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»Okay, Ruthie Roberts singt Amazing Grace, in zwei Minuten geht’s los«, ruft der Aufnahmeleiter.
»Anton«, flüstere ich. Wir sitzen nebeneinander hinter den Kulissen der riesigen Bühne.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, aber macht es dir was aus, meine Hand zu halten?«
Er schüttelt lächelnd den Kopf und nimmt meine Hand. Ich drücke seine fest und schließe die Augen.
An dem Morgen vor meiner Geografieprüfung, dem Morgen, an dem mein Vater starb, setzte Dad sich einfach auf meine Bettkante. Er sagte zunächst nichts und ich auch nicht. Ich war eingehüllt in eine Welt, wo alles unter einer Drei in Geografie einer nationalen Katastrophe gleichkam. So saßen wir da im Lampenschein, er auf dem Bett, ich am Schreibtisch, und er sang Amazing Grace in voller Länge, sanft und wunderschön.
Amazing
Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me.
I once was lost, but now I’m found,
Was blind, but now I see.
’twas Grace
that taught my heart to fear,
And Grace my fears relieved.
How precious did that Grace appear
The hour I first believed.
Hinterher war ich ganz ruhig. Dads Stimme erklang in meinem Kopf, als ich an jenem Tag in die Schule ging, und sie erklang in meinem Kopf, als ich im Prüfungssaal Platz nahm und die Aufgaben durchlas. Sie erklang in meinem Kopf, als ich ins Krankenhaus fuhr, und sie erklang in meinem Kopf, als ich zwei volle Monate lang nicht redete. Ich war in der Lage, die Welt auszublenden und Dad zu lauschen, während er mir Amazing Grace vorsang.
Dann fuhr ich zu diesem großen Gesangswettbewerb nach Manchester, und Ruth Roberts stand auf der Bühne und wollte den Song vortragen. Ich konnte sie nicht singen lassen, oder besser gesagt, ich hatte Angst, dann vielleicht Dads Stimme in meinem Kopf, die Amazing Grace sang, nicht mehr hören zu können und stattdessen Ruth Roberts. Also schrie ich und schrie und schrie. Ich weiß jetzt, dass das der Grund ist, aus dem ich seit Jahren kein Radio mehr höre – ich will die geringste Möglichkeit ausschalten, dass ich eine andere Stimme dieses Lied singen höre.
Ich muss jetzt loslassen. Ich werde dieses Lied hören, und ich werde es wieder singen, weil ich weiß, dass Dad sich das gewünscht hätte.