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Morse merkte, daß etwas Wundersames geschah. Der Körper, der ihn so erbarmungslos zu Boden gedrückt hatte, wurde zugleich schwerer und leichter, der Griff um seine Kehle fester und lockerer zur gleichen Zeit. Der Mann stöhnte wie in unerträglichem Schmerz, und Morse konnte ihn fast mühelos mit dem Knie wegstoßen. Der Mann rollte zum Rand des Turmes und griff verzweifelt nach der nächsten Zinne, um sich festzuhalten. Aber der Schwung war zu groß. Das Mauerwerk bröckelte, als seine Rechte es umfaßte, und mit dem Kopf voran fiel der Mann über die Brüstung. Man hörte einen leiser werdenden Schrei, während der Körper, sich überschlagend, in die Tiefe stürzte, dann einen dumpfen Aufschlag und die entsetzten Schreie von Passanten.

Lewis hatte noch immer das obere Ende eines langen Messingleuchters umklammert. «Alles in Ordnung, Sir?»

Morse blieb, wo er war, und sog beglückt, in tiefen Atemzügen, die herrliche Luft ein. In seinen Armen tobte ein heftiger Schmerz. Er streckte sie aus und lag nun wie ein Gekreuzigter auf dem sanft geneigten Dach.

«Alles in Ordnung?» Es war eine sanfte, liebevolle Stimme. Kühle, schlanke Finger legten sich auf seine nasse Stirn.

Morse nickte und sah sie an. Auf ihren Wangen war ein ganz leichter, heller Flaum, und rechts und links neben der Nase hatte sie Sommersprossen. Sie kniete neben ihm. In ihren Augen standen Tränen des Glücks. Sie nahm seinen Kopf in ihre Arme und drückte ihn an sich, viele Tage, viele Stunden lang, so schien es Morse.

Sie sagte nichts. Auch als sie langsam nach unten gingen, sie voran, aber nur so weit, daß sie sich noch immer fest an den Händen halten konnten, schwiegen sie. Als Lewis sich ein paar Minuten später nach ihnen umsah, saßen sie in der hintersten Bank der Marienkapelle. Sie hatte ihr tränennasses Gesicht beglückt an seine Schulter gelegt. Und noch immer sagten sie nichts.

Lewis hatte die beiden auf dem Turm gesehen, hatte sich bei dem eiligen Abstieg aus dem sechsten Stock fast den Hals gebrochen, hatte in der Kosmetikabteilung im Erdgeschoß etliche junge Damen über den Haufen gerannt und wie eine frustrierte Furie mit den Fäusten an die Tür des Nordportals gehämmert. Daß die Frau noch drin war, wußte er. Aber vielleicht war ihr was passiert? In seiner Verzweiflung hatte er mit einem großen Stein das niedrigste und nächstgelegene Fenster eingeworfen, um auf sich aufmerksam zu machen und sich, wenn es sein mußte, Einlaß zu verschaffen. Die Frau hatte ihn gehört und hatte aufgeschlossen. Er hatte sich einen Leuchter vom Altar der Heiligen Jungfrau geschnappt, war, drei Stufen auf einmal nehmend, die Wendeltreppe hochgestürmt und hatte Morses vollbärtigem Angreifer den Leuchter mit aller Kraft ins Kreuz geschlagen.

 

 

Zwei Streifenpolizisten waren bereits eingetroffen, als Lewis herauskam. Der reglose Körper war schon von Zuschauern umringt, die vier bis fünf Meter Abstand hielten, und der Krankenwagen kam mit jaulender Sirene vom Radcliffe her angebraust. Lewis hatte eine Soutane von einem Haken in der Sakristei genommen, die er jetzt über den Toten breitete.

«Wissen Sie, wer es ist?» fragte der eine Polizist.

«Ich glaube ja», sagte Lewis.

«Alles in Ordnung?»

Der bucklige Polizeiarzt war jetzt schon der dritte, der Morse diese Frage stellte.

«Ja, bestens. Ein paar Wochen an der Riviera, und alles ist wieder in Butter. Nichts Ernstes.»

«Das sagen sie alle. Wenn ich meine Patienten frage, woran ihre Eltern gestorben sind, antworten sie jedesmal: <Es war nichts Ernstes.>»

«Ich würd’s Ihnen schon sagen, wenn mir was fehlt.»

«Sie wissen doch, Morse, daß jeder Mensch, der je geboren wurde, zumindest eine ernste Krankheit hat: die letzte.»

Hm. So unrecht hatte der Mann natürlich nicht.

Lewis kam wieder herein. Draußen war alles bereit. «Alles in Ordnung, Sir?»

«Hören Sie bloß auf», sagte Morse.

Ruth Rawlinson saß noch auf der hintersten Bank der Marienkapelle und sah mit leerem Blick vor sich hin. Gefaßt, schweigend, passiv.

«Ich bringe sie nach Hause», sagte Lewis leise. «Wenn Sie...»

Morse atmete schwer und wandte den Blick ab. «Sie kann nicht nach Hause. Sie müssen mit ihr ins Präsidium. Sie ist verhaftet, und ich möchte, daß Sie persönlich ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Ist das klar?» fragte er mit unerklärlichem Zorn in der Stimme. «Sie persönlich.»

Stumm und widerstandslos ließ sich Ruth von einem der Constable zum Streifenwagen fuhren. Morse, Lewis und der Polizeiarzt folgten.

Die Menge, die jetzt in einem drei bis vier Mann tiefen Kreis die verhüllte Gestalt umstand, sah ihnen voller Spannung entgegen — wie den Hauptdarstellern eines Stückes, die soeben die Bühne betraten. Da war der Kleine, Bucklige, der ganz so aussah, als hätte er 1555 ungerührt Zusehen können, wie vor dem nur wenige hundert Meter entfernten Balliol College die Märtyrerbischöfe Ridley und Latimer verbrannt wurden. Der Vierschrötige mit dem sanftmütigen Gesicht, der bisher alle Anweisungen gegeben hatte, aber jetzt fast unmerklich in den Hintergrund trat, als habe ein Höherer das Kommando übernommen. Und schließlich der Schlanke, Blasse mit dem sich lichtenden Haar und den durchdringenden Augen, dessen düstere Miene angeborene Autorität verriet.

Zu dritt traten sie zu dem Toten.

«Wollen Sie ihn sehen, Morse?» fragte der Arzt.

«Von dem hab ich schon genug gesehen», murrte der.

«Sie brauchen keine Angst zu haben, das Gesicht ist in Ordnung.»

Er streifte die Soutane zurück, und Lewis besah sich das Gesicht des Toten aufmerksam.

«So hat er also ausgesehen, Sir.»

«Wie meinen Sie?» fragte Morse.

«Lawsons Bruder, Sir. Ich sagte—»

«Das ist nicht Lawsons Bruder», sagte Morse so leise, daß die beiden anderen es nicht zu hören schienen.