21
Nach zwei Wochen, in denen ich ständig in mich hineinhorchte, ob ich mich »irgendwie anders oder schwanger« fühlte, kann ich mit großer Freude verkünden, dass sich abgesehen von meinem verschorften Gesicht und dem Schnösel, der mir das Leben versaut, sowie meiner bankrotten Mutter und dem Grab meines Vaters, das womöglich umgepflügt und überteert wird, alles absolut normal anfühlt. Oh, außer dass Danny sich sehr seltsam und distanziert verhält. Ich habe ihn kaum zu Gesicht bekommen seit dem Überfall, da er die ganze Zeit bis in die Nacht hinein arbeitet. Ich vermute, das liegt daran, dass er mich und mein abstoßendes Gesicht im Moment nicht sehen möchte, was ich verstehen kann. Und wahrscheinlich bin ich anstrengend, weil ich gerade ein großes Kuschelbedürfnis habe. Sein Verhalten ist trotzdem seltsam, aber das Gute ist, dass auch ich viele Überstunden mache, um Posh Boy die Peitsche zu geben, bis sein Hintern rot und wund ist. Das heißt, auf der Verkaufsebene. Alles andere wäre ekelhaft.
»Was ist los mit dir?«, fragt Wendy. »Warum machst du so ein Gesicht?«
»Was für ein Gesicht?«
»Das Ich-rümpfe-die-Nase-Gesicht.«
»Oh, ich musste nur gerade an Posh Boy denken.«
»Dich hat es wohl schwer erwischt.«
»Wohl kaum. Ich kann den Kerl nicht ausstehen.«
»Das ist Selbstverleugnung. Ganz massiv. Gewaltig. Wie ein großes Glas Orange Crush, nur dass John drinsitzt. Hattest du schon feuchte Träume seinetwegen?«
»Wendy!«
»O mein Gott, das war nur ein Witz, aber es ist tatsächlich so, nicht? Meine Fresse! Los, raus mit der Sprache.«
Sie rollt mit ihrem Drehstuhl zu mir herüber, schiebt meinen Kundenstuhl zur Seite und beugt sich über meinen Schreibtisch.
»Hallo?« Sie spricht mit einem Oberschichtakzent. »Ich suche ein Penthouse, möglichst nah an der Portobello Road. Geld spielt keine Rolle. Ich scheiße das Zeug! Oh, und können Sie mir Details nennen, was den lüsternen Traum mit Ihrem schnieken Chef betrifft?«
»Verdammt, ich hasse dich!«
»Du liebst mich. Dann hattest du also wirklich einen erotischen Traum mit Posh Boy?«
Ich nicke traurig. Als wäre der Kerl im wahren Leben nicht schon nervig genug, spukt er jetzt auch noch in meinen Träumen herum.
»O mein Gott!«
»Aber ich kann nicht darüber reden«, zische ich. »Mir war richtig schlecht hinterher. Der arme Danny lag neben mir, während ich schweinische Sachen von Posh Boy geträumt habe!«
»Was soll das heißen, der arme Danny? Die Kerle sind doch ständig scharf auf andere Frauen, selbst wenn sie eine Freundin haben. Also, was ist in dem Traum passiert?«
»Nur … du weißt schon … so komisches Zeugs.«
»Oh, mit komischem Zeugs kenne ich mich aus!«
»Wendy, hör bitte auf damit.«
»War es denn gut? Warst du nach dem Aufwachen verschwitzt und angetörnt?«
»Nein, ich habe mich nach dem Aufwachen richtig krank gefühlt. Aber der Traum war echt schräg. Irgendwas oder irgendwer Böses hat mich verfolgt, und Posh Boy hat mir geholfen. Wir landeten schließlich an diesem verlassenen Ort und mussten zusammen auf einer Matratze schlafen, und dann, weißt du …«
»Ja, ich weiß verdammt gut.«
»Mehr sage ich nicht.«
»Das ist so süß.«
»Das ist überhaupt nicht süß. Ich fühle mich schmutzig. Ich kann den Kerl nicht leiden. Er geht mir total auf die Nerven.«
»Er hat auch ziemlich viel für dich übrig.«
»Hat er nicht.«
»Grace, halt die Klappe. Hat er wohl. Ich meine, die meisten Kerle geraten bei deinem Anblick ins Schwärmen – du bist klein und blond und hast einen großen Vorbau. Aber er … Seine Augen sind irgendwie …«
»Irgendwie was?«
»Sie folgen dir ständig.«
»Nein«, sage ich, aber ich weiß, dass es stimmt, weil ich seinen Blick spüre. »Ich bin mit Danny zusammen«, füge ich nachdrücklich hinzu.
»Ich weiß. Außerdem rufen hier ständig irgendwelche Weiber für Posh Boy an, deshalb ist sein Interesse wohl rein biologischer Art, schätze ich.«
»O mein Gott!«, keuche ich. Ein Range Rover mit einem SJS-Bau-Schriftzug auf der Seite hält in diesem Moment vor der Agentur. Hinter dem Steuer sitzt ein älterer Mann. »SJS Bau. SJS Bau. Das ist bestimmt die Firma, die Len gemeint hat.«
Das sind die Grabschänder. Und der Alte stellt sich einfach in das verdammte Halteverbot! Ich schiebe meinen Stuhl vom Schreibtisch zurück, streiche mein Kleid glatt und gehe nach draußen. Mein Atem geht stoßweise. Gracie, flipp jetzt nicht aus. Ich wiederhole im Geiste immer wieder das Wort »ruhig«, während ich mich dem Geländewagen nähere. Ich klopfe an das Beifahrerfenster, und der Alte lässt die Scheibe herunter.
»Ja?«, bellt er.
Ich fühle mich wie eine Sechsjährige in Gegenwart dieses Mannes. Er ist sehr groß. Sein Kopf berührt fast das Autodach. Er hat einen Riesenzinken wie Michael Portillo, eine silbergraue Haarmähne und einen Altmännerbauch, über den sich der Gurt spannt. Er ist ganz offensichtlich kein armer Mann, aber sein Gesicht und die großen, knotigen Hände verraten, dass er sehr hart dafür gearbeitet hat.
»Ich wollte Sie was fragen wegen Ihrer Umbaupläne für den Friedhof.«
Zuerst stöhnt er laut, dann fixiert er mich mit dem bösesten Blick, den ich je gesehen habe. Dieser Mann sieht aus wie ein richtiger Dreckskerl. Ich bin noch nie einem richtigen Dreckskerl begegnet. Ich würde das ziemlich aufregend finden, wenn ich nicht das Gefühl hätte, mir gleich in die Hose zu machen.
»Der Friedhof wird von den Baumaßnahmen nicht betroffen sein.«
»Aber meine Mutter hat ein Schreiben erhalten. Mein Vater liegt auf dem Friedhof begraben, und offenbar soll sein Grab entfernt werden.«
»Wer ist Ihre Mutter?«
»Rosemary Flowers.«
Er lächelt und breitet die Arme aus, als wäre ich eine alte Freundin. »Eine reizende Frau. Ich hatte zuerst keine Ahnung, dass es sich um die Rosemary Flowers handelt, die ehemalige Tanzkönigin. Sie sieht immer noch genau so jung aus wie damals.«
»Sie kennen meine Mutter?«
»Ja, ich habe einen Brief von ihr erhalten und bin bei ihr vorbeigefahren, um mich für ihr Entgegenkommen zu bedanken. Wir hatten eine höchst angenehme Unterhaltung. Ein netter, kleiner, unverhoffter Glücksfall für Ihre Mutter. Sie sollten sich freuen.«
»Was?«
»Die Summe, die wir ihr geboten haben, ist beträchtlich.«
»Sie wollen sie bestechen?«
»Nein. Wir bieten ihr eine Entschädigung an.«
»Haben … Hat sie das Geld schon bekommen?«
»Nein, aber das wird sie noch. Sobald alle ihr Einverständnis erklärt haben.«
»Das werden Sie nicht von allen bekommen.«
»Junge Dame, Sie werden staunen, was Geld alles bewirken kann. Ihre Mutter freut sich über das Geld, also seien Sie nicht egoistisch und gönnen Sie es ihr.« Er macht eine kurze Pause und lächelt wieder. »Und bitte, richten Sie ihr schöne Grüße von mir aus.« Dann wirft er einen Blick in den Rückspiegel und gibt Gas.
»SCHWEIN! MIESES SCHWEIN!«, brülle ich ihm hinterher.
»Grace!« Es ist John, der von der anderen Straßenseite auf mich zukommt. »Was ist los?«
»Sie haben mir gerade noch gefehlt«, erwidere ich und atme tief durch, um mich zu beruhigen.
»Was ist denn?«, fragt er und legt sanft die Hand auf meine Schulter.
Ich entspanne mich beinahe bei seiner Berührung, aber so schnell kann ich diesen schrecklichen Alten nicht vergessen. Ich winde die Schulter aus Posh Boys Griff und gehe zurück ins Büro, um meine Jacke und meinen Autoschlüssel zu holen.
»Grace. Was war los?« Er klingt jetzt nicht mehr so ergriffen.
»Ich habe einen Besichtigungstermin«, sage ich und drücke mich an ihm vorbei zum Ausgang.