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Ich erkenne einfach keinen Sinn darin. Ich hätte dieses Kind so sehr geliebt. Warum musste das passieren? Warum? Dies scheint die einzige Frage zu sein, die mich zurzeit beschäftigt. Warum? Warum? Warum? Tief in mir ist ein Schmerz, der die Antwort kennt: Du wolltest das Kind anfangs nicht, sagt er. Du hast es nicht verdient.
Ich brauche etwas Positives, an das ich mich klammern kann, aber das ist momentan dünn gesät. Alles, was mir dazu einfällt, ist, dass das Paradise den Kreditkartenbeleg von Ricardo hatte. Das wird vorerst reichen müssen.
»Grace«, ruft Wendy hinter ihrem Schreibtisch. »Kann ich kurz mit dir reden?«
Wir sind allein im Büro.
»Hm«, sage ich und starre traurig auf meinen Bildschirm.
»Äh … es ist ziemlich wichtig«, fügt sie hinzu.
»Wa…?« Ich hebe den Kopf, und Wendy macht ein besorgtes Gesicht.
»O nein. Was habe ich angestellt?«, frage ich ängstlich.
»Nichts. Wie kommst du darauf?«
»Ich bin im Moment eine Art wandelnder Fluch. Vielleicht habe ich versehentlich auch dein Leben irgendwie ruiniert.«
»Grace, nein. Du bereicherst mein Leben. Deshalb ist es ja so schwierig.«
»Ich weiß. Anton will heiraten.«
»Nein! Bist du immer noch auf Anton scharf?«
»Hm. Aber weißt du, ich bin es gewohnt.«
»Grace, das geht sicher wieder vorbei. Warum gönnst du dir nicht ein bisschen Posh Boy, um dich abzulenken?«
Ich verziehe das Gesicht. Ich habe Posh Boy nicht mehr gesehen seit jenem feuchten Abend, als wir Bunga Bunga gemacht haben. Gleich danach ist er in die Filiale nach Cricklewood gewechselt. Er soll heute zurückkommen.
»Worüber wolltest du mit mir reden?«
»Na ja, du weißt ja, dass Freddie mir neulich von den zwangsprostituierten Mädchen erzählt hat.«
»Mhm.«
»Er erwähnte dabei diese Hilfsorganisation, die sich um ausgebeutete Frauen kümmert. Hinterher bin ich zu Hause ins Internet, um mir die Homepage dieser Organisation anzusehen. Weißt du, nur so, weil es mich interessiert hat. Und, tja, die hatten dort eine Stelle ausgeschrieben. Im Prinzip das Gleiche, was ich jetzt mache, nur eben für eine wohltätige Organisation. Und es kam mir vor wie ein Zeichen, also habe ich mich beworben.«
»O mein Gott, Wendy, das ist großartig.«
»Und ich wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen.«
»O mein Gott! Und, wie ist es gelaufen?«
»Ich habe den Job!«
»Das ist toll.«
»Findest du?«
»Natürlich, du etwa nicht?«
»Schon, aber ich dachte, du wirst mich hier vielleicht vermissen. Außerdem habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass du im Moment ziemlich down bist, und ich lasse dich nicht gern im Stich. Hör zu, ich kann es noch ein oder zwei Monate hinauszögern, um länger in deiner Nähe zu sein, wenn du möchtest. Nur so lange, bis die Wunden einigermaßen verheilt sind.«
»Wendy, natürlich werde ich dich vermissen, aber das sind großartige Neuigkeiten. Super Neuigkeiten! Du musst so schnell wie möglich dort anfangen. Das ist eine richtig tolle Sache.«
»Ich weiß, und die haben mir sogar eine bessere Stelle angeboten. Grace, die sind schwer begeistert von mir. Sie wollen, dass ich richtig fett einsteige, in der Öffentlichkeitsarbeit und so. Sie haben gesagt, ich hätte sie mit meinem Enthusiasmus und meinem Herzblut beeindruckt. Und sie können es kaum erwarten, dass ich bei ihnen anfange.«
»Oh, ich fühle mich wie eine stolze Mutter.«
»Achtung, Posh-Boy-Alarm.«
»Wo?«
»Kommt gerade rein.«
Wir springen auseinander und setzen uns wieder an unsere Computer. Ich öffne meine E-Mails und setze mein Ich-arbeite-sehr-hart-Gesicht auf, als ich sehe, dass ich eine neue Nachricht von einem unerwarteten Absender habe: von Anton. Ich lächle, nur weil ich seinen Namen auf dem Bildschirm lese. Ich öffne die E-Mail und finde einen Link zu YouTube, den ich anklicke. Ich höre, dass Posh Boy in meine Richtung kommt, aber ich kann die Augen nicht von meinem Monitor abwenden.
Damit habe ich nicht gerechnet. Der Ton klingt blechern, und das Bild ist unscharf, aber es ist eine Videoaufnahme von mir. Ich stehe mit meinem Vater in Rom auf der Bühne, an meinem absoluten Lieblingstag. Ich atme tiefer, und meine Hand wandert an den Monitor. Das bin ich, in dem blauen Kleid, in dem ich mich kaum bewegen konnte. Das war wirklich ich an diesem Tag. Mein Vater tanzt neben mir im Scheinwerferlicht, und als er pausiert, wendet er sich mir zu und lächelt. Es ist ein reizendes Lächeln, doch ich habe es damals nicht wahrgenommen, weil ich bereits begonnen hatte, dem Publikum zuzusingen. Jetzt, mehr als zehn Jahre zu spät, erwidere ich das Lächeln. Ich höre mich übrigens gut an. Ich mache den Eindruck, als wäre ich für die Bühne geboren. Aber wenn ich für die Bühne geboren bin, was mache ich dann hier? Bevor diese Überlegung mich runterziehen kann, denke ich schnell an etwas Fröhlicheres. Anton muss mich gegoogelt haben!
»Was ist das?«, fragt John.
Er steht jetzt hinter mir und legt eine Hand auf meine Schulter. Gebannt schaut er auf meinen Monitor.
»Scheiße, Grace, bist du das, die da singt?«, kreischt Wendy, die sich nun zu uns gesellt.
Wir sehen uns das Video bis zum Schluss an.
»Grace, das ist …«, sagt John, nachdem es zu Ende ist. »Du bist eine Art Superstar.«
»Sie ist ein Superstar.«
»Wir könnten mit ihr einen Werbejingle für MAKE A MOVE machen.«
Ich lasse sie hinter mir plappern. Ich kann nicht reden. Ich fühle mich benommen, ich wünschte, ich wäre wieder in Rom.
»O. Mein. Gott. Grace, lies mal die Kommentare darunter. Wahnsinn.«
Ich überfliege die Kommentare, die die Leute dazu geschrieben haben. Es sind insgesamt sechsundfünfzig, und sie sind überwiegend positiv:
Sie ist super.
Wer ist dieses Mädchen?
Was macht sie heute?
Ich liebe diesen Song. Gibt es davon eine Studio-Aufnahme?
Obwohl auch ein paar Kommentare von Männern dabei sind, die auf ziemlich vulgäre Art den Wunsch bekunden, mich flachzulegen. Einer spekuliert sogar darüber, wie es wohl sein würde, meinen Vater flachzulegen.
Ich verlasse YouTube und klicke wieder auf Antons E-Mail. Alles, was er dazu geschrieben hat, ist Folgendes:
Grace,
ich hoffe, es geht dir besser. Ich denke an dich. Oft. Ich würde sehr gern dieses Lied mit dir singen. Verzeih mir, dass ich noch einmal versuche, dich zu überreden. Bitte, begleite mich im Finale von ESDS. Wir würden sicher Spaß haben, und ich denke, davon kannst du im Moment vielleicht etwas gebrauchen. Gib dir einen Ruck.
Warum nicht? Lg
In der Tat, warum nicht? Anton, das ist eine sehr lange Geschichte.
»Grace«, sagt John leise zu mir, sobald Wendy an ihren Schreibtisch zurückgekehrt ist. »Grace, du hast mir gefehlt. Darf ich dich am Wochenende einladen? Du weißt schon, um ein paar Beleidigungen und Beschimpfungen nachzuholen. Hast du am Sonntagabend Zeit? Ich muss am Samstag mit Schleimi ein paar Dinge durchgehen.«
Das reißt mich endgültig aus meinen Tagträumen.
»Was für Dinge?«
»Oh.« Er wirkt verblüfft über meine Frage. »Ach, ich soll ihn nur auf den neuesten Stand bringen.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Das klingt überhaupt nicht nach Schleimi.
»Dann darf ich dich am Sonntag ausführen?«
»Du wirst auch nicht über mich herfallen?«
»Nein, versprochen.«
»Hoch und heilig? Ich bin nämlich nicht in der Stimmung für ein Nümmerchen.«
»Du hast mein Ehrenwort.«
»Also gut.«
»Wunderbar. Hör zu, ich werde mir etwas Nettes für uns beide ausdenken und schicke dir dann eine SMS wegen des Treffpunkts. Einverstanden?«
»Ja. Perfekt.«
Er lächelt. Ich muss daran denken, wie ich ihn geküsst habe. Wie schön es war. Und ich lächle auch. Dann drehe ich mich wieder zu meinem Monitor und spiele den Clip auf YouTube ein zweites Mal ab.