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Schmutzige Spinnweben hingen an den Steinstufen über seinem Kopf, als Morse die Wendeltreppe hinaufstieg. Er empfand keine Furcht. Es war, als sei seine Höhenangst vorübergehend aufgehoben, verdrängt durch die unmittelbare Gefahr, die ihm von dem Mann irgendwo über ihm drohte. Höher und höher stieg er, schon tauchte rechts die Tür zur Glockenstube auf, als er über sich eine Stimme hörte:
«Nur weiter, Mr. Morse. Schöner Blick von hier oben.»
«Ich will mit Ihnen reden», rief Morse. Er stützte sich rechts und links an den Wänden ab und sah in den Turm hinauf. Sekundenlang drohte er das Gleichgewicht zu verlieren, als er durch das kleine Fenster zu seiner Linken die Passanten weit unten auf dem Cornmarket erkannte. Doch da kam ein rauhes Gelächter von oben, und er riß sich zusammen.
«Ich will mit Ihnen reden», wiederholte Morse und stieg noch sechs Stufen höher. «Nur reden, klar? Draußen warten meine Leute. Seien Sie doch vernünftig, Mann.»
Keine Antwort.
Wieder tauchte links ein Fenster auf. Er sah praktisch senkrecht auf den Passantenstrom hinunter. Merkwürdigerweise konnte Morse jetzt den Blick nach unten riskieren, ohne daß ihn Panik ergriff. Nur in das Warenhaus gegenüber zu blicken, wo bestimmt der gute Lewis noch immer mit unerschütterlicher Wachsamkeit die Tür am Nordportal im Visier hatte — das brachte er nicht fertig.
Noch einmal sechs Stufen, und noch einmal sechs.
«Die Tür ist offen, Mr. Morse. Es ist nicht mehr weit.» Wieder das irre Gelächter, aber leiser diesmal. Bedrohlicher. Auf der vorletzten Stufe, vor der weit geöffneten Tür, blieb Morse stehen.
«Hören Sie mich?» fragte er schwer atmend. Betrübt konstatierte er, wie schlecht seine Kondition geworden war.
Wieder keine Antwort.
«Muß eine Heidenarbeit gewesen sein, hier eine Leiche hochzuschleppen.»
«Ich hab mich immer fit gehalten, Mr. Morse.»
«Trotzdem... Ein Jammer, daß die Leiter nicht mitgemacht hat, dann hätten Sie nämlich beide in der Krypta verstecken können.»
«Das haben wir aber schlau beobachtet.»
Hinter der Tür hatte sich der Mann offenbar nicht versteckt. Morse wagte sich noch einen Schritt vor, dann sah er ihn. Er stand, Morse zugewandt, an der Nordseite des Turms, etwa zehn Meter entfernt, auf dem schmalen Umgang, über dem sich das pyramidenförmige Dach erhob. Wie groß die Wetterfahne ist, dachte er — und sekundenlang glaubte er an einen bösen Traum, aus dem er jeden Augenblick erwachen mußte.
«Kommen Sie herunter. Hier können wir nicht reden», sagte Morse freundlich, aber eindringlich. Jetzt endlich kannte er die ganze Wahrheit, und es blieb ihm nur noch, den Mann sicher nach unten zu bringen. «Los, kommen Sie. Dann können wir miteinander reden.» Morse erklomm die letzte Stufe. Der Wind zerrte an seinem spärlicher werdenden Haar.
«Wir reden jetzt, Morse, oder gar nicht. Ist das klar?» Der Mann schwang sich auf die Brüstung zwischen zwei Zinnen und ließ die Beine baumeln.
«Machen Sie keine Dummheiten.» Morses Stimme verriet jähes Erschrecken. «Damit ist keinem geholfen, das ist kein Ausweg für Sie. Was Sie auch sein mögen — ein Feigling sind Sie nicht.»
Mit den letzten Worten hatte er offenbar eine Saite zum Schwingen gebracht, die noch Klang hatte, denn der Mann sprang leichtfüßig von der Brüstung herunter.
«Stimmt, Mr. Morse», sagte er ruhig. «Nicht ganz ungefährlich, sich da hinzusetzen, besonders bei diesem Wind.»
«Nun kommen Sie schon.» Morses Gedanken rasten. Jetzt kam alles darauf an, daß er das Richtige sagte und tat. Bestimmt gab es in psychiatrischen Lehrbüchern ein paar Sätze, mit denen sich die Wut eines rasenden Löwen besänftigen ließ, aber sein Gehirn brachte solche Zauberformeln nicht zustande. «Kommen Sie», sagte er und als kleine Variante: «Nun kommen Sie aber.» So abgegriffen diese Worte auch waren — Morse merkte, daß er auf dem richtigen Weg war. Der Mann zögerte, schien ein wenig vernünftiger zu werden.
«Kommen Sie», wiederholte Morse und tat einen Schritt. Und noch einen Schritt. Und noch einen. Noch immer stand der Mann regungslos da, mit dem Rücken an der Wand. Jetzt trennten sie nur noch ein, zwei Meter. Morse tat den nächsten Schritt. «Nun kommen Sie schon.» Er streckte die Hand aus wie nach einem Seiltänzer, der einen langen, gefahrvollen Weg auf dem Drahtseil hinter sich hat und die Sicherheit zum Greifen nah vor sich sieht.
Fauchend warf sich der Mann auf Morse und packte ihn mit unentrinnbarem Griff an der Schulter. «Niemand hat mich je einen Feigling genannt», zischte er. «Niemand.»
Morse gelang es, mit beiden Händen dem Mann in den Vollbart zu greifen und ihn Zoll für Zoll zurückzuziehen, bis sie beide das Gleichgewicht verloren und schwer gegen das schräge Bleidach der Turmspitze fielen. Morse war hilflos unter seinem Angreifer eingeklemmt. Er spürte starke Hände an seinem Hals, spürte Daumen, die sich tief in sein Fleisch preßten. Verzweifelt packte er die Handgelenke seines Gegners, konnte vorübergehend dem furchtbaren Druck Einhalt gebieten. Er hatte die Zähne zusammengebissen, die Lippen waren verzerrt, die Augen fest geschlossen, als könne er dadurch ein paar zusätzliche Sekunden Zeit, ein bißchen zusätzliche Kraft gewinnen. Das Blut klopfte in seinen Ohren, es hörte sich an, als hämmere jemand an eine schwere Tür, die sich nicht öffnen wollte. Von irgendwoher hörte er ein Klirren wie von zersplitternden Milchflaschen, er registrierte den Laut kühl und nüchtern, als arbeite l sein Gehirn unabhängig von dem übrigen Körper, als betrachte es die Ereignisse mit objektiver Distanz, ohne jede Angst oder Panik. Er sah die Szene gestochen scharf vor sich. Er fuhr auf der schnellen, schmalen Geraden von Oxford nach Bicester durch die Nacht, ein Strom von Fahrzeugen kam ihm entgegen, immer näher, die Scheinwerferpaare schwankten leicht in einer kontinuierlichen Reihe gelber Kreise, immer näher kamen sie... und dann waren sie vorbei. Doch da kam ihnen schon wieder ein Fahrzeug entgegen, diesmal auf der falschen Seite, er blinkte, war schon fast heran... Doch erstaunlicherweise lagen seine Hände ganz ruhig auf dem Lenkrad... Vielleicht war das eins der bestgehüteten Geheimnisse des Todes? Vielleicht war die Angst vor dem Sterben, ja, das Sterben selbst wirklich nur eine große Täuschung... Die Scheinwerfer wurden zu gelben Scheiben, die in seinem Kopf kreisten, und dann schlug er die Augen auf und sah nur den bedeckten Himmel über sich. Er hatte die Knie angezogen, sie berührten den Bauch seines Gegners. Aber das Gewicht, das auf ihm lag, war so erdrückend, daß er keine Hebelkraft besaß. Wenn er es schaffte, Arme und Knie zu koordinieren, konnte er den Mann vielleicht doch aus dem Gleichgewicht bringen, zur Seite rollen und ein paar Sekunden den Hals von dem Druck dieser erbarmungslosen Hände be- freien. Aber er war mit seiner Kraft fast am Ende, die Armmuskeln schmerzten, jeden Augenblick würde sein Körper kapitulieren. Schon entspannte er sich, der Kopf lag jetzt fast bequem auf der kalten Dachfläche. Riesig, diese Wetterfahne. Wie konnte nur jemand mit so einem Gewicht auf den Schultern die Wendeltreppe bis in diese Höhe steigen?
Zum letztenmal wurde ihm seine Lage voll bewußt, noch ein paar Sekunden hielt er die Handgelenke seines Angreifers fest, nahm er all seine Kraft zusammen. Doch er hatte keine Reserven mehr. Langsam lockerte sich der Griff um das Lenkrad, er schloß die Augen vor den Lichtern der entgegenkommenden Wagen, die ihn blendeten. Er dachte an die letzten Worte des letzten Liedes von Richard Strauss: «Ist dies etwa der Tod?»