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«Was machst du denn hier?» fragte sie scharf. «Ich habe dich gar nicht kommen hören.»
«Glaub ich gern. Ich bin schon lange hier. War oben auf dem Turm. Ganz schön kalt, aber der Blick ist phantastisch. Ich schau gern auf Dinge herab — und auf Menschen.»
(Warum nur hatte Lewis wie hypnotisiert ausschließlich auf die Tür gestarrt...)
«Aber du mußt weg, hier kannst du nicht bleiben. Du dürftest überhaupt nicht aus dem Haus gehen.»
«Du machst dir zu viel Gedanken.» Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog sie an sich.
«Sei nicht albern», flüsterte sie rauh. «Ich hab dir doch gesagt... wir haben abgemacht...»
«Keine Angst, mein Schatz, die Tür ist zu. Ich habe sie eigenhändig abgeschlossen. Außer uns ist keiner da. Komm, setzen “ wir uns einen Augenblick.»
Sie stieß ihn zurück. «Ich hab dir doch gesagt, es muß ein! Ende haben.» Ihre Lippen zuckten, sie war den Tränen nah. «Ich halte das nicht mehr aus, ich kann nicht mehr. Du mußt weg.» |
«Natürlich, deshalb bin ich ja hier. Jetzt setz dich, Ruth, oder ist das zuviel verlangt?» Seine Stimme war seidenweich, überredend.
Sie ließ sich auf die Kirchenbank sinken, und der Mann setzte sich neben sie, keine drei Meter vom Beichtstuhl entfernt. (Morse sah, daß der Mann gute braune Schuhe trug, die aber offenbar viele Wochen lang nicht mehr geputzt worden waren.) Eine Weile schwiegen sie beide. Der Mann hatte den Arm auf die Banklehne gestützt, seine Hand umfaßte leicht ihre Schulter. (Morse sah, daß die Fingernägel sauber und gepflegt waren, sie erinnerten ihn an die Hände eines Geistlichen.)
«Du hast den Artikel gelesen», sagte sie tonlos. Es war keine Frage.
«Wir haben beide den Artikel gelesen.»
«Du mußt mir die Wahrheit sagen. Hast du...» Ihre Stimme schwankte. «...hast du etwas damit zu tun?»
«Ich? Soll das ein Witz sein? Das kannst du doch nicht von mir glauben, Ruth.» (Morse erkannte jetzt, daß der Mann schmuddelige graue Hosen und einen khakifarbenen Pullover mit ledernen Schulterstücken und hohem Halsansatz anhatte, so daß nicht zu erkennen war, ob er einen Schlips trug.)
Ruth hatte sich vorgebeugt, die Ellbogen auf die Lehne der Vorderbank gestützt, den Kopf in den Händen. Es sah aus, als bete sie. Vielleicht tat sie das wirklich. «Du sagst mir nicht die Wahrheit. Du hast sie umgebracht. Alle. Ich weiß es.» Sie war wie eine verlorene Seele in ihrem ausweglosen Jammer. Morse spürte tiefes, brennendes Mitleid, aber er zwang sich, noch abzuwarten. Am Tag zuvor hatte er die Wahrheit hinter der grausigen Serie der Todesfälle geahnt — und jetzt, wenige Meter von ihm entfernt, saß jemand, der ihm diese Ahnung bestätigen würde.
Der Mann leugnete die Vorwürfe nicht. Er griff sich mit der rechten Hand an den Hals und wandte das Gesicht ab. (Es war, wie Morse vorhin gesehen hatte, das Gesicht eines Mannes von Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig, durch das lange, ungepflegte, fast schwarze Haar und den Vollbart zogen sich zahlreiche weiße und graue Strähnen.)
Das also war die Erklärung. Es war alles sehr einfach. So einfach, daß Morse es vom Verstand her zunächst nicht hatte glauben wollen und die abwegigsten, verwickeltsten Lösungen gesucht hatte (und auch fast gefunden hätte). Wer war der Mann neben Ruth Rawlinson? Na, Morse, wird’s bald? Ja, natürlich: Es war Lionel Lawsons Bruder, Philip Lawson. Eine Figur, mit der die besseren Krimi-Autoren nichts anfangen können, ein Mann, für den Morse nur Verachtung übrig hatte. Ein Mann, der ein nicht sehr gescheites Verbrechen um des geringsten Lohnes willen begangen hatte. Ein Herumtreiber und Parasit, der von Jugend an dem leidgeprüften Bruder das Leben schwergemacht hatte. Und der doch der Aufgewecktere, Beliebtere gewesen war. Ohne Moralbegriffe aufgewachsen, hatte er seine guten Anlagen durch ausschweifendes Leben verschüttet und sich dann wieder an seinen armen Bruder Lionel gehängt, dessen Schwächen er nur zu gut kannte und die er öffentlich preiszugeben drohte, was Lionel durch Milde und Güte und zweifellos auch materielle Zuwendungen zu verhindern gesucht hatte. Ja, und dann hatte eines Tages Lionel die Hilfe seines nichtswürdigen Bruders gebraucht und war bereit, ihn großzügig dafür zu bezahlen. Gemeinsam hatten die beiden Brüder den Mord an Harry Josephs geplant und ausgeführt — genau in dem Augenblick, als Paul Morris alle Register gezogen und brausend den letzten Vers von «Ehre sei Gott in der Höhe» oder ähnlichem angestimmt hatte. Fortissimo.
Das waren die Gedanken, die Morse durch den Kopf schossen, während der Mehrfachmörder vor ihm saß, den linken Arm auf die Banklehne gestützt, die rechte Hand noch immer an seinem Hals, neben sich noch immer in Gebetshaltung Ruth, die so rührend verletzlich wirkte.
Doch dann spürte Morse, wie sich seine Muskeln spannten und Adrenalin durch seinen Körper schoß. Der Mann hatte das schmale Ende einer Krawatte in der Hand, einer dunkelblauen Krawatte mit breiten scharlachroten Schrägstreifen, flankiert von schmaleren Streifen in Grün und Gelb. Und Morses dahinrasende Gedanken stoppten jäh, machten einen Salto rückwärts und waren einen Augenblick von dem Aufprall wie betäubt.
Und dann war für Gedanken keine Zeit mehr. Der Mann hatte der Frau den Schlips mit der Linken um den Hals gelegt, schon griff die Rechte nach — und Morse handelte. Es war Pech, daß die niedrige Tür des Beichtstuhls nach innen aufging. Er mußte in dem engen Raum mühsam herumklettern, und bis er draußen war, hatte er den Überraschungseffekt verschenkt. Ruth stieß einen gellenden Schrei aus, als die Schlinge um ihren Hals sich fester zog.
«Stehenbleiben», fauchte der Mann. Er sprang auf und zerrte Ruth mit sich. Der Schlips schnitt ihr tief ins Fleisch. «Ist das klar? Keinen Schritt weiter, sonst —»
Morse hörte ihn kaum. Er machte einen verzweifelten Satz auf die beiden zu, Ruth stürzte schwer in den Mittelgang, während Morse den Mann am rechten Arm packte und mit seiner nicht unbeträchtlichen Kraft versuchte, ihn auf den Rücken zu drehen. Doch mit fast spielerischer Leichtigkeit schüttelte sein Gegner ihn ab und sah ihn aus haßerfüllten Augen an.
«Ich kenne Sie», keuchte Morse. «Und Sie kennen mich, nicht wahr?»
«Ja, ich kenne dich, du Arschloch.»
«Es hat keinen Zweck, Mann, die Kirche ist umstellt», stieß Morse atemlos hervor. «Seien Sie vernünftig. Sie können hier nicht heraus. Machen Sie keinen Unsinn.»
Einen Augenblick stand der Mann regungslos da. Nur seine Augen waren in Bewegung. Mit der Logik des Wahnsinns peilte er die Lage, suchte nach einer verzweifelten Lösung. Dann schien etwas in ihm zu zerbrechen. Es war, als sei mit seinem plötzlich starr werdenden Blick der noch verbliebene Rest rationalen Denkens getilgt. Rasch, mit einer fast sportlichen Wendung, drehte er sich um, lief irre lachend durch die Kirche und verschwand hinter dem Vorhang der Sakristei.
In diesem Augenblick, pflegte Lewis später zu sagen, hätte es für Morse mehrere logische Handlungsmöglichkeiten gegeben. Er hätte zur Tür am Nordportal gehen und Lewis ein Zeichen geben können. Er hätte Ruth hinausbringen und die Kirche hinter sich abschließen können, seine Beute in die Enge getrieben und hilflos zurücklassend. Er hätte Ruth, sofern sie sich inzwischen erholt hatte, um Hilfe schicken und selbst als Wache Zurückbleiben können, bis Verstärkung eintraf. Doch Morse wählte keine dieser Möglichkeiten. Ein unbezwingbares Jagdfieber hatte ihn gepackt. Unerschrocken ging er zur Sakristei und schob den Vorhang zur Seite. Der Raum war leer. Morse rüttelte an der Tür, die zum Turm führte. Abgeschlossen. Er nahm seinen Schlüsselbund heraus, erwischte auf Anhieb den richtigen Schlüssel, trat vorsichtig zur Seite und öffnete die Tür. Auf der untersten Stufe der Wendeltreppe lag ein Uniformmantel, abgetragen und schmutzig, auf dem sorgfältig eine dunkle Sonnenbrille plaziert war.