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Ruth Rawlinson wich dem Blick des Mannes aus, leerte ihren zweiten Martini und starrte auf die Zitronenscheibe am Grund ihres Glases.

«Noch einen?»

«Nein, besser nicht, ich hatte schon zwei.»

«Na und? Wir leben nur einmal.»

Ruth lächelte traurig. Das sagte ihre Mutter auch immer. Du machst nichts aus deinem Leben, Ruthie. Versuch doch, mehr Kontakt zu anderen Leuten zu bekommen. Amüsier dich ein bißchen. Ihre Mutter. Knurrig, anspruchsvoll, krank — aber immerhin ihre Mutter, deren einziges Kind sie war, einundvierzig, fast zweiundvierzig Jahre alt, bis vor kurzem Jungfrau und dann unter wenig denkwürdigen Umständen defloriert.

«Noch einmal dasselbe?» Er war aufgestanden und griff nach ihrem Glas.

Warum nicht? Angenehme Wärme verbreitete sich in ihrem Inneren, und wenn sie heimkam, konnte sie sich ein paar Stunden hinlegen, wenn es sein mußte. Am Montag hatte Mutter ihren wöchentlichen Bridgenachmittag, und allenfalls ein Atomangriff auf Nord-Oxford hätte die vier boshaften alten Damen davon abhalten können, sich an dem kleinen, grün bespannten Kartentisch im Hinterzimmer um Trümpfe und Strafpunkte zu rangeln.

«Du wirst mich noch betrunken machen.»

«Stell ich mir ganz nett vor...»

Sie kannte ihn inzwischen recht gut. Da stand er an der Theke, in seinem teuren Anzug, ein paar Jahre älter als sie, drei halbwüchsige Kinder, eine charmante, intelligente Frau, die ihm vertraute. Und er wollte sie.

Aber aus irgendeinem Grunde wollte sie ihn nicht. Der Gedanke, mit ihm intim zu werden, widerstrebte ihr.

Sie sah sich um, und einen Augenblick blieb ihr Blick ganz hinten in der Ecke hängen. Aber Morse war nicht mehr da. Sie hatte sich bei dem Wunsch ertappt, er möge bleiben, möge einfach nur da sein. Natürlich hatte sie ihn erkannt, sobald sie hereingekommen war, und war sich seiner Gegenwart sehr intensiv bewußt gewesen. Würde sie mit ihm ins Bett gehen? Am meisten fesselten sie seine Augen. Blaugrau waren sie, kalt und doch J irgendwie verletzlich und verloren. Sei nicht albern, sagte sie sich. Du hast ja einen Schwips.

Während sie langsam ihren dritten Martini trank, kritzelte ihr Begleiter eifrig auf der Rückseite eines Bierfilzes herum.

«Schau dir das mal an, Ruth. Und — sei bitte ehrlich, ja?»

Sie las, was er geschrieben hatte.

«Kreuzen Sie an, was Ihrer Meinung nach Ihren Neigungen am nächsten kommt:

 

Ich gehe mit dir ins Bett

 

diese Woche

nächste Woche

dieses Jahr

nächstes Jahr

irgendwann

nie

 

Sie lächelte unwillkürlich, aber dann schüttelte sie langsam und ratlos den Kopf. «Das kann ich nicht beantworten.»

«Also nie?»

«Das habe ich nicht gesagt. Aber... du weißt ganz genau, was ich meine. Du bist verheiratet, und ich kenne deine Frau, Ich achte sie. Ich —»

«Kreuz einfach ein Kästchen an.»

«Aber —»

«Du hast Angst, mich zu enttäuschen, wenn du dich für das letzte entscheidest? Sei einfach ehrlich, Ruth. Zumindest weiß ich dann, woran ich bin.»

«Du weißt, daß ich dich mag, aber—»

«Du hast ja genug Auswahl.»

«Und wenn keine der Antworten die richtige ist?»

«Eine muß die richtige sein.»

«Nein.» Sie holte einen Kugelschreiber hervor und schrieb vor das <irgendwann>: Vielleicht.

 

 

Im Gegensatz zu Morse schlief sie an diesem Nachmittag nicht. Sie fühlte sich frisch und hellwach und hätte gern ein bißchen im Garten gearbeitet, aber es nieselte noch immer. Statt dessen lernte sie den Text für ihre Rolle. Der Freitag rückte erschreckend schnell heran, und um halb acht war Probe. Nun war ein Laienspiel bei einer Gemeindeveranstaltung nicht gerade etwas Welterschütterndes, aber sie war gegen alles Halbherzige, auch in Kleinigkeiten, und die Aufführungen waren immer gut besucht.

 

 

Um drei wachte Morse fröstelnd und grunzend auf und kam langsam wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Zeitungsausschnitte lagen noch auf der Sessellehne. Er legte sie zusammen und schob sie in den Umschlag. Er hatte sich viel zu sehr in diese Sache hineingesteigert. Aber damit war jetzt Schluß, schließlich und endlich hatte er Urlaub. Aus dem Bücherregal holte er einen dicken Band und verfuhr mit dem Hotelführer der Britischen Inseln so, wie die Römer mit den sibyllinischen Büchern zu verfahren pflegten und wie es die Fundamentalisten noch immer mit der Heiligen Schrift machen. Er schloß die Augen, schlug den nützlichen Band des Automobilclubs aufs Geratewohl auf, ließ seinen Zeigefinger über die linke Seite wandern, hielt auf halber Höhe an und öffnete die Augen. Derwentwater, Swiss Lodore Hotel; Keswick, vier Kilometer südlich an der... Er rief sofort an. Ja, sie hatten ein Einzelzimmer mit Bad frei. Wie lange? Vier oder fünf Nächte vielleicht. In Ordnung. Er würde gleich losfahren und gegen — ja, gegen neun oder zehn ankommen. Alles klar.

Eine Stunde bis Evesham, wenn er Glück hatte. Über die alte Worcester Road, die M5 und M6. 120 Stundenkilometer auf der Überholspur. Kinderspiel. Er würde gerade rechtzeitig zu einem Imbiß und einer Flasche Rotwein kommen. Ausgezeichnet. Für so was war schließlich der Urlaub da.