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Trotz ihrer Sorgen fand Ruth Rawlinson am nächsten Morgen fünf Minuten nach zehn noch Zeit, die Narzissenschalen zur Kenntnis zu nehmen und zu bewundern, mit denen die Lampen an der St. Giles Street geschmückt waren. Aber der heiter-sonnige Morgen vermochte ihre gedrückte Stimmung nicht zu verscheuchen. Düstere Vorahnungen plagten sie. Die Situation wurde immer beklemmender. Nachdem sie erfahren hatte, um wen es sich bei den Toten handelte, die man in St. Frideswide’s gefunden hatte — und da sie ohnehin viel mehr wußte, als die Polizei ahnen konnte — waren ihre Gedanken ständig in Aufruhr. Was hinderte sie daran, jetzt gleich über den Cornmarket und die St. Aldates zum Polizeipräsidium zu radeln? Es war sogar ihre Pflicht. Moralisch war es schon immer ihre Pflicht gewesen, aber wenn sie sich jetzt dazu entschloß, war das ein Hilfeschrei in letzter Minute, ehe die Falle über ihr zuschnappte. Noch vor fünf Minuten, als sie das Haus verlassen hatte, war sie fest entschlossen gewesen, sofort Morse aufzusuchen und ihm die ganze traurige Geschichte zu erzählen. Aber dieser Entschluß war mittlerweile schon wieder ins Wanken geraten. Ich brauche Bedenkzeit, sagte sie sich, brauche noch eine kleine Atempause, ehe ich mein und dadurch auch Mutters Leben zerstöre. Sie lehnte ihr Fahrrad neben dem Südportal an die Wand, zog das Fahrradschloß durch das Hinterrad — und dann sah sie den etwas zu hoch angebrachten Zettel an der Tür mit dem rot getippten Text. Ohne besondere Überraschung erkennen zu lassen, ging Ruth Rawlinson zur Tür am Nordportal, die offen stand.

Aus dem Chefbüro im obersten Stockwerk des großen Warenhauses, das fast direkt gegenüber stand, verfolgte Lewis Ruths Bewegungen mit dem Fernglas — so wie er seit Viertel vor neun, als die Tür am Nordportal aufgeschlossen worden war, die Bewegungen der anderen Kirchenbesucher verfolgt hatte. Es waren wenige gewesen, und so hatte er es unerwartet leicht gehabt. Eine Gruppe grell gekleideter Zeitgenossen — von dort oben hatten sie wie amerikanische Touristen ausgesehen — hatte um 9.10 Uhr die Kirche betreten. Es waren zehn. Um 9.22 Uhr waren zehn wieder herausgekommen und in Richtung Radcliffe Square davongegangen. Um 9.35 Uhr war eine einzelne weißhaarige Dame gekommen und etwa zehn Minuten später nach Absolvierung ihrer Morgengebete wieder gegangen. Zur gleichen Zeit hatte ein großer, bärtiger junger Mann mit einem überdimensionalen Kofferradio die Kirche betreten, um zwanzig Sekunden später wieder vor der Tür zu stehen. Der hat sich in der Adresse geirrt, dachte Lewis. Dann war Ruth Rawlinson erschienen und in St. Frideswide’s verschwunden. Fünf Minuten später hatte Lewis die ihm angebotene Tasse Kaffee akzeptiert, ohne das Nordportal aus den Augen zu lassen. Er hatte sich nicht einmal umgedreht, um sich zu bedanken. Wenn Morse recht hatte (was Lewis für wahrscheinlich hielt), konnte dies der entscheidende Zeitpunkt sein. Aber nach einer halben Stunde kamen ihm doch Zweifel. Sonst war niemand dagewesen, wenn man von einem unverdächtig wirkenden weißen Terrier absah, der sein Bein an der Westwand gehoben hatte.

 

 

Von den Narzissen auf den Altarstufen waren einige nicht mehr sehr ansehnlich. Ruth nahm sie heraus, ordnete die übrigen neu und nahm sich vor, noch ein paar nachzukaufen. Sie ging dann, abwechselnd nach rechts und nach links sehend, an den Bänken des Hauptschiffes entlang, hängte herumliegende Kniekissen an ihre Haken, wischte mit einem gelben Staubtuch die Banklehnen ab und sammelte Gesang- und Gebetbücher ein. Einmal sah sie neugierig zu dem Mauerwerk über dem Südportal hoch, konnte aber keine Anzeichen von Baufälligkeit entdecken.

Morse beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. Er betrachtete ihre großen Augen, ihre vollen, sinnlichen Lippen und dachte wieder einmal, wie attraktiv sie für ihn hätte sein können. Selbst ihre kleinen Angewohnheiten fand er liebenswert — wie sie eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht blies, wie sie, die Hände in die Hüften gestützt, stehenblieb und stolz ihr bescheidenes Werk betrachtete. Dabei wußte er, daß sie sehr viel stärker gefährdet war, als das Mauerwerk über dem Südportal es je sein würde. Wenn er recht hatte (woran er seit 10.20 Uhr einige Zweifel hegte), war Ruth Rawlinson kein Tod im Bett, sondern in eben dieser Kirche zugedacht, in der er jetzt hinter dem roten Vorhang des Beichtstuhls saß. Seine Befürchtung, sie könne mit Eimer und Schrubber seinem Versteck zu Leibe rücken, hatte sich bisher als grundlos erwiesen. Jetzt aber sah sie sich mit übereinandergeschlagenen Armen suchend um. Aber was war eigentlich dabei, wenn sie ihn fand? Er würde ihr alles erklären, würde sie vielleicht auf einen Drink ins Randolph einladen. Dennoch war er froh, als das Eimergeklapper sich entfernte und er kaltes Wasser in den Eimer platschen hörte.

Inzwischen hatten etliche Besucher die Kirche betreten, und bei jedem Klicken der Klinke, bei jedem Knarren der Tür hatte sich Morses Spannung gesteigert — nur um wieder in sich zusammenzufallen, wenn die Besucher sich einigermaßen ziellos umsahen, die ausgelegten Schriften durchblätterten und zehn Minuten später wieder verschwanden. Lewis hatte ihr Kommen und Gehen beobachtet. Der Kaffee neben ihm war längst kalt geworden. Aber Morses Aufmerksamkeit ließ immer mehr nach, und er begann sich zu langweilen. Das einzig greifbare Buch war eine Bibel mit steifem Einband, in der er jetzt unkonzentriert blätterte. Er dachte an seine Jugend. Irgendwann hatte es in seiner religiösen Entwicklung einen Bruch gegeben, er hatte seinen schwärmerischen Glauben der frühen Jahre fast völlig verloren und mußte sich jetzt eingestehen, daß bei dem ungeheuer schwierigen Unterfangen, Leben und Tod in einem wie auch immer gearteten philosophischen System zu sehen, die Lehren der Kirche für ihn nur noch Geschwafel waren. Es war möglich, ja wahrscheinlich, daß er sich irrte — so, wie er sich wahrscheinlich in dem heutigen Vormittag geirrt hatte. Dabei schien der Zeitpunkt so logisch. Hätte er in der Haut des Mörders gesteckt, er hätte sich mit Sicherheit diese Zeit ausgesucht.

Erst jetzt drang der metallische Laut, den er fast unbewußt registriert hatte, in sein Bewußtsein vor. Konnte es sein, daß sich ein Schlüssel in der Tür des Nordportals gedreht hatte? Verflixt, der Zettel mit dem Hinweis auf die mutwilligen Zerstörungen... Jemand hatte abgeschlossen. Aber warum hatte man nicht erst einen Blick in die Kirche geworfen? Da war ja schließlich noch Ruth, vielleicht gab es auch noch andere Besucher. Wenn Ruth keinen Schlüssel hatte, waren sie alle eingesperrt.

Morse merkte selbst, wie nebelhaft und verworren seine Gedanken wurden — und dann gab es ihm plötzlich einen Ruck. Er hatte ganz in der Nähe eine Männerstimme gehört. «Guten Tag, Ruth.» Eine durchaus angenehme Stimme. Trotzdem stockte Morse das Blut in den Adern. Jawohl, jemand hatte die Kirche abgeschlossen. Aber von innen.