23
Leonard und Joan sind nicht da. Sie haben noch nie unseren Wochentreff auf dem Friedhof sausen lassen, außer im September, wenn sie für zwei Wochen nach Dorset fahren, aber das erfahre ich immer rechtzeitig vorher. Das gefällt mir nicht. Ich habe schon zwei Doughnuts gegessen.
Trotzdem hatte ich ein nettes Schwätzchen mit Dad. In Krisenzeiten neige ich dazu, laut über meine Probleme zu reden, während ich vor seinem Grab stehe, bis ich zu irgendeinem Entschluss gekommen bin. Dann spreche ich diesen laut und deutlich aus und warte auf ein Zeichen. Wenn es keines gibt, verlasse ich mich darauf, dass Dad den Entschluss billigt. Wenn er nicht einverstanden wäre, davon bin ich überzeugt, denn er war ein heller Kopf, würde er mir das irgendwie mitteilen, beispielsweise indem er mir einen Ast oder Vogelkacke auf den Kopf fallen lässt.
»Dann hast du kein Problem damit?«, frage ich. »Ich gehe also zu Mum, und wir öffnen die Briefe von der Bank. Wir verschaffen uns einen Überblick, wie tief sie in den Miesen ist, dann nehme ich einen Kredit auf und tilge ihre Schulden. So lautet der Plan. Und sie soll dem Widerling von SJS Bau sagen, dass er sich sein Geld in den … Sorry, Dad. Okay. Also abgemacht.«
Ich blicke mich um und warte auf ein Zeichen der Missbilligung, aber stattdessen kommt nun die Sonne hinter einer Wolke hervor und taucht Dads Grab, die Weißbirke und mich in funkelndes Licht.
»Großartig.« Ich schenke Dad ein Lächeln. Na ja, seinem Grabstein.
»Oh, Grace, Grace, wir hatten Besuch von einem Mann.« Es ist Joan, die sehr durcheinander wirkt für jemanden, der sonst so elegant auftritt.
»Hallo«, sage ich. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass euch was zugestoßen ist. Wer hat euch besucht?«
»Leonard ist noch dabei, das Auto zu parken. Ein Mann von SJS Bau war bei uns. Vor knapp einer Stunde stand er plötzlich vor unserer Tür. Grace, das ist kein netter Mensch. Ich habe mich von ihm bedroht gefühlt. Ich wollte zur Polizei gehen, aber Leonard sagt, die lachen uns dort nur aus. Ich kann mir das nicht vorstellen. Was denkst du?«
»Was hat der Kerl gesagt?«
»Dass wir die Einzigen sind, die ihre Einwilligung verweigern. Er hat uns angeboten … Grace, er hat uns schrecklich viel Geld angeboten.«
»Wie viel?«
»Zwanzigtausend Pfund.«
»Zwanzigtausend Pfund! Und was hast du gesagt?«
»Nun, ich habe nichts gesagt. Ich habe Leonard das Reden überlassen und mich um den Tee gekümmert. Ich wünschte, ich hätte diesem Mann keinen Tee angeboten, Grace. Ich werde die Tasse wegwerfen, sobald ich nach Hause komme.«
»Was hat Leonard gesagt?«
»Er hat gesagt, dass dies hier ein zauberhaftes Fleckchen Erde ist und dass er für kein Geld der Welt verkaufen wird. Er hat abgelehnt. Er hat auch für dich gesprochen, Grace. Er hat erklärt, dass wir drei regelmäßig hierherkommen, um den Verstorbenen unseren Respekt zu bezeugen, und dass man das nicht mit Geld aufwiegen kann.«
»Dieser verdammte Lump!«, schimpft Leonard laut, als er zu uns stößt. »Ich kenne den Kerl von früher. Nicht gut, aber wir haben mal vor Jahren zusammen Kricket gespielt. Er hat zuerst so getan, als wäre er ein alter Bekannter, nicht wahr, Joan? Joan hat sogar Tee für ihn gekocht! Und dann hat er seine Maske fallen lassen, von einem Moment auf den anderen …«
»Das stimmt, Grace, das stimmt.«
»Dabei müsste gerade er das nachvollziehen können. Schließlich hat er vor Jahren seine Frau verloren, nicht wahr? Wie hieß sie noch gleich?«
Joan schüttelt den Kopf.
»Oh, wie hieß sie denn? Eben wusste ich es noch«, brummt Leonard. »Jedenfalls eine reizende Person. Ein schrecklicher Verlust für ihn. Er fiel völlig auseinander.«
»Leonard hat ihm damals einen wundervollen Kondolenzbrief geschrieben.«
»Und seht nur, was der Dank dafür ist. Das schreit geradezu nach einem Leserbrief an die Gazette. Ich werde dafür sorgen, dass diese Sache in die Lokalnachrichten kommt. Ihr werdet sehen.«
»Beruhige dich, Len, denk an deinen Blutdruck«, sagt Joan beschwichtigend.
Ich hole die Doughnuts aus meiner Tasche, und als ich den Kopf hebe, fällt mein Blick auf das Industriegelände auf der anderen Seite des Kanals. Dort parkt ein Wagen. Es ist ein großer Range Rover. Aber nicht irgendein alter Benzinschlucker, sondern ein neuer mit einem Schriftzug auf der Seite, der verdächtig dem Logo von SJS Bau ähnelt. Neben dem Wagen steht ein großer, silberhaariger Mann, der etwas vor sein Gesicht hält. Es könnte ein Fernglas sein, vielleicht auch eine Kamera, also strecke ich den Mittelfinger in seine Richtung. Ich komme mir dabei vor wie ein Hooligan, und es ist alles in allem kein unangenehmes Gefühl. Das da drüben muss das Grundstück sein, auf dem er bauen will. Und dafür braucht er ganz offensichtlich eine Zugangsstraße. Ich lasse den Finger oben, bis er in seinen Wagen steigt.
»Okay, hat jemand Lust auf Simon & Garfunkel?«
Leonard und Joan geben keine Antwort, sondern blicken mich nur mit traurigen Augen an.
»Schon gut, ich werde Mum dazu bringen, dass sie ihre Meinung ändert. Dann müsst ihr nicht den ganzen Druck allein aushalten«, verspreche ich ihnen und klinge dabei weitaus zuversichtlicher, als ich tatsächlich bin.