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Nach dem Tod meines Vaters haben meine Mutter und ich wie zwei echte Schrullen gelebt. Mum fing an, viel Zeit im Bett zu verbringen, während ich in Dads Arbeitszimmer hockte und jede einzelne seiner Schallplatten abspielte. Die Zeit wurde nur unterbochen, wenn Danny vorbeikam, ich einkaufen oder auf den Friedhof ging oder Mum mir aus heiterem Himmel vorschlug, mich für ENGLAND SUCHT DEN SUPERSTAR zu bewerben. Zuerst war es, als würden wir darauf warten, dass Dad zurückkehrte, dass uns ein Gesandter aus dem Totenreich erschien und sagte »Tut uns schrecklich leid, wir wollten Camille eigentlich gar nicht holen. Er ist schon auf dem Rückweg. Er wird zum Abendessen zu Hause sein.« Noch eine Ewigkeit danach flatterte Post für ihn ins Haus, oder das Telefon klingelte und eine Stimme verlangte nach ihm, und es gab immer einen Augenblick, einen fabelhaften, flüchtigen Augenblick, in dem er noch präsent und das Leben normal zu sein schien. »Moment, ich hole ihn an den Apparat«, sagte ich dann, legte den Hörer zur Seite und wollte gerade »Dad!« rufen, bevor es mir wieder einfiel. Es war, als würde man eine hässliche Wahrheit erfahren, die man immer wieder neu erlernen musste.

Das Leben um uns herum ging weiter, aber Mum und ich waren in der Vorhölle gefangen, unfähig weiterzukommen. Dann rief eines Tages ein Mann namens Sidney an, der für einen Verlag arbeitete und fragte, ob wir wüssten, wie weit Dad mit seinem Fünfjahresplan-Manuskript gekommen sei, bevor er starb. Wir hatten Dads Buch und seine Absicht, es zu veröffentlichen, ganz vergessen. Ich fuhr seinen Computer hoch und fand viele Textdokumente. Er hatte die Dateien in nummerierten Ordnern abgespeichert, jeder Ordner enthielt Notizen, die ein Kapitel ergaben. Ich zeigte Mum die Texte, und wir waren uns einig, dass wir sie sortieren und zu einem Buch zusammenfassen sollten, um zu sehen, ob der Verlag dann immer noch Interesse hatte. Also machten wir uns an die Arbeit. Jeden Nachmittag setzten wir uns in Dads abgedunkeltes Arbeitszimmer, sichteten seine Notizen und versuchten, daraus einen Text zu formulieren. Ich stand dabei wie unter Hypnose. Jeden Tag erfuhr ich mehr über die Vorteile eines Fünfjahresplans, weshalb es wahrscheinlich kein Wunder ist, dass ich mir schließlich meinen eigenen machte und daran glaubte wie an das Evangelium. Ich dachte, es funktionierte auch bei Mum, weil sie öfter aus dem Haus ging. Sie ließ zwar nicht die Puppen tanzen, sondern besuchte nur den Friseur und das Fitnesscenter, aber ein paar Monate lang machte sie einen gefestigteren Eindruck.

Dann erhielten wir wieder einen Anruf. Eine Frau mit schottischem Akzent bat mich, meiner Mutter auszurichten, ihr Vater sei gestorben. War meine Mutter zuvor schon in sich zurückgezogen, war sie danach wie gelähmt. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass sie das Haus seit diesem Anruf niemals wieder verlassen hat.

Heute jedoch hat sie es verlassen, um zu mir zu kommen. Das ist doch etwas, oder nicht? Das ist wirklich mal etwas ganz anderes.

Ich bin immer noch bei Mum. Ich bin schon den ganzen Tag hier. Jetzt ist es spät, und ich sitze bei eingeschaltetem Licht in meinem Jugendbett. Ich habe damals bei meinem Auszug ganz schön versagt. Ich sollte Mum nicht die Schuld an dem Chaos im Haus geben, nachdem ich selbst ein Zimmer voller Krempel hinterlassen habe. Schon komisch, ich weiß noch, dass ich mich nach dem Umzug in die neue Wohnung frei von allem Ballast fühlte, dabei habe ich ihn in Wahrheit nur auf meine arme Mutter abgeladen. Unter dem Bett lag sogar noch Dads altes Ramones-T-Shirt. Ich habe es gerade an.

An der Wand hängt ein eingerissenes Poster von Nina Simone, der Schreibtisch, an dem ich saß, als ich Dad zum letzten Mal sah, steht immer noch an seinem alten Platz, und im Schrank hängen Mums alte Tanzkleider. Ich ziehe die obere Schublade meines Nachttisches auf. Sie ist voll mit billigen Schminkutensilien. Ich öffne die Schublade darunter – aller möglicher Plunder und richtig hässlicher Modeschmuck. Ich ziehe die dritte auf … noch mehr Schund. Trotzdem taste ich diese Schublade gründlich ab, bis meine Hände finden, wonach ich gesucht habe. Ich drücke auf den weichen Einband meines alten Tagebuchs und frage mich, ob ich es herausnehmen oder die Vergangenheit in der unteren Schublade ruhen lassen soll. Da Neugier bekanntlich Vorsicht schlägt, habe ich es schon in der Hand. Es ist ein sehr hässliches Tagebuch. Ich frage mich, warum ich es damals gekauft habe. Der Einband ist orangefarben mit giftgrünen Blumen und flauschig. Kein feiner Teddyplüsch, sondern eher kratzig wie die billigen Stofftiere, die man auf dem Jahrmarkt gewinnen kann.

Ich schlage das Tagebuch auf. Ich habe es nur ein paar Wochen lang geführt, und dann ist Dad gestorben, also ließ ich das Schreiben wieder sein.

MEIN ERSTES TAGEBUCH!!! ICH WERDE DARIN DOKUMENTIEREN, WIE ICH VON DER SCHULE ABGEHE (ENDLICH! GOTT SEI DANK!!) UND EINEN LUKRATIVEN PLATTENVERTRAG VON SONY BEKOMME.

Ich starre auf die Großbuchstaben. Es kommt mir vor, als würde mich mein optimistisches jüngeres Ich anbrüllen. Ich weiß nicht, ob ich imstande bin weiterzulesen. Ich weiß nicht, ob ich mehr von dieser Zuversicht ertragen kann. Aber natürlich lese ich weiter. Ich blättere die Seite um und tauche sofort in den Text ein.

ICH HABE EINE EINLADUNG FÜR DEN BALL!!! Habe aber ein schlechtes Gewissen wegen Wendy, weil wir eigentlich zusammen gehen wollten, als Blues Brothers verkleidet. Das ist der Lieblingsfilm von ihrem Vater, und er hat gesagt, er besorgt uns die Kostüme. O Gott, er wird bestimmt auch enttäuscht sein. Was soll’s, zurück zum Wesentlichen. Danny Saunders hat mich gefragt. Er ist echt heiß!!! UND er hatte ein Ramones-T-Shirt an. Das habe ich Dad gesagt, und er meinte: Guter Mann, guter Mann. Dann hielt er einen Monolog darüber, dass er vorher mit Danny reden müsse, um ein paar Dinge klarzustellen. 1) Dass ich keinen Sex haben darf, bevor ich vierzig bin!!!

2) Dass Dad vielleicht ein Tänzer ist, aber nichtsdestotrotz in der Lage, ein sechzehnjähriges Bürschchen, das seiner Tochter etwas antut, krankenhausreif zu prügeln. Danny sollte Dad besser NIE kennenlernen.

Trotzdem war es lustig. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Dad hat zurzeit richtig gute Laune, weil ITV mit ihm über eine Tanzshow fürs Fernsehen verhandeln möchte. S.S.S. aufregend!!! Mum hat – Achtung! – KÄSEMAKKARONI gekocht!!! Bestimmt kriegt sie ihre Tage. Super. Dad flüsterte mir zu »Es ist wieder so weit«, als wir uns an den Tisch setzten, und ich musste lachen, und Mum bekam einen Wutanfall, weshalb ich annehme, dass es stimmt.

Habe den ganzen Abend für die blöde Geografieprüfung gelernt. Buchstäblich fast die ganze Nacht durch. Ich HASSE Geografie, warum habe ich es bloß nicht abgewählt? Ach ja, damit ich immer weiß, wo ich bin, wenn ich mit meinem Nr.-1-Album auf Tournee gehe! Muss mir das vor Augen halten.

Gute Nacht. Bin geschafft.

Ich kann nicht aufhören. Ich kann das Tagebuch mit all den Großbuchstaben und Ausrufezeichen jetzt nicht zuklappen.

Okay. Seltsamer Tag. Hatte eine kleine Auszeit mit Danny Saunders. Und JA, er ist heiß. Ultimativ »beim-Militärmanöver-in-glühender-Hitze-mit-einem-schweren-Rucksack-einen-Berg-hochrennen«-heiß, ABER er ist auch ziemlich still. Wirklich sehr, sehr still. Im Prinzip stumm. Also musste ich die ganze Zeit reden, um das auszugleichen. Ich habe einen Haufen Blödsinn von mir gegeben. Ich habe ihm sogar erzählt, was Dad gesagt hat!!! Ich darf nie wieder mit einem heißen Typen reden. Aber ich war nervös, und er saß nur da mit seiner Schokomilch, also musste ich etwas sagen, und schon war es heraus. Ich hoffe, er sagt auch bald mal was. Vielleicht reden Jungs einfach weniger als Mädchen, obwohl das nicht stimmen kann, weil mein Dad nie die Klappe hält. Wirklich NIEMALS!!! Trotzdem, wenigstens ist er heiß. Danny Saunders, meine ich, nicht Dad. Und ich will ihn küssen. MEIN ERSTER RICHTIGER KUSS!!! (Das mit Julian letztes Jahr in der Jugendclubdisko zählt nicht, weil das ÄTZEND war!!!) Der erste Kuss ist für Danny »still-aber-tödlich«-Saunders reserviert.

Ich klappe das Tagebuch zu. Das genügt für den Moment. Es ist unmöglich, den Namen »Danny Saunders« zu lesen, ohne an einen ungünstigen Umstand zu denken. Ich werde nicht abtreiben. Ich werde dieses Kind bekommen. Danny ist der Vater. Ich muss es ihm gleich morgen sagen.