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Ich habe am selben Tag Geburtstag wie Dannys Vater. Friendly Wendy beschäftigt sich mit Geburtstagen und Sternzeichen und dem ganzen abergläubischen Unsinn allgemein, und sie findet es seltsam, dass Danny mit einer Frau zusammen ist, die am gleichen Tag geboren wurde wie sein Vater. Als ich sie fragte, warum, sagte sie nur: »Äh … keine Ahnung, das ist halt etwas schräg, mehr nicht.« Ich kann da nicht mitreden, aber tatsächlich ist dieser Umstand unheimlich nervig. Besonders da Dannys Eltern mitten nach Wales gezogen sind, was bedeutet, dass ich meinen Geburtstag überwiegend auf der M4 verbringe.
Wir wollen losfahren, sobald ich vom Friedhof zurückkomme, aber ich beschließe, die Abfahrt ein bisschen zu verschieben.
»Dan.« Ich rufe ihn vom Handy aus an, als ich im Wagen sitze.
»Hey, Geburtstagskind.«
»Tu uns einen Gefallen. Ich habe meine ec-Karte gestern Abend im Pub liegen gelassen und konnte deshalb die Pille danach nicht bezahlen – die kostet übrigens siebenundzwanzig Pfund! Kannst du nicht mal rübergehen, meine Karte holen, kurz zu Sainsbury’s flitzen und sie für mich besorgen? Die Apotheke ist mitten im Laden. Der Apotheker müsste sich an mich erinnern. Ich habe bereits all seine Fragen beantwortet, ich hatte nur nicht genügend Geld, um zu bezahlen.«
»Oh, Grace, Babe.«
»Bitte, Danny. Der Apotheker hat gesagt, ich sei an einem fruchtbaren Punkt oder so und dass ich die Pille so schnell wie möglich nehmen soll. Ich will nur noch kurz bei Mum vorbeischauen, bevor wir aufbrechen.«
Dann lege ich auf. Es ist das Beste, Danny keine Zeit für Ausreden zu geben, und außerdem biege ich bereits in die Einfahrt. Ich nehme mir nicht einmal die Zeit, mein schönes Elternhaus zu betrachten, sondern springe gleich aus dem Wagen und laufe zur Veranda hoch.
»Na, Mildred, alles klar?«, sage ich, als ich über die Türschwelle trete. Mildred ist die Frau, die unter der Veranda begraben ist.
»Mum?«, rufe ich, während ich die Diele betrete.
Nirgendwo brennt Licht, also drücke ich auf den Lichtschalter. Nichts. Meine Mutter wechselt nie die Glühbirnen, obwohl ich mir sicher bin, dass sie welche hat. Eigentlich müsste es im Haus jede Menge Ersatzbirnen geben, die sich irgendwo stapeln.
Das Haus sieht heute von innen anders aus als damals während meiner Kindheit – es ist seitdem nie wieder verschönert worden. Aber das macht nicht den Unterschied aus. Der Unterschied ist, dass es inzwischen so vollgestopft ist. Als ich noch klein war, gab es genügend Platz zum Toben oder Tanzen, jetzt muss man sich durch schmale Durchgänge zwängen, um von einem zugestellten Raum zum nächsten zu kommen. Bücher, DVDs, Fitnessgeräte und -ausrüstung stapeln sich meterhoch an den Wänden, was bedrückend wirkt. Ich habe versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden, aber sie blockt sofort ab. Sie sagt, sie schreibe mir ja auch nicht vor, wofür ich mein Geld ausgebe, weshalb es nicht fair sei, wenn ich das tue. Aber es ist nicht das Geld, das mir Sorgen macht. Ich erinnere mich, dass ich, nachdem mein Vater gestorben war, ein paar Mal aufschnappte, dass Dad unser Geld sehr clever angelegt hat und meine Mutter gut abgesichert ist. Das ist also nicht das Problem – die Vorstellung, dass meine Mutter in ihrem vollgestellten, dunklen Haus sitzt und Sachen bestellt, die sie nicht braucht, um die Leere in ihrem Leben zu füllen, die nie gefüllt werden kann, macht mich traurig.
»Grace, bist du das?« Mums Gesicht erscheint oben an der Treppe.
Meine Mutter ist eine schöne Frau. Das ist vielleicht das Frustrierendste daran. Geistig mag sie ein Problem haben, ihre äußere Erscheinung hingegen ist göttlich. Sie ist klein, so wie ich, aber während ich dramatische Kurven habe und einen Hintern wie ein Breitbildfernseher, ist meine Mutter zierlich wie ein Vögelchen. Mein Vater nannte sie früher »mein kleiner Star«, weil sie ständig herumzuflattern scheint. Mum ist blond und trägt einen akkuraten Bob wie früher die Filmstars in den Zwanzigern. Sie wirft sich seit zehn Jahren täglich in Schale, ohne irgendwohin zu gehen.
»Du siehst hübsch aus«, sage ich. Sie lächelt vage. »Hast du einen Brief von der Friedhofsverwaltung wegen einer Straße, die über Dads Grab gebaut werden soll, bekommen?«
Mums Lippen werden schmal, und sie geht ins Schlafzimmer zurück, aus dem sie gekommen ist. »Ich weiß nicht«, sagt sie.
Ich gehe in Dads altes Arbeitszimmer. Dabei versuche ich, nicht auf seine alte Korkpinnwand zu sehen mit all den Fotos von uns und den Postkarten und Eintrittskarten, die dort hängen. Nichts davon ist verblasst, weil Mum hier nie die Jalousien hochzieht. Es ist, als würde man eine dunkle Bühne betreten, auf der ein Stück, das vor zehn Jahren angesetzt wurde, kurz vor der Aufführung steht. Dads alter Computer steht da, wo er immer stand, er macht mittlerweile einen museumsreifen Eindruck. In irgendeiner Schublade liegt noch sein altes Handy. Mein Vater hat das iPhone nicht mehr erlebt, den iPod natürlich auch nicht. Schon seltsam, was für Dinge einen traurig stimmen. Auf dem Schreibtisch liegen keine Briefe, weder geöffnete noch ungeöffnete.
»Mum, wo bewahrst du die Post auf?«, rufe ich, während ich mit dem Fuß gegen etwas stoße, das unter dem Tisch steht. Ich bücke mich und ziehe einen schweren Karton hervor.
»Was haben wir denn hier?«, murmle ich.
Der Karton ist voller Briefe, sie sind alle ungeöffnet.
Ich setze mich auf Dads Drehstuhl und wühle zwischen den Umschlägen in der Absicht, den Stempel des Kensal Green Cemetery zu entdecken. Aber das gerät rasch in Vergessenheit, als mir bewusst wird, dass es sich hier ausschließlich um formelle, bedrohlich wirkende Briefe handelt. Darunter viele von British Gas mit einem roten Buchstaben im Sichtfenster. Die Worte »Eilt« und »Wichtige Mitteilung« verschwimmen vor meinen Augen.
»Jesus«, murmle ich.
Ich nehme die obersten Briefe heraus und stecke sie in meine Handtasche. Ich werde diese Rechnungen für Mum bezahlen, sobald ich dazu komme. Ich wühle weiter nach dem Schreiben von der Friedhofsverwaltung. Es ist nicht da. Vielleicht hat Leonard sich geirrt, und Dads Grab ist gar nicht betroffen.
»Mum!«, rufe ich und gehe zurück in die Diele. »Mum, ich muss wieder los.«
»Oh. Tschüss.«
»Bist du sicher, dass du keinen Brief von der Friedhofsverwaltung bekommen hast?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Dann wird auch nichts gekommen sein. Wir sehen uns dann morgen.«
Ich warte, ob von ihr etwas kommt wie »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag« oder »Warte kurz, ich will dir noch dein Geschenk geben« oder »Ich hab dich lieb«, aber sie steht einfach nur oben an der Treppe und nickt.