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Ein Großteil der Besucher waren säuerliche alte Jungfern von fünfzig bis sechzig Sommern, von denen etliche sich neugierig nach den beiden Fremden umsahen, die in der hintersten Bank saßen, neben dem leeren Platz, auf dem jetzt unübersehbar «Kirchenältester» stand. Lewis fühlte sich sehr unbehaglich, was man ihm auch anmerkte, während Morse sich scheinbar munter und unbeschwert umsah.

«Wir machen es wie die anderen, klar?» flüsterte Morse, als das traurig-mahnende Geläut der Kirchenglocke verstummt und der Chor in feierlicher Prozession aus der Sakristei über den Hauptgang geschritten war, gefolgt von den Weihrauchschwenkern, Meßgehilfen und Fackelträgern, dem Zeremonienmeister und drei würdigen Gestalten, die ähnlich, aber nicht identisch gekleidet waren. Der letzte trug Albe, Barett und Meßgewand. Im Chor nahmen die Mitwirkenden rasch und routiniert ihre gewohnten Plätze ein, dann herrschte wieder Ruhe. Ruth Rawlinson, in schwarzem quadratischen Chorhut, stand unmittelbar unter einem steinernen Engel. Inzwischen hatte auch der Kirchenälteste lautlos seinen Platz eingenommen und reichte Morse einen Zettel: «Satz: Iste Confessor. Palestrina», worauf Morse weise nickte und ihn an Lewis weiterreichte.

Zur Halbzeit legte eine der würdigen Gestalten das Meßgewand ab und bestieg die Kanzel, um die Gemeinde vor den Gefahren und Torheiten der Unzucht zu warnen. Morse saß da wie jemand, der diese Mahnung nicht so recht auf sich zu beziehen weiß. Vorher hatte sich sein Blick ein- oder zweimal mit dem von Ruth gekreuzt, aber die Sängerinnen waren jetzt alle hinter einer dicken achteckigen Säule außer Sicht. Er lehnte sich zurück und betrachtete die rautenförmigen Buntglasscheiben — dunkles Rubin, Rauchblau, leuchtendes Smaragdgrün — und dachte unbestimmt an seine Kindheit zurück, wo er auch im Chor gesungen hatte.

Auch Lewis verlor, wenn auch aus anderen Gründen, bald jedes Interesse am Thema Unzucht. Da es ihm ohnehin nicht lag, den Blick begehrlich auf seines Nachbarn Weib zu richten, knobelte er statt dessen wieder einmal an dem Fall herum. Ob sich wohl Morses Aussage bestätigte, daß der Kirchgang bestimmt irgendwelche Assoziationen auslösen würde?

Es dauerte zwanzig Minuten, bis der Prediger mit seinen Auslassungen über die Fleischeslust zu Ende gekommen war. Dann ' verließ er die Kanzel, verschwand hinter einer Trennwand in der Marienkapelle und kam, wiederum im Meßgewand, im Chor heraus. Das war das Zeichen für die anderen beiden Mitglieder des Triumvirats, aufzustehen und im Gleichschritt zu ihrem Mitbruder an den Altar zu marschieren. Der Chor hatte wieder Palestrina beim Wickel, und mit zahlreichen Kniefällen und Kreuzeszeichen steuerte die Messe ihrem Höhepunkt zu. «Nehmt und eßt, das ist mein Leib», sagte der Priester, und seine . zwei Helfer verbeugten sich in perfekter Übereinstimmung zum Altar hin, als seien sie ein einziger Mensch.

Morse dachte daran, wie er als Kind mit seinen Eltern im Varieté gewesen war. Da hatte eine Frau vor einem großen Spiegel getanzt, und zuerst war er aus der Sache überhaupt nicht schlau J geworden. Die Frau war gar nicht mal besonders gelenkig, und trotzdem waren die Zuschauer hingerissen. Endlich war der Groschen gefallen. Sie hatte gar nicht vor einem Spiegel getanzt. Das scheinbare Spiegelbild war in Wirklichkeit eine zweite Tänzerin, die die gleichen Schritte, dieselben Bewegungen machte, das gleiche Kostüm trug. Es waren zwei Frauen und nicht eine. Konnte es in der Nacht, als Josephs ermordet wurde, dann nicht auch zwei Priester gegeben haben?

Wieder erhob sich seine Phantasie in schwindelnde Höhen.

Fünf Minuten nach dem Segen war die Kirche leer. Einjunger Mann in Soutane hatte die letzte Kerze gelöscht, und selbst die fromme Mrs. Walsh-Atkins war gegangen. Missa est ecclesia.

Morse stand auf, schob die dünne rote Gottesdienstordnung in die Brusttasche, ging mit Lewis in die Marienkapelle und las das Messingschild an der Südwand:

In der Gruft sind die irdischen Überreste des Ehrenwerten Jn. Baldwin beigesetzt, Wohltäter und getreuer Diener dieser Gemeinde. Gestorben 1732, 68 Jahre alt. Requiescat in Pace.

 

 

Meiklejohn lächelte freudlos, als er, das Chorhemd über dem linken Arm, zu ihnen trat. «Können wir etwas für Sie tun, meine Herren?»

«Wir brauchen die Schlüssel zur Kirche.»

Meiklejohn runzelte leicht die Stirn. «Wir haben zwar Zweitschlüssel, aber wozu —»

«Sehr einfach. Wir möchten die Möglichkeit haben, die Kirche zu betreten, wenn sie normalerweise abgeschlossen ist.»

«Verstehe. Wir hatten in letzter Zeit bedauerlich viel Vandalismus, meist von Schulkindern, leider. Ich frage mich manchmal —»

«Wir brauchen sie nur für ein paar Tage.»

Meiklejohn führte sie in die Sakristei, stieg auf einen Stuhl und nahm ein Schlüsselbund von einem Haken unter dem Vorhangbrett. «Ich hätte sie gern möglichst bald wieder zurück. Wir haben alles in allem nur vier Satz, und jemand braucht ständig welche — zum Glockenläuten und so.»

Morse steckte das Schlüsselbund ein. Schöne, altmodische Schlüssel, ein großer, drei kleinere, alle kunstvoll geschmiedet.

«Sollen wir hinter uns abschließen?» fragte Morse. Es sollte ein Scherz sein, hörte sich aber nur albern und unehrerbietig an.

«Nein, danke. Wir haben sonntags viele Besucher, die gern hierher in die Stille kommen, um über das Leben nachzudenken oder auch, um zu beten.»

Weder Morse noch Lewis hatten sich während des Gottesdienstes hingekniet, und zumindest Lewis hatte ein etwas schlechtes Gewissen, als er die Kirche verließ. So, als habe er ein hochherziges Angebot ausgeschlagen.

«Na los», sagte Morse. «Die Pubs sind längst auf. Wir vertrödeln nur kostbare Zeit.»

 

 

Am gleichen Tag lief um 12.25 Uhr bei der Thames Valley Police in Kidlington ein Anruf der Shrewsbury Constabulary ein. Der Diensthabende notierte die Nachricht gewissenhaft. Nein, er selbst könne mit dem Namen nichts anfangen, würde ihn aber an die zuständige Stelle weiterleiten. Erst als er aufgelegt hatte, dämmerte ihm, daß er keine Ahnung hatte, wer in diesem Fall die «zuständige Stelle» war.