18
Am nächsten Morgen holte das Läuten des Telefons neben seinem Bett Morse aus dem Schlaf. «Mich haben die Kollegen aus Oxford angerufen», ließ sich Superintendent Strange von der Thames Valley Police vernehmen. «Liegen Sie noch im Bett?»
«Aber nein. Ich tapeziere gerade das Badezimmer, Sir.»
«Ich denke, Sie haben Urlaub.»
«Man muß ja seine Mußestunden nutzbringend—»
«Mit nächtlichen Kletterpartien auf Kirchturmspitzen zum Beispiel?»
«Das wissen Sie?»
«Ich weiß noch mehr, Morse. Bell hat die Grippe. Und da Sie offenbar den Fall sowieso schon übernommen haben, wollte ich fragen, ob Sie — na ja, den Fall übernehmen wollen. Offiziell, meine ich.»
Morse setzte sich bolzengerade auf. «Das hört man gern, Sir. Wann —»
«Sofort. Am besten arbeiten Sie von St. Aldates aus, die haben! alle Akten, und Sie können Bells Büro nehmen.»
«Kann ich Lewis haben?»
«Ich denke, den haben Sie schon.»
Morse strahlte. «Vielen Dank, Sir. Ich zieh mir nur schnell was an und —»
«Tapezieren Sie im Schlafanzug, Morse?»
«Nein, Sir, Sie kennen mich doch. Beim ersten Hahnenschrei raus —»
«—und mit der letzten Henne ins Bett, ich weiß. Würde uns ganz gut zu Gesicht stehen, wenn Sie diese komische Geschichte aufklären könnten. Also raus aus den Federn, ja?»
Fünf Minuten später erfuhr Lewis die frohe Botschaft. «Was machen Sie heute, alter Freund?»
«Ich hab meinen freien Tag, Sir, ich will mit der Frau —»
«Was wollten Sie?»
Der Unterschied zwischen Präsens und Imperfekt war Lewis s nicht entgangen. Ganz vergnügt nahm er seine Anweisungen entgegen. Besuche bei seiner mümmelnden Schwiegermutter waren ihm ohnehin ein Greuel.
Der Lancia brauchte nur eineinhalb Stunden für die etwa 80 Meilen nach Stamford in Lincolnshire, wo die Lawson-Sippe seit mehreren Generationen ansässig war. Der Tacho war ein paarmal über die 130-Stundenkilometer-Marke geklettert. Sie rollten durch Brackley, Silverstone und Towcester, vorbei an Northampton, wanden sich durch Kettering und sahen von Easton Hill auf Stamford herunter, dessen Häuser aus grauem Stein so gut mit den Türmen der vielen alten Kirchen harmonierten. Unterwegs hatte Morse, der bester Laune war, für Lewis den Hintergrund der Morde in St. Frideswide’s skizziert. Doch jetzt war der Himmel bleigrau und verhangen, und der Anblick Tausender abgestorbener Ulmen, die in Northamptonshire die Straße säumten, gemahnte sie düster an die Wirklichkeit.
«Es heißt, die Bäume hätten Selbstmord begangen», hatte Lewis unterwegs gesagt. «Sie sondern eine Art Sekret ab und versuchen —»
«Es ist nicht immer leicht, zwischen Mord und Selbstmord zu unterscheiden», sagte Morse halblaut.
Am späten Nachmittag hatten die beiden eine recht brauchbare Sammlung von Daten über den toten (und offenbar kaum betrauerten) Lionel Lawson zutage gefördert. Die alten Lawsons hatten zwei Söhne gehabt, Lionel Peter und den anderthalb Jahre jüngeren Philip Edward. Beide hatten mit einem Stipendium eine etwa zehn Meilen entfernte Privatschule besucht, beide hatten während ihrer Schulzeit die Woche über im Internat der Schule gewohnt, die Wochenenden aber bei den Eltern verbracht, die einen kleinen, auf die Restauration alter Bauwerke spezialisierten Handwerksbetrieb führten. Die beiden Jungen waren in der Schule gut zurechtgekommen, wobei Philip offenbar die besseren Anlagen besaß, aber weit weniger Fleiß und Ehrgeiz entwickelte. Nach dem Schulabschluß hatten sie beide achtzehn Monate Wehrdient absolviert, und in der Army hatte der von jeher schwerblütigere Lionel einen besonders überzeugend psalmodierenden geistlichen Herrn kennengelernt und die Überzeugung gewonnen, er sei zum Seelenhirten berufen. Nach der Entlassung hatte er ein Jahr fleißig zu Hause studiert und war dann in Cambridge zum Theologiestudium angenommen worden. Philip hatte zunächst im Betrieb seines Vaters gearbeitet, für diese Tätigkeit offenbar aber wenig Begeisterung aufbringen können. Schließlich hatte er sich ganz von seinem Elternhaus gelöst und kam nur noch gelegentlich zu Besuch. Doch er hatte kein eigentliches Lebensziel und keinen Beruf, und es bestand wenig Aussicht, daß er das eine oder das andere noch finden würde. Vor fünf Jahren waren Lawson senior und seine Frau auf der Rückreise von einem Urlaub in Südjugoslawien bei dem berühmt-berüchtigten Flugzeugunglück in Zagreb ums Leben gekommen, das Familienunternehmen war verkauft worden, und jeder Sohn hatte etwa 50 000 Pfund netto geerbt.
Morse und Lewis hatten den Tag vorwiegend mit getrennten Ermittlungen verbracht. Erst zu dem letzten Punkt auf ihrer Liste, dem Gespräch mit dem früheren Direktor der Schule, auf die die Lawson-Söhne gegangen waren, kamen sie wieder zusammen.
Dr. Meyers Redeweise verriet den alten Schulmeister, sie war gemessen und mit reichlich Latein durchsetzt, und seine größte Angst schien zu sein, sich ungenau auszudrücken. «Ein gescheiter Bursche, der Philip. Wäre er nur ein bißchen fleißiger und stetiger gewesen, hätte etwas aus ihm werden können.»
«Sie haben keine Ahnung, wo er jetzt steckt?»
Der alte Herr schüttelte den Kopf. «Lionel war da ganz anders. Er hat geschuftet wie ein Pferd, wenn ich das mal so volkstümlich ausdrücken darf. Sein größter Wunsch war, ein Stipendium für Oxford zu bekommen, aber...» Er unterbrach sich unvermittelt.
Morse half vorsichtig nach. «Wie lange war Lionel in der Oberstufe?»
«Drei Jahre, wenn ich mich recht erinnere. Er hat nach zwei Jahren die Reifeprüfung gemacht und auch bestanden. Kurz danach hat er sich für die Oxford-Aufnahmeprüfung gemeldet, aber ich hatte wenig Hoffnung für ihn. Seine geistige Ausrüstung war nicht... nicht ganz Alpha-Potential. Ich wurde natürlich verständigt. Ein Stipendium könnten sie ihm nicht geben, hieß es, aber seine Leistungen zeigten durchaus vielversprechende Ansätze. Sie rieten ihm, noch ein Jahr anzuhängen und einen zweiten Anlauf zu machen.»
«War er sehr enttäuscht?»
Der alte Herr warf Morse einen durchdringenden Blick zu und brachte bedächtig seine Pfeife wieder in Gang. «Wie meinen Sie das, Inspector?»
Morse zuckte die Schultern, als messe er der Sache weiter keine Bedeutung bei. «Sie haben vorhin gesagt, er sei sehr ehrgeizig gewesen.»
«Ja, das war er», sagte der alte Herr nachdenklich.
«Er blieb also noch ein Jahr auf der Schule.»
Lewis rutschte etwas unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Wenn das so weiterging, waren sie frühestens um Mitternacht zu Hause. Es war, als stünden Morse und Meyer am Billardtisch und spielten beide auf Nummer Sicher. Morse machte den nächsten Stoß.
«Und dann hat er die Reifeprüfung wiederholt?»
Meyer nickte. «Die Ergebnisse waren nicht ganz so gut wie im Jahr davor, wenn ich mich recht erinnere, aber das hat man öfter.»
«Sie meinen, er hatte mehr Lampenfieber wegen der Oxfordprüfung?»
«Ja, das war wohl der Grund.»
«Aber er hat es wieder nicht geschafft?»
«Ähem... nein.»
Lewis merkte, daß Morse etwas beschäftigte. Hatte er eine heiße Spur? Nein, wohl doch nicht. Morse war aufgestanden und zog seinen Mantel an. «Sonst können Sie mir nichts über ihn sagen?»
Meyer schüttelte den Kopf und machte Anstalten, seine Besucher hinauszubringen. Er war klein und weit über achtzig, aber seine Haltung forderte noch immer Respekt, ja Unterordnung. Lewis hatte gehört, daß Meyer an seiner Schule ein strenges Regiment geführt hatte. Angeblich hatten Schüler und Lehrer gleichermaßen vor ihm gezittert. Nachdem Lewis ihn kennengelernt hatte, konnte er sich das durchaus vorstellen.
«Gar nichts?» wiederholte Morse, als sie an der Tür standen.
«Nein, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.»
Hatte er das <kann> etwas stärker als nötig betont? Lewis fand sich wieder mal nicht zurecht.
Auf der Rückfahrt war Morse zunächst schweigsam. Als er schließlich den Mund aufmachte, konnte sich Lewis nur wieder wundern.
«An welchem Tag ist Lionel Lawson von der Schule abgegangen?»
Lewis sah in seinem Notizbuch nach. «Am 8. November.»
Morse nickte nachdenklich. «Sagen Sie mir Bescheid, wenn wir an einer Telefonzelle vorbeikommen.»
Als Morse zehn Minuten später wieder einstieg, sah Lewis ihm an, daß er sehr mit sich zufrieden war.
«Erfahre ich auch den neuesten Stand, Sir?»
«Aber ja.» Morse warf seinem Sergeant einen leicht überraschten Seitenblick zu. «Wir sind doch Partner, wir ziehen an einem Strang. Sehen Sie, der junge Lionel Lawson war ein ehrgeiziger kleiner Streber. Der hebe Gott hatte ihm nicht allzuviel Grips mitgegeben, aber das machte er durch harte Arbeit wieder wett. Er will unbedingt nach Oxford. Warum auch nicht? Es ist ein ehrenwertes Ziel. Der erste Versuch mißlingt. Der Junge läßt nicht locker. Er bleibt noch ein Jahr an der Schule und paukt den Prüfungsstoff. Im Herbsttrimester geht er noch mal an die Schule zurück, weil dann die Aufnahmeprüfung fällig ist. Er macht sich zum Endspurt bereit.»
«Und schafft es wieder nicht.»
«Sehr richtig. Aber nicht deshalb, weil er die Prüfung nicht bestanden hätte. Lawson, L., ist am 8. November von der Schule abgegangen, sagen Sie. Dann will ich Ihnen mal was erzählen. In dem Jahr war die Aufnahmeprüfung in der ersten Dezemberwoche, ich habe eben in Oxford angerufen. Und Lawson, L., war nicht zur Prüfung gemeldet.»
«Vielleicht hatte er seine Meinung geändert.»
«Vielleicht nicht ganz freiwillig?»
Lewis begann zu begreifen. «Sie meinen, er ist relegiert worden?»
«Ja, so denke ich mir das. Deshalb war der alte Meyer so zugeknöpft. Er wußte mehr, als er uns sagen wollte.»
«Aber beweisen können wir das nicht.»
«Stimmt. Aber in unserem Beruf braucht man außerdem noch eine Portion Phantasie, und die lassen wir jetzt mal ein bißchen spielen. Warum fliegt ein Junge normalerweise von der Schule?»
«Drogen?»
«Gab es damals noch nicht.»
«Tja, dann weiß ich nicht, Sir. Ich war ja nicht auf einer Privatschule mit Griechisch und Latein. Wir haben die drei Grundfertigkeiten gelernt, Lesen, Schreiben, Rechnen, und damit war Schluß.»
«Uns interessieren drei andere Grundfertigkeiten — Schikanieren, Schlagen, Schwuchteln. Lawson, L., war nach allem, was man so hört, ein braver Knabe, und ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihn rausgesetzt haben, weil er schikaniert oder geschlagen hat. Was meinen Sie?»
Lewis schüttelte bekümmert den Kopf. Er kannte das schon. «Sie können so was nicht einfach aus der Luft greifen, Sir, das ist nicht fair.»
Morse zuckte die Schultern. «Dann eben nicht.» Der Tacho ging auf 140, als der Lancia über die Ortsumgehung von Northampton brauste.