah, ist sie eine schöne Frau so wie Sie?«
Ein Perverser. Aber er hat sein Besteck weggelegt, also kann ich jetzt wieder Immobilienmaklerin sein.
»Sie ist viel schöner als ich«, sage ich rasch und winde mich sanft aus seiner Umarmung, um meinen DIN-A4-Block herauszuholen und zum Geschäftlichen zu kommen. »Okay, darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, damit ich weiß, was genau Sie suchen?«
»Grace, ich brauche eine ’aus und eine appartamento. Alle beide sollen sein schön. Ich ’abe keine Limit. Das ist alles, was Sie müssen wissen.«
Ich kneife rasch ein Auge zu, als wäre mir ein Insekt hineingeflogen. Noch nie, niemals, zu keiner Zeit habe ich den Satz »Ich habe kein Limit« zu hören bekommen. Nicht ein einziges Mal. Was antwortet man darauf?
»Das ist schön«, ist alles, was mir einfällt.
Er lächelt und nickt. Das ist beispiellos. Das ist viel, viel, viel, viel, viel Geld.
»Also, erzählen Sie mir mehr von sich?«, sagt er und streichelt dieses Mal mein Knie.
»Äh …«, beginne ich. Ich möchte ihm nichts erzählen, abgesehen von »Bitte, nehmen Sie Ihre aufdringlichen Hände von mir weg«, aber die Worte »kein Limit« und der Gedanke an die Provision und an Posh Boys Gesicht, wenn er erfährt, dass ich einen Traumkunden an Land gezogen habe, bewirken, dass ich stattdessen lächle und sage: »Okay, was möchten Sie gern wissen?«