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Dieses Dingda wird mich jede Menge Arbeitszeit kosten. Heute Morgen habe ich bereits fünfzig Minuten im Büro verpasst, von denen ich den Großteil im Wartezimmer verbracht habe, wo ich gezwungen war, auf ein Info-Plakat über Chlamydien zu starren, weil es direkt an der gegenüberliegenden Wand hing. Offiziell habe ich einen Außentermin. Angebliche Besichtigungen sind ein nützliches Instrument in der Immobilienbranche.
»Ich habe einen Besichtigungstermin auf der Chetwynd Road«, sagt man und fährt stattdessen in eine Drogerie, um Tampons zu kaufen.
Nicht, dass ich zurzeit welche brauchen würde dank dieses verheerenden Verkehrsunfalls – im deprimierend wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem muss ich vorsichtig sein mit angeblichen Besichtigungen, seit ich Schleimi gegenüber versehentlich die Spielenachmittage erwähnt habe, die die Kollegen in einer unserer Filialen regelmäßig veranstalteten. Als er Nachforschungen anstellte, warum die Filiale in Notting Hill den Immobilienboom zu verschlafen schien, ging ich davon aus, dass er von dem Zockersyndikat wusste, das sich regelmäßig online im William Hill Casino herumtrieb. Ich nahm an, dass jeder darüber Bescheid wusste. Aber das war ein Irrtum. Schleimi rastete aus, als ich es erwähnte, und jetzt bin ich bei den Kollegen von MAKE A MOVE nicht mehr so gut angeschrieben.
Dr. McGovern kommt aus ihrem Sprechzimmer. Bitte, lass mich jetzt dran sein. Ich verspreche, ich weiß nun alles, was man über Chlamydien wissen muss.
»Grace Flowers.«
Sie lächelt mich an. Der Apotheker hatte Recht. Dr. McGovern ist eine reizende Frau. Sie ist sehr groß, und das nicht nur für meine Verhältnisse, sondern auch nach offiziellen Maßstäben. Auf sie wäre absolut Verlass, um an die Tassen ganz oben im Regal ranzukommmen. Sie ist immer ungeschminkt und unauffällig gekleidet, aber sie lächelt die ganze Zeit, und das verleiht ihr eine eigene Schönheit. Ich muss mich korrigieren: Sie lächelt nicht die ganze Zeit – sie würde sicher nicht lächeln, wenn man ihr die Symptome eines Vaginalpilzes oder von Darmkrebs beschreibt. Sie hört sich die Beschwerden immer aufmerksam an, aber danach lächelt sie.
Die Ironie an der Sache ist, dass ich in den letzten paar Jahren nur bei ihr war, um mir mein Rezept für die Pille zu holen.
Sie führt mich in ihr Sprechzimmer, wo ein weiteres Chlamydien-Plakat an der Wand hängt.
»Ich habe mich sehr gefreut, als ich heute Ihren Namen gelesen habe. Nun, natürlich nicht darüber, dass Sie krank sind«, sagt sie und deutet auf einen Plastikstuhl, damit ich mich setze. »Ich hatte letzte Woche ein Abendessen mit Kollegen. Wir sind eine Gruppe von Leuten, die ihre Ausbildung zusammen gemacht haben, und da wir alle inzwischen kurz vor dem Ruhestand stehen, haben wir Erinnerungen ausgetauscht über unsere denkwürdigsten Patienten im Laufe der Jahre. Ich habe von Ihren Eltern erzählt, die damals zu mir kamen, als Ihre Mutter schwanger mit Ihnen war.«
»Warum? Was ist passiert?«
»Nun, Ihre Mutter war sehr nervös. Sie war damals noch sehr jung, richtig?«
»Achtzehn«, sage ich, und plötzlich wird mir bewusst, wie jung das war. Ich bin sechsundzwanzig und fühle mich zu jung, um dieses Kind zu bekommen. Mum muss vor Angst gestorben sein.
»Achtzehn, meine Güte.«
»Und mein Vater war dabei?«, frage ich verwundert.
»Ja. Er sprang vor Begeisterung fast an die Decke.«
»Meinetwegen?«
»O ja. Ich hätte ihn fast gebeten, draußen zu warten. Ich dachte, er schnappt gleich über, genau wie Ihre Mutter! Aber dann hat er sich beruhigt, und während ich Ihre Mutter untersucht habe, hielt er ihre Hand und sang Ihnen vor – na ja, dem Bauch Ihrer Mutter.«
»Mein Vater hat hier in der Praxis gesungen?«
»Ja. In all den Jahren als Ärztin habe ich das noch nie erlebt. Und es war wunderschön, deshalb habe ich es meinen Kollegen erzählt.«
»Was hat er denn gesungen?«
»Oh, was war es noch gleich? Tut mir leid, Grace, das weiß ich leider nicht mehr.«
Ich muss enttäuscht wirken, weil sie sich noch zweimal entschuldigt.
»Äh …«, sage ich leise. Ich muss auf den Punkt kommen, aber plötzlich widerstrebt es mir. Komm schon, Grace, du musst zurück zur Arbeit. »Ich bin schwanger, aber ich kann das Kind nicht bekommen«, murmle ich.
»Sind Sie sicher?«
»Ich glaube, schon. Ich meine, ich arbeite rund um die Uhr, und ohne Arbeit kein Geld.«
»Verzeihen Sie, Grace, aber ich meinte, ob Sie sicher sind, dass Sie schwanger sind.«
»Ach so. Ja, ich habe einen Test gemacht. Aber ich weiß es auch so. Ich fühle mich schwanger, mir ist schlecht, meine Brüste bringen mich um. Ich habe Heißhunger auf Eis am Stiel. Außerdem war es ein Unfall …«
Dr. McGovern wartet ab, ob ich fortfahre. Tu ich aber nicht.
»Dann war es also ein Unfall.«
»Ja, ich habe vergessen, mir ein neues Rezept für die Pille zu besorgen, weil ich so viel gearbeitet habe, um diese Beförderung zu bekommen, und dann haben wir versehentlich, Sie wissen schon … Ich habe zwar die Pille danach geschluckt, aber das hat nichts geholfen.«
»Hm.« Sie lächelt. Kein Ich-freue-mich-ja-so-Lächeln, sondern eher ein Alles-wird-gut-Lächeln. »Und wie denken Sie über diese Schwangerschaft?«
Ich stoße ein tiefes Seufzen aus. Es ist ein Seufzen, das direkt in die staubigen Ecken des Problems dringt, sodass mein Kinn zu zittern anfängt und ich die Tränen kommen fühle. Ich habe ihr bereits gesagt, dass ich das Kind nicht bekommen kann, warum muss sie nachbohren? Ich blicke auf meinen Schoß. Auf meinen Leggings entdecke ich einen verkrusteten Eisfleck, an dem ich kratzen muss.
»Ich habe Eis auf meine Leggings gekleckert.«
»Haben Sie es Ihrer Mutter gesagt, Grace?«
Ich schüttle den Kopf. Nun habe ich den Fleck noch größer gemacht. Mist.
»Sind Sie momentan in einer Beziehung, Grace?«
Ich lasse den Kopf gesenkt und bewege ihn von links nach rechts und zurück. Ich spüre, dass sich in meinem Augenwinkel eine Träne bildet, und ich will nicht, dass sie herunterfällt, obwohl, wenn sie auf dem Eisfleck landen würde, ginge er vielleicht raus. Trotz ihrer potenziellen Fleckentfernerqualitäten komme ich der Träne mit meinem Tränenabwischfinger zuvor. Ich darf nicht weinen.
Ich höre ein Fftt-fftt und sehe gleich darauf Dr. McGoverns Hand, die mit zwei Papiertüchern vor meinem Gesicht wedelt. Ich nehme sie und trockne mir damit Augen und Nase.
»Nun, Grace, falls Sie sich für das Kind entscheiden, brauchen Sie in nächster Zeit einfach nur ein bisschen auf sich achtzugeben, und dann sehen wir uns in ein paar Wochen wieder …«
Sie lässt die Worte sacken. Sie wartet lange, damit ich eine Antwort gebe, aber die bleibt aus. Ich kann sie nicht einmal ansehen. Ich habe ihr bereits gesagt, dass ich das Kind nicht bekommen kann. Warum tut sie das?
»Aber falls Sie sich anders entscheiden, kann ich Sie ins St. Mary’s überweisen. Dort wird man Sie ausführlich beraten.«
Ich bin im St. Mary’s Hospital geboren. Ich hebe langsam den Kopf, bis unsere Blicke sich treffen, und schlucke. Ohne dass ein Wort fällt, dreht sie sich schwungvoll zu ihrem Computer um. Ich lausche dem Klacken der Tastatur, während ihre Finger darübergleiten. Als sie fertig ist, gibt sie mir einen Ausdruck, auf dem ein Datum und eine Uhrzeit stehen, und zeigt auf eine Telefonnummer.
»Diese Nummer ist vierundzwanzig Stunden am Tag erreichbar. Falls Sie Probleme haben, können Sie jederzeit dort anrufen oder vorbeischauen.«
Ich stehe auf.
»Es wird alles gut, Grace.«
Ich nicke wieder.
»Richten Sie Ihrer Mutter meine Grüße aus.«
Ich nicke wieder und gehe hinaus in das Wartezimmer.
»Grace!« Es ist Dr. McGovern, die mich zurückruft. »Es war … warten Sie … etwas mit Fischen. Ein ziemlich bekanntes Lied. Gerade noch hatte ich es.« Sie legt die Hand an die Stirn, schließt die Augen und beginnt zu summen.
»Summertime«, sage ich.
Sie sieht mich ausdruckslos an, also singe ich ihr leise die ersten paar Zeilen vor.
»Ja! Genau!«, ruft sie. »Grace, Sie haben eine wundervolle Stimme.«