4

»Hattest du das nicht bei meiner Huren-und-Zuhälter-Kostümparty an?«, sagt Friendly Wendy, nachdem sie mir überschwänglich zum Geburtstag gratuliert hat.

Ich merke, dass sie überrascht ist, weil ihr Krümel des Bacon-Sandwiches, das sie gerade kaut, aus dem Mund fallen.

»Oh, lass mich mal abbeißen«, sage ich und starre gierig auf ihr Sandwich.

Sie gibt es mir, und ich beiße hinein. Köstlich. Ich liebe Bacon-Sandwiches. Ich werde nie dünn sein.

»Das ist also der neue Chefinnen-Look?«

»Wohl kaum. Ich wollte eigentlich mein violettes Blümchenkleid anziehen, aber mein Vater hat ein ungutes Gefühl, was Violett betrifft.«

»Schon wieder?«

»Genau.«

»Aber dein Vater hat früher Violett geliebt.«

»Sind das eigentlich dieselben Klamotten, die du gestern Abend anhattest?«, frage ich, während ich Wendys Outfit mustere. Ich bin mir sicher, dass sie am Abend zuvor im Pub dasselbe getragen hat. Wendy macht einen schlechten Versuch, verlegen zu wirken, aber ich will davon nichts wissen.

»Tatsächlich, da ist ja noch der Nacho-Fleck auf deinem Oberteil. Das wird sicher ein Albtraum, den wieder rauszubekommen«, murmle ich und kratze an dem verkrusteten Soßenfleck.

»Oh … Grace, das würde ich an deiner Stelle nicht tun.«

»Iiih! Wendy!«, kreische ich und mache sofort einen Satz rückwärts. »Und, wer war der Glückliche?«

»Freddies Kumpel Martin.«

»Du meinst Freddie, den Mann, den du mehr als alle anderen begehrst? Du hast mit seinem Kumpel geschlafen?«

»Denkst du, das schmälert meine Chancen bei Freddie?«

»Das kann ich nicht sicher sagen, ich halte es allerdings für klug, dass du aufhörst, mit seinen Freunden ins Bett zu gehen.«

»Hm, aber ich habe das Gefühl, dass ich ihm so näherkomme.«

Wendy fällt es sehr schwer, mit jemandem nicht ins Bett zu gehen, daher ihr Spitzname Friendly Wendy.

»Mir ist ein bisschen schlecht«, sage ich, während ich den Blick durch das Büro schweifen lasse.

Die Mitarbeiter aus allen fünf MAKE-A-MOVE-Geschäftsstellen sind da. Die Jungs werden meine Peitsche zu spüren bekommen, sobald ich in meine neue Rolle als Chefin geschlüpft bin.

In Wahrheit mag ich dieses nervöse Kribbeln im Bauch, das einen die Luft anhalten und die Pobacken zusammenkneifen lässt, weil der ganze Körper vor Aufregung gluckert. Ist das normal? Wahrscheinlich nicht.

Früher hatte ich dieses Kribbeln viel öfter als heute. Als ich jünger war, bin ich bei Gesangswettbewerben aufgetreten. Nicht weil meine Eltern mich dazu gedrängt haben, es war ganz allein meine Idee. Na ja, darauf gebracht hat mich ein Mädchen namens Ruth Roberts, mit dem ich die Grundschule besuchte. Die hatte ehrgeizige Eltern! Sie waren so ehrgeizig, dass Ruth mit neun ein Demo von Walking on air aufnahm und an die Plattenfirmen verschickte.

Ruth Roberts war im Alter von fünf bis acht manchmal meine beste Freundin. Ich sage manchmal, weil Ruth zu den Mädchen zählte, die an dem einen Tag noch Arm in Arm mit dir herumlaufen und dich als ihre beste Freundin bezeichnen, um dich am nächsten Tag wie Luft zu behandeln und den Leuten in der Klasse zu erzählen, du hättest Läuse. Ruth Roberts nahm an Gesangswettbewerben teil, und weil ich gern sang, bat ich meine Eltern, es auch einmal versuchen zu dürfen.

Meinen ersten Auftritt hatte ich mit acht, und ich habe ihn genossen. Mein Vater fuhr mit mir nach Milton Keynes, und im Wagen sangen wir gemeinsam mit Nina Simone. Wir machten an einer Little-Chef-Raststätte Halt und aßen getoastete Rosinenbrötchen, von denen die Butter tropfte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufregend das war – meine Mutter duldet weder Butter noch Hefegebäck im Haus.

Ich sang auf der Bühne Castle on a cloud vor vier Juroren, zahlreichen Eltern und hyperaktiven Geschwistern – und ich gewann. Damit hatte ich nicht gerechnet. Erst als Ruth Roberts mich auf ihrem Weg zur Bühne, wo sie die Rosette für den zweiten Platz entgegennehmen sollte, böse anstarrte, spürte ich zum ersten Mal dieses Kribbeln im Bauch. Ich hatte zweiunddreißig andere Mädchen geschlagen, darunter vier, die auch Castle on a cloud vorgetragen hatten. Auf dem Heimweg hielten Dad und ich an einem Burger King, um zu feiern. Wir schworen uns, meiner Mutter nichts davon zu sagen, und diskutierten darüber, mit welchem Song ich beim nächsten Mal antreten sollte. Das war einer meiner besten Tage. Nicht der beste, aber einer von denen, die ganz weit oben stehen. Das einzige Problem an diesem Tag war, dass ich Ruth Roberts geschlagen hatte – sie redete danach nie wieder ein Wort mit mir.

»Da ist Schleimi.«

Wendy stupst mich an, und ich verstecke schnell das Bacon-Sandwich in meiner Schreibtischschublade. Ach du meine Güte, KEN. Ach du meine Güte, KEN, wiederhole ich stumm im Geiste. Ich darf bloß, bloß, bloß nicht »Schleimi« sagen bei meiner Dankesrede.

Ken Bradbury betritt gut gelaunt das Büro. Er ist ein kleiner Mann mit einem breiten, sympathisch-frechen Gesicht und einer Stoppelfrisur. Die hat er, um sein lichtes Haar zu kaschieren. Er kleidet sich ähnlich wie Jonathan Ross: teure Anzüge, die immer einen Tick zu eng wirken, kombiniert mit einer grellbunten Krawatte. Heute ist es eine violette. Gute Wahl, Ken. Hinter ihm kommt ein Mann herein, der mir bekannt vorkommt. Das muss ein Neuer sein aus einer anderen Filiale. Er ist groß und sieht sehr gut aus. Wendy hat ihn offensichtlich auch entdeckt, weil ihr Ellenbogen aufgeregt in meine Rippen sticht. Ausnahmsweise einmal bin ich mit ihr männertechnisch einer Meinung. Der Kerl ist wirklich umwerfend. Groß, Haken dahinter. Dunkelhaarig, Haken dahinter. Schön, Haken dahinter. Volle Punktzahl. Und das ist, wie jede Frau weiß, sehr selten.

»Ich glaube, der könnte eine Sonderbehandlung von der Chefin vertragen«, raunt Wendy mir zu.

Ich lächle.

»Da seid ihr ja alle. Mein Team. Meine Leute. Mein Imperium«, beginnt Ken. Ich liebe Ken, aber er hält sich manchmal für Julius Cäsar.

»Ich rieche euren Hunger, und er riecht großartig«, fährt er fort und holt dann tief Luft. Seltsam, und ich dachte, wir röchen verkatert.

»Also dann, heute ist ein großer Tag. Die Bezirksleitung von London ist, wie wir alle wissen, ein ganz dicker Brocken. Der Bezirksleiter verdient an jeder Vermittlungsprovision, die die Firma ausbezahlt, mit. Der Bezirksleiter stellt ein und kündigt und schwingt die Peitsche. Er motiviert, er führt, er inspiriert.«

Meine Knie fangen an zu zittern.

»Nun, die heutige Bekanntmachung ist an Spannung kaum zu überbieten. Die Wahl fiel auf einen der Besten, wenn nicht sogar auf den Besten der Branche.«

Mein Magen schlägt ein Rad.

»Ich möchte euch John St. John Smythe vorstellen, euren neuen Bezirksleiter!«, verkündet Schleimi stolz, und der große, dunkelhaarige, schöne Mann tritt vor.

Du liebe Güte, ich falle gleich in Ohnmacht. Mein Atem verfängt sich in meiner Kehle, und plötzlich fühlt es sich an, als würde sämtliche Luft aus meinem Körper entweichen. Mir wird ganz schwindlig. Ich fühle mich wie eine Hofdame, die an ihrem Korsett zu ersticken droht. Ich strecke die Hand nach Wendy aus, aber sie starrt mit offenem Mund nach vorn und rechnet nicht damit, dass ich falle. Mit einem Seufzer sinke ich gegen sie, wodurch sie den Kollegen zu ihrer Rechten anrempelt, der daraufhin seinen Starbucks-Kaffeebecher fallen lässt. Wendy und ich landen zusammen in der Kaffeepfütze vor seinen Füßen. Alle drehen sich um und beobachten, wie der Kollege uns beim Aufstehen hilft.

»Sorry, Ken«, ruft Wendy. »Das war ich. Ich habe das Gleichgewicht verloren.« Sie legt fest den Arm um mich, damit ich nicht wieder umfalle.

»Alles okay?«, flüstert sie mir ins Ohr, aber ich kann nicht antworten.

Ich starre den Bastard an, der meinen Job bekommen und meinen Plan ruiniert hat, der alles ruiniert hat. Und er erwidert meinen Blick. Und dann lächelt er, und ich erkenne ihn wieder. Das ist der Mann, der vor Jahren an unserer Haustür klingelte und mir sagte, dass unser Haus wunderschön sei.

Ich könnte heulen, dabei heule ich nie, niemals.