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Am Samstag morgen kam Morse auf Seite zwei des längst überfälligen Obduktionsberichts über die auf dem Turm gefundene Leiche zu dem Schluß, daß er ebensogut die Chinesische Volkszeitung hätte lesen können. Ein gewisses Maß an Fachausdrücken war wohl unerläßlich, aber ein medizinisch nicht vorgebildeter Zeitgenosse konnte sich in dem Gewirr physiologischer Details unmöglich zurechtfinden. Immerhin war der erste Absatz noch allgemeinverständlich ausgedrückt, und Morse reichte den Bericht Lewis herüber.
Es handelt sich um die Leiche eines weißen Erwachsenen, brachyzephalischer Typ. Größe 1,69. Alter schwer zu schätzen, höchstwahrscheinlich aber zwischen 35 und 40. Haar hellbraun, wahrscheinlich eine Woche vor dem Tod geschnitten. Augenfarbe nicht mehr feststellbar. Zähne auffallend gut, starker Schmelz, nur eine Füllung (Sechser unten links). Besondere Kennzeichen: Nicht feststellbar, allerdings auch nicht auszuschließen. Das größte Hautstück, das aus dem unteren Spann (links) entnommen werden konnte, hat nur die Abmessungen...
Lewis gab den Bericht zurück. Er war nicht scharf darauf, an das Bild erinnert zu werden, das ihm der schmale Strahl der Taschenlampe auf dem Turm gezeigt hatte. Was ihm bevorstand, war schon unerfreulich genug. Er mußte sich nämlich mit den Plastiktüten beschäftigen, in denen die Überreste der Kleidung verwahrt waren, die der Tote getragen hatte. Morse hatte es abgelehnt, sich an diesem unappetitlichen Geschäft zu beteiligen, und ließ nur mäßiges Interesse erkennen, als er seinen Untergebenen befriedigt pfeifen hörte.
«Was haben Sie gefunden, Lewis? Ein Etikett mit seinem Namen und seiner Telefonnummer?»
«So was in der Art, Sir.» Mit einer Pinzette hob Lewis einen Papierstreifen hoch. Es war ein Busfahrschein. «Hat in der Brusttasche der Jacke gesteckt. Fahrschein für 30 Pence, am 26. Oktober. Dürfte der Fahrpreis von Kidlington nach Oxford sein.»
«Bestimmt inzwischen schon wieder teurer geworden», brummte Morse.
Lewis’ Augen funkelten vor Aufregung. «Das war der Tag, an dem Paul Morris verschwunden ist, stimmt’s?»
«Daten waren noch nie meine Stärke», sagte Morse.
Aber jetzt war Lewis voll in Fahrt. «Schade, daß er so gute Zähne hatte, Sir. Wahrscheinlich war er seit Jahren nicht mehr beim Zahnarzt. Trotzdem müßte es möglich sein—»
«Sie setzen da eine Menge als selbstverständlich voraus. Wir haben keinen Beweis dafür, wer der Mann ist. Und bis dahin —»
«Stimmt. Aber es ist auch sinnlos, vor dem, was klar auf der Hand hegt, die Augen zu verschließen.»
«Und das wäre?»
«Daß der Mann, den wir gefunden haben, Paul Morris ist», erklärte Lewis überzeugt.
«Nur weil irgendwelche Schulkinder sagen, daß er anthrazitfarbene Anzüge trug —»
«— und einen blauen Schlips.»
«Schön. Aber deshalb braucht er noch nicht Paul Morris zu sein. Sie treiben’s schon so schlimm wie ich, Lewis.»
«Glauben Sie, daß ich unrecht habe?»
«Das würde ich nicht sagen. Ich bin vielleicht nur ein bißchen vorsichtiger als Sie.»
Das war zum Lachen. Morse war, wie Lewis nur zu gut wußte, immer bereit, einen Schuß ins Blaue abzugeben. Und doch schien er jetzt für die Fakten blind zu sein. Ach, was sollte er sich groß aufregen...
Binnen zehn Minuten hatte Lewis festgestellt, daß Paul Morris in der Gemeinschaftspraxis von Kidlington in Behandlung gewesen war, und nachdem er die Leute dort höflich, aber deutlich unter Druck gesetzt hatte, suchte ihm der Seniorpartner der Praxis die Karteikarte heraus.
«Na?» fragte Morse, als Lewis aufgelegt hatte.
«Paßt recht gut. Achtunddreißig, 1,70 m, hellbraunes Haar...»
«Paßt auf eine Menge Leute. Der typische Durchschnittsmensch.»
«Ich habe fast den Eindruck, als ob Sie überhaupt nicht wissen wollen, wer der Mann ist.» Lewis stand auf und sah Morse ungewohnt verärgert an. «Tut mir ja leid, wenn das nicht zu einer Ihrer schlauen Theorien paßt, aber irgendwo müssen wir doch mal anfangen.»
Morse schwieg eine Weile, und als er den Mund aufmachte, schämte sich Lewis seines Ausbruchs.
«Begreifen Sie denn nicht, Lewis, warum ich immer noch hoffe, daß dieser faulende Kadaver nicht Paul Morris ist? Wenn Sie nämlich recht haben, müssen wir uns tummeln. Dann müssen wir die nächste Leiche suchen, alter Freund. Eine Leiche im Alter von etwa zwölf Jahren.»
Der Besitzer der Liegenschaft Home Close 3 in Kidlington hatte, wie Bell, die Grippe, gestattete aber Morse unter wiederholtem Niesen, sich in dem Haus umzusehen, das nach dem Verschwinden von Morris an ein junges Ehepaar mit kleiner Tochter vermietet worden war. Als Lewis klopfte, rührte sich nichts. «Wahrscheinlich einkaufen», sagte er und setzte sich wieder neben Morse in den Dienstwagen.
Morse nickte und sah sich um. Die Bebauung der kleinen Straße stammte aus den dreißiger Jahren, etwa ein Dutzend Doppelhaushälften aus Backstein, denen man allmählich ihr Alter ansah. Besonders an den hölzernen Zäunen hatte der Zahn der Zeit schon ganz erheblich genagt.
«Sagen Sie mal, Lewis, wer hat Ihrer Meinung nach Josephs umgebracht?» fragte er plötzlich.
«Ich weiß, daß es keine besonders originelle Lösung ist, Sir, aber ich tippe auf den Stadtstreicher. Vermutlich war er auf das Kollektegeld aus, Josephs ist ihm in die Quere gekommen, und da hat er ihn erstochen. Eine andere Möglichkeit—»
«Aber warum hat Josephs nicht Zeter und Mordio geschrien?»
«Er hat ja versucht, um Hilfe zu rufen, Sir. Vielleicht war er über der Orgel nicht zu hören.»
«Könnte sein», sagte Morse so ernsthaft, als sei ihm plötzlich aufgegangen, daß es nicht unbedingt verkehrt war, sich auch einmal mit dem Naheliegenden zu beschäftigen. «Und was ist mit Lawson? Wer hat den umgebracht?»
«Sie wissen besser als ich, Sir, daß die Mehrzahl der Mörder sich entweder selbst stellt oder Selbstmord begeht. Es kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, daß Lawson sich selbst getötet hat.»
«Aber nach Ihrer Theorie hat Lawson Josephs gar nicht umgebracht. Sie sagten eben —»
«Eine andere Möglichkeit, wollte ich sagen, wäre, daß Lawson zwar Josephs nicht eigenhändig umgebracht hat, daß er aber für den Mord verantwortlich war.»
Morse sah seinen Untergebenen mit ungeheucheltem Interesse an. «Ach ja? Das müssen Sie mir schon ein bißchen genauer erklären, da komme ich nämlich nicht mehr mit.»
Lewis gestattete sich ein zufriedenes Lächeln. Es passierte nicht oft, daß Morse das Schlußlicht machte. Meist war er seinem Stallgefährten um drei oder vier Längen voraus. «Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Lawson diesen Penner dazu gebracht hat, Josephs umzubringen. Wahrscheinlich hat er ihm Geld dafür geboten.»
«Aber warum sollte Lawson Josephs umbringen wollen?»
«Josephs muß ihn irgendwie in der Hand gehabt haben.»
«Und Lawson muß diesen Penner in der Hand gehabt haben.»
«Ganz recht, Sir.»
Morse sah seinen Sergeant leicht verblüfft an. Er erinnerte sich an seine Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium. Da hatte er neben einem Jungen gesessen, dessen Blödheit sprichwörtlich war und der schon das zehnte Anagramm gelöst hatte, während er, Morse, noch über dem dritten brütete.
«Wie ich es sehe», fuhr Lewis fort, «hat Lawson sich doch rührend um ihn gekümmert, hat ihn verpflegt, gekleidet, untergebracht.»
«Hat gewissermaßen den Bruder für ihn gespielt, meinen Sie?»
«Wohl nicht nur gespielt, Sir.»
«Sie sollten nicht jeden Klatsch glauben, den Sie hören.»
«Und Sie sollten so was nicht automatisch abtun.»
«Wenn wir nur ein bißchen handfestere Beweise hätten, Lewis.» Und dann kam ihm, wie meist, die Erkenntnis in einem jähen Geistesblitz. Seit dem Besuch in Stanford hatte er ja seinen Beweis. Der Name «Swanpole» war mehrmals in Bells Unterlagen aufgetaucht, man nahm an, daß dies der Name des Mannes war, um den sich Pfarrer Lionel Lawson so liebevoll gekümmert hatte und der nach dem Mord an Josephs spurlos verschwunden war. Doch wenn die Gerüchte stimmten, hieß der Mann in Wirklichkeit Philip Edward Lawson, und ob man ein ziemlich schüchterner Knabe war, der sich mit seinem Fragebogen für die Aufnahmeprüfung mühte, oder ein säuerlicher Kriminalbeamter mittleren Alters in einem Streifenwagen — die Tatsache blieb, daß Swanpole ein Anagramm für P. E. Lawson war.
«Das dürften sie sein», sagte Lewis leise. Tatsächlich bestätigte die hochschwangere, schlampig gekleidete junge Frau, die ein zweijähriges Kind über den Gehsteig zerrte, daß sie in der Home Close 3 wohne. Ja, dies sei ihre Tochter Eve, und wenn der Hauswirt nichts dagegen hatte, könnten sie gern hereinkommen und sich umsehen.
Morse lehnte die angebotene Tasse Tee ab und ging nach hinten in den Garten. Dort war offensichtlich jemand sehr fleißig gewesen. Das Gelände war gründlich umgegraben worden, und die Zinken der Grabgabel und der untere Teil des Spatens in dem kleinen Geräteschuppen waren spiegelblank.
«Ihr Mann ißt wohl gern selbst angebautes Gemüse», sagte Morse leichthin, während er sich auf der Matte an der Hintertür die Schuhe abputzte.
Sie nickte. «Vorher war das alles Rasen, aber bei den heutigen Preisen...»
«Sieht aus, als wäre er zweimal drübergegangen.»
«Stimmt. Es hat eine kleine Ewigkeit gedauert, aber anders geht es nicht, sagt er.»
Morse, der kaum eine Zuckererbse von einer Stangenbohne unterscheiden konnte, nickte weise und nahm dankbar zur Kenntnis, daß er den Garten abhaken konnte.
«Kann ich wohl mal eben nach oben gehen?»
«Aber ja. Wir benutzen nur zwei Schlafzimmer, wie die Leute, die vor uns hier gewohnt haben. Aber man kann nie wissen...» Morse warf einen Blick auf ihren gewölbten Leib und überlegte, wie viele Schlafzimmer sie wohl noch brauchen würde, ehe ihre Gebärfähigkeit zu Ende war.
In Eves Zimmer roch es nach Urin, und Morse rümpfte an-1 geekelt die Nase, während er sich über die nackten Dielenbretter beugte. Die Donald Ducks auf den frisch tapezierten Wänden schienen sich über seine ziellose Erkundung lustig zu machen. Er ging schnell hinaus und machte die Tür hinter sich zu.
«In den anderen Räumen ist auch nichts, Sir», sagte Lewis, als er auf dem kleinen Treppenvorplatz wieder zu Morse stieß. Dort waren die Wände in hellem Beige gestrichen, die Balken in weißem Lack abgesetzt. Morse, dem die Farbkombination gefiel, sah zur Decke — und stieß einen leisen Pfiff aus. Direkt über seinem Kopf war eine kleine rechteckige Falltür, die ebenfalls liebevoll gestrichen war.
«Haben Sie eine Leiter?» rief Morse nach unten.
Zwei Minuten später steckte Lewis den Kopf durch die Luke und leuchtete mit einer Taschenlampe zwischen den Dachsparren herum. Hier und da fiel das Nachmittagslicht durch Ritzen zwischen nicht ganz sauber gelegten Ziegeln, aber ansonsten wirkte der überraschend große Dachboden düster und sehr still, als Lewis sich vorsichtig hochzog und von Balken zu Balken ging. Zwischen der Falltür und dem Schornsteinkasten stand eine große Truhe, und als Lewis den Deckel aufklappte und die — angeschimmelten Buchdeckel anleuchtete, krabbelte eine dicke schwarze Spinne rasch außer Reichweite. Aber Lewis hatte nichts gegen Spinnen. Er sah gewissenhaft nach, ob in der Truhe tatsächlich nur Bücher waren, dann stöberte er in dem übrigen Trödel herum. Er fand einen zusammengerollten Union Jack an einer langen blauen Stange. Ein altes Feldbett, das noch aus der Zeit von Baden-Powell zu stammen schien. Ein brandneues, aus unerfindlichen Gründen mit braunem Klebestreifen repariertes ' Klobecken. Einen antiquierten Teppichkehrer. Zwei Rollen gelbes Isolierband. Und ein großes, undefinierbares Bündel, das zwischen Balken und Dachschräge steckte. Lewis beugte sich vor und streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen berührten etwas Weiches, der Lichtstrahl erfaßte einen schwarzen Schuh; die Schuhspitze, die an einem Ende heraussah, war mit grauem Staub bedeckt.
«Was gefunden?» Lewis antwortete nicht. Die Schnur, die das Bündel zusammenhielt, riß, als er daran zog, und vor ihm lag eine Kollektion guter Kleidung: Hosen, Hemden, Unterwäsche, Socken, Schuhe und ein halbes Dutzend Schlipse, darunter einer in hellem Cambridge-Blau.
Lewis’ ernstes Gesicht zeigte sich in der Luke. «Am besten kommen Sie selber mal hoch, Sir.»
Sie fanden noch eine Rolle mit ganz ähnlicher Kleidung, nur kleiner. Die beiden Paar Schuhe sahen aus, als könnten sie einem etwa elf- bis zwölfjährigenjungen passen. Auch ein Schlips war dabei. Ein Schlips in den Farben der Roger Bacon-Gesamtschule.