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Ich hatte nicht immer den Wunsch, Immobilienmaklerin zu werden. Wie die meisten Mädchen wollte ich Sängerin werden. Aber wie die meisten Mädchen wurde ich erwachsen.

Allerdings erinnere ich mich noch deutlich an den Moment, in dem mein Interesse für diesen Beruf geweckt wurde. Ich war zwanzig, und ich war mit meiner Mutter allein zu Hause, als es an der Tür schellte.

»Grace, ich habe mein Gesicht nicht an, gehst du bitte?«, rief meine Mutter von oben. Dies waren genau ihre Worte, das weiß ich noch, weil ich damals dachte, dass sie, auch wenn sie ihr Gesicht anhatte, Ausreden erfand, um nicht an die Tür gehen zu müssen. Meine Mutter hasste es, an die Tür zu gehen. Sie war nicht faul, aber sie hatte eine Abneigung, andere Menschen zu sehen oder von anderen Menschen gesehen zu werden, ich weiß nicht genau, was von beidem.

Ich ging also an die Tür, und vor mir stand ein großer junger Mann im Anzug. Ich habe sein Gesicht nicht mehr richtig in Erinnerung, aber ich weiß noch, dass er attraktiv war und dass ich es bedauerte, in meinen Leggings und Dads altem Ramones-T-Shirt aufgemacht zu haben. Damals war ich schon mit Danny zusammen, aber ich war erst zwanzig und immer noch ziemlich hormongesteuert, und der Besucher vor der Tür steckte diese Hormone in einen Küchenmixer und schaltete auf die höchste Stufe.

»Hallo. Verzeihen Sie die Störung.« Er klang vornehm wie ein Konservativer. »Ich konnte nicht umhin, bei Ihnen zu klingeln. Dieses Haus ist einfach wunderschön.«

Ich lächelte den fremden, attraktiven, vornehmen Mann an. Ich teilte seine Ansicht. Mein Elternhaus war in der Tat wunderschön, obwohl die Leute normalerweise nicht klingelten, um uns das persönlich mitzuteilen.

Wir wohnten ganz in der Nähe der belebten Chamberlayne Road, aber unser Haus kommt einem wie eine verschlafene Idylle fernab des Trubels vor. Das liegt daran, dass es nicht wie die anderen Häuser direkt an der Straße steht, sondern sich dahinterquetscht, versteckt hinter Bäumen. Es gibt eine kleine Zufahrt, die die meisten Leute übersehen. Unser Haus ist zweistöckig, hat eine überdachte Veranda und einen kleinen gotischen Eckturm. Es ist aus grauem Naturstein und unterscheidet sich somit sehr von den anderen Häusern in der Nachbarschaft – alles dreistöckige Altbauten aus rotem Backstein.

Der vornehme Fremde stand auf der Veranda und betrachtete die gemeißelten Steinbögen. »Wunderschön«, sagte er wieder.

Ich deutete auf den Boden unter seinen Füßen.

»Was ist das?«, fragte er und trat einen Schritt zur Seite.

»Das ist eine Grabplatte«, erklärte ich ihm. »Der Mann, der das Haus baute, hat dort seine Frau begraben, damit sie immer bei ihm ist.«

»Eine Liebesgeschichte«, murmelte der Mann, während er auf die Platte starrte.

»Hm. Obwohl, nach christlichem Verständnis müsste ihre Seele in der Hölle schmoren, weil sie nicht auf geweihtem Boden begraben wurde.«

Er hob plötzlich den Kopf. »Spukt es in diesem Haus?«

Ich zögerte einen Moment, unsicher, was ich sagen sollte. Hätte er meine Mutter gefragt, hätte sie zweifellos mit Ja geantwortet, aber ganz ehrlich, ich habe in meinem Elternhaus nie jenseitige Aktivitäten beobachtet. Und glaubt mir, ich habe definitiv nach Gespenstern Ausschau gehalten.

»Nicht wirklich«, sagte ich.

Er lachte. »Gibt es einen Garten?«

»Ja.«

»Ist er genauso hübsch?«

»Ja. Es gibt einen Feigenbaum, einen Birnbaum und eine Weißbirke. Die Vögel lieben den Garten. Von mittags bis abends scheint dort die Sonne. Man kann also den ganzen Tag draußen sitzen. Wir haben eine Hollywoodschaukel unter …« Ich unterbrach mich. Ich hörte mich an wie ein Trottel, der von Bäumen schwärmte.

»Wow, das klingt bezaubernd. Wissen Sie, ich bin Immobilienmakler. Sie brauchen den Knoblauch nicht herauszuholen«, sagte er, was ich damals wohl für irgendeinen vornehmen Ausdruck hielt. »Falls Sie jemals beabsichtigen, dieses Haus zu verkaufen …«

Ich fiel ihm ins Wort. »Es ist unverkäuflich. Tut mir leid. Es gehörte früher meinen Großeltern, und die haben es meinem Vater vermacht. Es wird immer in Familienbesitz bleiben.«

»Oh, ich verstehe, nun gut«, sagte er, dann drehte er sich um und verschwand.

Durch den Besuch dieses vornehmen Fremden entstand die Idee in meinem Kopf. Zu jener Zeit machte ich nicht gerade viel aus meinem Leben – man könnte sagen, ich hatte noch gar nicht angefangen zu leben –, aber das sollte sich grundlegend ändern, weil ich kurz darauf sämtliche Immobilienagenturen auf der Chamberlayne Road abklapperte, um mich nach einer freien Stelle zu erkundigen. Alle, mit denen ich sprach, zeigten sich unbeeindruckt wegen meiner fehlenden Berufserfahrung, außer Schleimi, der meinte, er brauche noch für samstags ein Mädchen für alles. Zu den Hauptaufgaben zählten Telefondienst, Teekochen und Brötchenholen. Er gab mir einen Monat zur Probe.

Ich war noch in der Probezeit, als ich meinen Fünfjahresplan entwarf. Wie ihr euch denken könnt, bin ich im Laufe der Jahre immer wieder damit aufgezogen worden. Viele nennen mich »besessen«, aber ich ziehe »ehrgeizig« vor.

Ich habe meinen Plan an meinem einundzwanzigsten Geburtstag aufgeschrieben, auf den Tag genau vor fünf Jahren. Es war damals herrliches Wetter, und den Himmel trübte keine einzige Wolke. Ich saß hinten in der Ecke unseres geliebten Gartens auf der Hollywoodschaukel mit meinem Lieblingsbuch, Der Fünfjahresplan: Machen Sie das Beste aus Ihrem Leben, und einem Notizheft. Ich lauschte dem Rauschen der Weißbirke, während ich zweieinhalb Stunden lang sorgfältig überlegte und aufschrieb. Oh, und ich summte die Melodie von Mr. Bojangles. An irgendeinem Punkt ließ ich mich so hinreißen, dass meine Mutter aus dem Fenster brüllte, ich solle aufhören, diesen verdammten Song zu singen. Das weiß ich noch.

Die Worte, die ich an jenem Tag notierte, hängen nun an der Wand in meinem Bad. Sie lauten folgendermaßen:

Gracie Flowers – Mein Fünfjahresplan

In einem Jahr von heute an werde ich:
eine Vollzeitstelle haben bei MAKE A MOVE
2500 Pfund gespart haben

In zwei Jahren von heute an werde ich:
zur Immobilienmaklerin aufgestiegen sein
5000 Pfund gespart haben

In drei Jahren von heute an werde ich:
die beste Maklerin in der Agentur sein
10 000 Pfund gespart haben

In vier Jahren von heute an werde ich:
die beste Maklerin aller MAKE-A-MOVE-Filialen sein
mir ein Eigenheim kaufen (selbst wenn es ein
Schuhkarton ohne Deckel ist)

In fünf Jahren von heute an werde ich:
zur Londoner Bezirksleiterin aufgestiegen sein
in meinem Eigenheim wohnen

Und heute, am allerletzten Tag dieser fünf Jahre, habe ich das alles erreicht. And I’m feeling good singe ich mit Nina. Dann höre ich mein Handy klingeln, und augenblicklich fühle ich mich nicht mehr so gut. Es ist meine Mutter. Das weiß ich, weil ich ihr als Klingelton Wagners Ritt der Walküren zugewiesen habe. Es ist der perfekte Vorspann, welche ominöse Ankündigung auch immer gleich von ihr kommen wird.

»Morgen«, sage ich in mein Handy.

»Grace. Grundgütiger, Grace, stell das bitte ab.«

Ich stoppe die Musik. Früher liebte meine Mutter Nina Simone. Sie liebte sie bis zu dem Punkt, an dem ich auch begann, Ninas Musik zu lieben, dann wandte sie sich radikal von ihr ab. Sie behauptet, dass meine Nina-Simone-Phase zu einer ihrer größten Herausforderungen als Mutter zählte. Ich wusste, dass sie sich damals sehr geärgert hatte, als sie ihre Cha-cha-cha-Probe sausen lassen musste, weil sie in meine Schule zitiert worden war. Meine Klassenlehrerin machte sich Sorgen um mich.

»Und, Grace, was möchtest du später einmal werden, wenn du groß bist?«, hatte die Klassenlehrerin mich gefragt, so wie sie all die anderen Jungs und Mädchen gefragt hatte.

»Eine große schwarze Lady«, hatte ich prompt geantwortet.

Meine Lehrerin hatte nicht gewusst, was sie darauf sagen sollte, also wandte sie sich an die Direktorin, die daraufhin meine Mutter verständigte. Was völlig unnötig war, wenn ihr mich fragt. Meine Lehrerin hätte es mir ja auch selbst sagen können.

Meine Nina-Simone-Phase kam direkt nach der Stevie-Wonder-Phase, deshalb ist es kein Wunder, wenn man genauer darüber nachdenkt, dass ich mir mit acht Jahren wünschte, schwarz zu sein. Im Supermarkt klammerte ich mich an schwarze Frauen und fragte sie, ob sie für mich singen könnten. Mittlerweile mache ich solche Sachen nicht mehr, trotzdem hat meine Mutter immer noch etwas gegen Nina.

»Grace, alles Gute zum Geburtstag.«

»Danke, Mum.«

»Dein Vater möchte, dass du heute auf keinen Fall etwas Violettes anziehst, Grace. Er hat ein sehr ungutes Gefühl, was Violett betrifft.«

»Oh Gott«, seufze ich.

Violett ist meine Lieblingsfarbe. Meine halbe Garderobe ist violett, und mein violettes Babydoll-Kleid mit dem Blümchenmuster ist das Einzige, was im Moment sauber ist. Ich überlege, ob ich die Bitte ignorieren soll, aber ich gehe später zu Dad, also kann ich sie nicht ignorieren.

»Na schön«, gebe ich nach. »Aber langsam wird das zu einer Manie bei ihm, Mum. Seine Abneigung gegen Violett ist mehr als seltsam.«

»Gib nicht mir die Schuld.«

»Nein. Okay, ich muss mich jetzt beeilen. Die Bekanntmachung ist um halb zehn.«

»Gut. Gib Bescheid, wie es gelaufen ist.«

»Mach ich. Hab dich lieb, Mum.«

»Ja, ja. Tschüss.«

»Mutterliebe«, seufze ich, nachdem ich aufgelegt habe.

Das erinnert mich an etwas. Ich darf heute nicht vergessen, die Pille danach zu besorgen, denke ich, während ich das Bad verlasse und mich auf die Suche nach etwas zum Anziehen, das nicht violett ist, begebe.