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Am nächsten Mittag saß Morse allein im Bulldog gegenüber von Christ Church und las eine Frühausgabe der Oxford Mail. Die, Schlagzeile und drei Spalten auf der ersten Seite behandelten das Thema ZULIEFERSTREIK TRIFFT MÄNNER IN COWLEY, aber die Meldung LEICHE AUF KIRCHTURM GEFUNDEN war immerhin so dramatisch, daß sie noch einen Platz auf der unteren Hälfte der linken Spalte gefunden hatte. Morse schenkte sich die Lektüre. Er hatte vor zwei Stunden in Bells Büro gesessen, als ein Reporter der Mail angerufen hatte. Bell hatte sich zurückhaltend und streng sachlich geäußert. «Nein, wir wissen nicht, wer er ist. — Ja, ich sagte <er>. — Wie? Ja, ziemlich lange. — Kann ich im Augenblick nicht sagen. Die Obduktion ist heute nachmittag. — Nein, ich kann Ihnen nicht sagen, wer ihn gefunden hat. — Ja, sicher, da könnte eine Verbindung bestehen. — Nein, das ist alles. Wenn Sie wollen, können Sie morgen noch mal anrufen, vielleicht hab ich dann mehr für Sie.»

Was, wie Morse fand, eine reichlich optimistische Aussage gewesen war. Er blätterte um und las die Schlagzeile im Sportteil: United total versackt. Aber auch diesen Artikel führte er sich nicht zu Gemüte. Er war einigermaßen ratlos und brauchte Zeit zum Nachdenken.

In den Taschen des Toten hatten sie nichts gefunden, und der Anthrazitgraue Anzug, die Unterwäsche und der hellblaue Schlips hatten nur mit den bekannten Markenamen eines britischen Großkonzerns aufgewartet. Morse selbst hatte es abgelehnt, die «klebrige, stinkende Schweinerei», wie Bell sich ausgedrückt hatte, zu besichtigen, und hatte die Kaltblütigkeit des Polizeiarztes bewundert, der behauptete, der Mann - wer immer er sein mochte - sei lange nicht so abscheulich anzusehen gewesen wie manche Leichen, die sie in Gravesend aus dem Wasser zu ziehen pflegten.

Eins war klar: Es würde viel Mühe und Arbeit kosten, die Leiche zu identifizieren. Wohlgemerkt — Bell würde es viel Mühe und Arbeit kosten. Und Bell hatte ziemlich ungnädig bemerkt, Morse müsse doch eine Ahnung haben, wer der Mann sei. Schließlich und endlich habe er, Morse, Lewis auf den Turm gescheucht. Und wenn er so sicher gewesen war, daß er da eine Leiche finden würde, mußte er sich doch zumindest denken können, um wen es sich handelte.

Aber Morse wußte es wirklich, nicht. Dank einer seltsamen Verkettung von Umständen hatten sich seine Überlegungen auf den Turm von St. Frideswide’s konzentriert, und er war nur einem Instinkt gefolgt, der sogar seine chronische Höhenangst besiegt hatte. Daß er dort oben eine Leiche finden würde, damit hatte er nicht gerechnet. Oder etwa doch? Als Lewis ihm über das Dach hinweg die Kunde von seinem grausigen Fund zugerufen hatte, war Morse sofort der Pennbruder und seine karge Beute vom Kollektenteller eingefallen. Er hatte sich von Anfang an darüber gewundert, daß es der Polizei nicht gelungen war, ihn zu fassen. Solche Leute waren fast ausschließlich auf Wohltätigkeitsorganisationen und Sozialeinrichtungen angewiesen und amtlicherseits meist bestens bekannt. Konnte es nicht einen sehr einleuchtenden Grund dafür geben, daß die Ermittlungen nicht zum Ziel geführt hatten?

Morse holte sich noch ein Bier und wartete, bis die Trübung sich gesetzt hatte. Als er wieder an seinem Platz war, hatte siel auch in seinem Kopf einiges gesetzt. Es war wohl doch nicht der Pennbruder, den sie gefunden hatten. Dagegen sprach sein«Kleidung, besonders der hellblaue Schlips. Hellblau... Cambridge... Studenten... Lehrer... Morris...

 

 

Bell war noch im Büro.

«Wo ist Paul Morris abgeblieben?» fragte Morse.

«Vermutlich ist er mit Josephs’ Frau abgehauen.»

«Aber genau wissen Sie es nicht?»

Bell schüttelte den Kopf. Er sah müde aus. «Wir haben uns die größte Mühe gegeben, aber—»

«Haben Sie die Frau gefunden?»

Wieder schüttelte Bell den Kopf. «Wir sind da nicht allzu forsch rangegangen, Sie wissen ja, wie das ist. Morris unterrichtete an der Schule, an der auch sein Sohn war, und —»

«Daß Morris einen Sohn hat, haben Sie mir nicht erzählt.»

Bell seufzte laut. «Ihre Fragerei kann einem ganz schön auf den Geist gehen. Sie kommen her und präsentieren mir eine neue Leiche, für die ich weitere sechs Mann abstellen muß. Eben erfahre ich, daß sie bei Folly Bridge einen aus dem Fluß gezogen haben. In Jericho machen uns Hausbesetzer Ärger.» Er holte ein Taschentuch heraus und nieste heftig. «Und obendrein krieg ich noch die Grippe. Und da verlangen Sie, daß ich einem Typ nachgehe, von dem bekannt war, daß er sich in schöner Regelmäßigkeit mit Josephs’ besserer Hälfte getroffen hat, schon lange vor—»:

«Ach ja?» sagte Morse. «Warum stand das nicht in dem Bericht?»

«Jetzt hören Sie aber auf.»

«Vielleicht hat er Josephs umgebracht. Eifersucht. Ideales Motiv.»

«Verdammt noch mal, er hat an der Orgel gesessen, als —»

Wieder nieste Bell geräuschvoll.

Morse lehnte sich zurück und machte plötzlich ein sehr zufriedenes Gesicht. «Glauben Sie immer noch, daß es Lawson war, der vom Turm gefallen ist?»

«Ich sag Ihnen doch, Morse, er ist von zwei Zeugen identifiziert worden.»

«Ja, ich weiß. Von einer fast blinden Frau und von dem Mann, der mit Brenda Josephs durchgebrannt ist.»

«Hauen Sie ab, Mann.»

«Lassen Sie sich einen guten Rat geben, alter Freund. Wenn Sie mit Ihren Hausbesetzern fertig sind, sollten Sie sich ein paar Leute schnappen und Lawsons Sarg ausbuddeln lassen. Ich vermute - ich vermute wohlgemerkt! -, daß Sie Lawson darin gar nicht finden.» Er grinste boshaft und wandte sich zum Gehen.

«Das ist eine idiotische Bemerkung.»

«Ach ja?»

«Und so einfach ist das auch nicht.»Jetzt war es an Bell, boshaft zu grinsen.

«Nein?»

«Nein. Lawson ist nämlich verbrannt worden.»

Morse ließ kaum Überraschung oder Enttäuschung erkennen. «Ich hab mal einen Pfarrer gekannt —»

«Was Sie nicht sagen», bemerkte Bell bissig.

«—dem hatten sie im Ersten Weltkrieg einen Fuß amputiert. Er saß in einem Panzer fest, und sie mußten den Mann schnell rausholen, weil das Ding brannte. Und da haben sie seinen Fuß dringelassen.»

«Sehr interessant.»

«Als ich ihn kennenlernte, war er schon sehr alt», fuhr Morse fort. «Stand mit einem Fuß im Grab, sozusagen.»

Bell schob seinen Stuhl zurück. «Das können Sie mir gelegentlich mal erzählen.»

«Ja, und als das Gespräch auf die Vor- und Nachteile von Erd- und Feuerbestattungen kam, sagte der alte Knabe, ihm sei ziemlich egal, was sie mit ihm anstellten. Er habe gewissermaßen einen Fuß in beiden Lagern.»

Bell schüttelte einigermaßen ratlos den Kopf und kapierte überhaupt nichts mehr.

«Sagen Sie, wie hieß der Sohn von Paul Morris mit Vornamen?»

«Peter, glaube ich. Warum—»

Aber Morse zog ab, ohne Bell aufzuklären.

Am Ende des Cornmarket stand die Ampel auf Rot, und während Morse wartete, sah er wieder einmal zu dem Turm von St. Frideswide’s hoch, betrachtete das große Westfenster, das gestern abend mattgelb durch die Dunkelheit geleuchtet hatte, als er und Lewis... Einem plötzlichen Impuls folgend, bog er in die Beaumont Street ein und parkte vor dem Randolph. Sofort stürzte sich ein livrierter junger Schnösel auf ihn. «Hier können Sie Ihren Wagen nicht stehenlassen.»

«Ich kann den Scheiß wagen stehenlassen, wo ich will», fuhr Morse ihn an. «Und beim nächstenmal sagst du <Sir> zu mir, verstanden?»

 

 

Die Tür am Nordportal war abgeschlossen, und ein Schild verkündete: «Auf Grund einiger mutwilliger Zerstörungen im Lauf der letzten Monate sind wir zu unserem Bedauern genötigt, an • Wochentagen die Kirche in der Zeit von 11.oo bis 17.00 Uhr für Besucher geschlossen zu halten.» Morse hätte am liebsten den ganzen Satz umformuliert, aber er gab sich damit zufrieden, das <auf Grund> auszustreichen und <infolge> darüber zu schreiben. 1