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Die Entscheidung, nach Shrewsbury zu fahren, fiel spontan und willkürlich, als Morse auf dem Weg zurück nach St. Aldates war. Und während Lewis den Streifenwagen über den Kreisel an der Woodstock Road lenkte und auf die A 34 fuhr, machten sich beide insgeheim Gedanken über den Zeitplan. Es war schon zwanzig nach vier. Zwei Stunden bis Shrewsbury, wenn es einigermaßen gut lief. Zwei Stunden vor Ort, zwei Stunden für die Rückfahrt. Mit einigem Glück konnten sie gegen halb elf wieder in Oxford sein.
Morse sprach wie immer wenig während der Fahrt. Und Lewis war froh, daß er sich ganz auf den Verkehr konzentrieren konnte. Sie waren so rechtzeitig weggefahren, daß sie dem täglichen Massenexodus aus Oxford zuvorgekommen waren, der Viertel vor fünf einsetzt und eine Stunde den Verkehr fast völlig lahmlegt. Es hatte seine Vorteile, in einem auf den ersten Blick erkennbaren Polizeifahrzeug zu sitzen. Auch heute hielten sich die anderen Verkehrsteilnehmer plötzlich äußerst gewissenhaft an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, sobald sie den hellblau-weißen Wagen im Rückspiegel sahen. Sie legten eine Vorsicht und Rücksicht an den Tag, die in auffallendem Widerspruch zu ihrer sonstigen aggressiven Fahrweise stand.
Lewis bog von der A 34 links ab nach Chipping Norton, fuhr durch Bourton-on-the-Hill, Moreton-in-March und dann, während das Tal von Evesham sich in einem weiten Panorama vor ihnen öffnete, die lange Gefällstrecke nach Broadway hinunter, dessen Häuser aus Cotswold-Stein in warmem Gelb in der Nachmittagssonne leuchteten. In Evesham bestand Morse darauf, daß sie über Pershore fuhren, wo er sich an den roten Backsteinhäusern mit den weißen Fensterstürzen begeisterte, und in Worcester wies er Lewis in die Bromyard Road ein.
«Eine der schönsten Straßen Englands, das laß ich mir nicht nehmen», erklärte Morse, als sie nach Leominster auf die A 49 einbogen.
Lewis hüllte sich in Schweigen. Es war auch ein schöner Umweg, und wenn das so weiterging, waren sie nicht vor sieben in Shrewsbury. Aber als sie an Church Stretton vorbeifuhren, fand Lewis, daß Morse vielleicht gar nicht so unrecht hatte. Flinter dem Long Mynd ließ die Sonne, die noch abschiednehmend über den walisischen Bergen im Westen stand, den Abendhimmel rot erglühen, und das Weiß der Wolken wandelte sich zu zartestem Violett. Doch, wirklich, dachte Lewis, da ist schon was dran.
Es war halb acht, als sie endlich im Büro des Superintendent in Shrewsbury saßen, und als sie herauskamen, war es halb neun. Morse hatte wenig gesagt, Lewis noch weniger, beide wußten, daß das Gespräch reine Routine gewesen war. Der Verdacht richtete sich auf keine bestimmte Person, ein Motiv war nicht erkennbar. Die Mitarbeiterinnen waren der Toten mit kameradschaftlicher Sympathie begegnet, die Sympathie der Ober- und Assistenzärzte stand ebensowenig außer Zweifel, war allerdings wohl weniger kameradschaftlicher Art gewesen. An ihren pflegerischen Qualifikationen hätte selbst Florence Nightingale kaum etwas auszusetzen gehabt. Einer der Ärzte hatte am Vorabend mit ihr gesprochen, hatte neben ihr im Schwesternzimmer gesessen, sie hatten ein Kreuzworträtsel vor sich gehabt. Er war vermutlich der letzte gewesen, der sie — wenn man von dem Mörder absah — vor ihrem Tod gesehen hatte, aber es bestand kein Grund zu der Annahme, daß er in die Sache verwickelt war. Fest stand nur, daß jemand sie mit ihrem eigenen Gürtel brutal erwürgt hatte und für tot neben dem Bett hatte liegenlassen, von wo sie sich dann später zur Tür geschleppt und verzweifelt versucht hatte, um Hilfe zu rufen. Aber niemand hatte sie gehört, niemand war gekommen.
«Tja, dann sehen wir sie uns wohl am besten mal an», sagte Morse widerstrebend.
In der cremefarbenen gekachelten Leichenschauhalle der Polizei zog ein Constable ein Fach aus dem Stahlrahmengestell und nahm das Tuch von dem weißen, wächsernen Gesicht. Die weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen zeugten von einem qualvollen Tod. Am Hals und bis hinauf zum rechten Ohr verlief die grausige Spur des Gürtels.
«Wahrscheinlich Linkshänder», brummelte Lewis. «Das heißt — wenn er sie von vorn gewürgt hat.» Er sah sich um. Morse hatte die Augen geschlossen.
Fünf Minuten später, als sie sich im Vorraum den Inhalt der Taschen und der Handtasche der Toten ansahen, war Morse wieder bedeutend munterer.
«Die Handschrift dürfte sich leicht überprüfen lassen», meinte Lewis, als er sah, daß Morse den Brief aus Kidlington in der Hand hatte.
«Das wird kaum nötig sein.» Morse nahm sich die übrigen Sachen aus der Handtasche vor. Zwei Taschenkalender, ein Damentaschentuch, eine lederne Geldbörse, drei Essensmarken und die üblichen Gerätschaften weiblicher Verschönerungsbemühungen: Parfüm, Nagelfeile, Kamm, Handspiegel, Lidschatten, Lippenstift, Kosmetiktücher.
«Trug sie viel Make-up, als sie gefunden wurde?» fragte Morse.
Der Superintendent sah etwas betreten drein. «Etwas wohl, aber —»
«Sie war gerade vom Dienst gekommen, nicht? Dürfen sich denn Krankenschwestern so aufdonnern?»
«Sie meinen, daß sie vielleicht Besuch erwartet hat?»
Morse zuckte die Schultern. «Möglich wär’s.»
Der Superintendent nickte nachdenklich und fragte sich, warum er daran nicht selbst schon gedacht hatte. Aber Morse kümmerte sich nicht weiter darum, als sei es für ihn nicht mehr wichtig.
In der Geldbörse waren sechs Pfundnoten, etwa fünfzig Pence in Münzen und ein Busfahrplan. «Kein Führerschein», sagte Morse nur. Der Superintendent bestätigte, daß sie keinen Wagen besessen hatte.
«Sie hat sich sehr bemüht, ihre Spuren zu verwischen, Super. Vielleicht hatte sie Angst, jemand könnte sie finden.» Aber auch an diesem Gedankengang schien er schnell wieder das Interesse zu verlieren. Einer der Taschenkalender war vom laufenden, der andere vom vergangenen Jahr.
«Das Tagebuchschreiben à la Samuel Pepys war leider nicht ihre Sache», sagte der Superintendent. «Hier und da mal eine Notiz, aber nichts, was uns weiterhelfen würde, soweit ich sehe.»
Mrs. Brenda Josephs hatte beide Jahre mit den besten Vorsätzen begonnen. Die ersten Januartage waren ziemlich ausführlich dokumentiert. Aber auch Vermerke wie «Sechs Fischstäbchen» oder «Schwesternabend 20.30» brachten sie der Ergreifung ihres Mörders nicht viel näher. Mit säuerlicher Miene und einigermaßen ziellos blätterte Morse herum. Am Tag von Brendas Tod las er die Eintragung: Periode fällig. Rührend, aber bedeutungslos.
Lewis, der fand, daß er bei diesem Besuch bisher eine wenig konstruktive Rolle gespielt hatte, griff nach dem Kalender vom vergangenen Jahr und sah ihn in seiner gewohnt supergründlichen Art durch. Die Schrift war klar und deutlich, aber meist so klein, daß er das Büchlein auf Armeslänge von sich abhalten und mit zusammengekniffenen Augen anpeilen mußte. Praktisch an allen Sonntagen bis Mitte September waren die Buchstaben SF eingetragen. Die gleiche Abkürzung tauchte in diesem Zeitraum auch in der Woche in unregelmäßigen Abständen auf. Bei SF fiel Lewis zunächst nur Science Fiction ein, aber das war vermutlich abwegig. Außerdem erschienen von Juli bis September mit Bleistift geschriebene Ps, kaum zu erkennen auf der blauen Trennlinie zwischen den Wochentagen. Und zwar immer am Mittwoch.
«Was heißt SF, Sir?»
«St. Frideswide’s», antwortete Morse wie aus der Pistole geschossen.
Natürlich, das mußte es sein. Lewis fiel jetzt ein, daß Harry Josephs den Führerschein losgeworden war und daß ihn deshalb seine Frau immer zur Kirche gebracht hatte. Das kam hin. Sonntagvormittag zur Messe, dazwischen an den Wochentagen zu Heiligenfesten, Feiertagen und dergleichen.
«Und was bedeutet das P, Sir?»
Morse spulte die Vorschläge ab wie jemand, der allzu viele Stunden seines Lebens damit verbracht hat, Kreuzworträtsel zu lösen. «Präsident, Prinz, Paginierung, Partizip...»
«Sonst nichts?»
«Phosphor.»
Lewis schüttelte den Kopf. «Wahrscheinlich der Anfangsbuchstabe eines Namens. Es ist ein großes P.»
«Zeigen Sie mal her, Lewis.»
«Könnte es Paul sein, Sir? Paul Morris.»
«Oder Peter, wenn sie pädophil war.»
«Wie meinen Sie?»
«Schon gut.»
«Und immer am Mittwoch, Sir. Vielleicht wollte sie plötzlich öfter mit ihm zusammen sein...»
«Und dabei war ihr der Alte im Wege, und sie hat ihn umgebracht.»
«So unsinnig ist das gar nicht. Sie hat ausgesagt, daß sie an dem Abend im Kino war, nicht?»
«Hm.» Endlich schien Morses Interesse geweckt. «Wieviel muß man heutzutage für einen Kinobesuch anlegen?»
«Keine Ahnung. Ein Pfund? Eins fünfzig?»
«Teurer Film, wie? Sie kann höchstens eine Stunde dringewesen sein.»
«Wenn sie überhaupt hingegangen ist. Ich meine, sie war vielleicht gar nicht im Kino, sondern hat sich heimlich wieder in die Kirche geschlichen und —»
Morse nickte. «Wahrscheinlich hatte sie von allen das überzeugendste Motiv. Aber Sie haben etwas vergessen. Die Kirchentüren knarren wie verrückt.»
«Nur die am Nordportal.»
«Ach ja?» Morse interessierte sich offenbar nicht mehr für knarrende Türen, und Lewis fragte sich nicht zum erstenmal, weshalb sie eigentlich hergekommen waren. Sie hatten nichts erfahren, waren keinen Schritt weitergekommen.
«Es gibt noch ein P», sagte Morse plötzlich. «Wir haben Philip Lawson vergessen.»
Der Constable steckte Brenda Josephs’ Habseligkeiten wieder in die Plastiktüten, die er in einem mit Schildchen versehenen Schrank verwahrte. Morse bedankte sich bei dem Superintendenten für die Unterstützung, schüttelte ihm die Hand und setzte sich neben Lewis in den Wagen.
Auf der Straße nach Kidderminster, etwa sechs oder sieben Meilen südlich von Shrewsbury, meldete sich das vertraute Kribbeln. «Sagten Sie, daß Brenda Josephs notiert hat, wann sie ihren Mann zur Kirche brachte?»
«Sieht so aus, Sir. Und oft nicht nur sonntags.»
«SF hat sie hingeschrieben, sagten Sie?»
«Ja. Könnte St. Frideswide’s heißen, ganz wie Sie sagen. Scheint ziemlich klar zu sein.» Er sah rasch zur Seite. Morse starrte angespannt in die Dunkelheit hinaus. «Oder meinen Sie, es heißt was anderes?»
«Nein, es heißt nichts anderes. Wenden Sie, wir fahren zurück.»
Die Leuchtziffern der Uhr zeigten auf halb elf. Sogar nach der pessimistischsten Schätzung waren sie mit ihrem Zeitplan weit im Rückstand. Trotzdem wendete Lewis bei der nächsten Gelegenheit. Befehl ist Befehl.
Der Constable in der Leichenschauhalle machte den Schrank wieder auf. Komische Typen, diese Kollegen von außerhalb.
Morses Hand war nicht ganz sicher, als er nach dem vorjährigen Kalender griff und eine bestimmte Seite aufschlug. Dann lächelte er zufrieden.
«Vielen Dank, Constable, sehr nett von Ihnen. Ob ich den Kalender wohl mitnehmen könnte?»
«Tja, da weiß ich nicht, Sir... Der Super ist nicht mehr da, und...»
Morse hob die Rechte wie ein segnender Priester. «Schon gut. Ist nicht weiter wichtig.» Er wandte sich an Lewis. «Sehen Sie das da?» Er deutete auf Montag, den 26. September, den Tag, an dem Harry Josephs ermordet worden war. Lewis runzelte die Stirn, sah hin, sah noch einmal hin. Das Kalenderfeld war leer.
«Haben Sie Ihren Sherlock Holmes noch im Kopf, Lewis?»
Aber Lewis bekam gar keine Gelegenheit kundzutun, ob ihm diese berühmte Persönlichkeit der Kriminalliteratur vertraut war oder nicht, denn Morse schien ganze Holmes-Dialoge auswendig zu können und begann sogleich zu zitieren:
«<Gibt es irgendeinen Punkt, auf den Sie meine Aufmerksamkeit zu lenken wünschen?>
<Auf die eigenartige Begebenheit des Hundes in der Nacht.>
<Mit dem Hund hat sich in der Nacht gar nichts begeben.>
<Das eben war das Eigenartige.>»
«Aha», sagte Lewis verständnislos.
«Wieviel gibt der Schlitten her?» erkundigte sich Morse, während er wieder in den Streifenwagen stieg.
«Um die neunzig Meilen, auf gerader Strecke ein bißchen mehr.»
«Stellen Sie Blinklicht und Sirene an, wir müssen so schnell wie möglich nach Oxford zurück. Klar?»
Sie rasten durch das dunkle Land, durch Bridgnorth und Kidderminster, über die alte Worcester Road nach Evesham und waren in schier unglaublich kurzer Zeit wieder in Oxford. Fast auf die Minute eineinhalb Stunden hatten sie gebraucht.
«Zum Präsidium?» fragte Lewis, als er auf die Northern Ring Road einbog.
«Nein. Nach Hause, Lewis. Ich bin total erschossen.»
«Aber Sie haben doch gesagt —»
«Nicht heute, Lewis, ich bin fix und fertig.» Er zwinkerte Lewis zu, ehe er die Tür des Ford zuschlug. «Hat Spaß gemacht, was? Schlafen Sie gut. Morgen früh gibt es viel Arbeit.»
Lewis fuhr vergnügt davon. In seiner rechtschaffenen Seele wohnten nur wenige Sünden — aber schnelles Fahren war eine von ihnen.