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Es war der Mittwoch danach. Niemand achtete auf die Frau, die am Fenster stand und gemächlich ein Musterbuch nach dem anderen durchblätterte. «Ich will mich nur mal orientieren», hatte sie zu der Verkäuferin gesagt. Über gewisse Dinge allerdings war sie schon orientiert. Über Harrys Bewegungen beispielsweise. Von der Bushaltestelle in der Woodstock Road würde er die South Parade hinuntergehen (wo Cromwell einst seine Roundheads aufgestellt hatte), nach rechts in die Banbury einbiegen und dann das Wettbüro gegenüber dem Teppichgeschäft betreten. Ja, da war er. Sie wußte auch, daß er früher oder später — eher früher — wieder herauskommen würde, da er gegen eins zu Hause zum Essen erwartet wurde. Von ihr. Und vorher noch einen Besuch machen mußte.
Zwanzig Minuten nach elf erschien Harry Josephs. Seine Frau ging rasch hinter einer Reihe waagerecht gestapelter Linoleumrollen in Deckung und beobachtete ihn. Er ging zurück zur South Parade und drückte am Fußgängerübergang den Knopf der Ampel, um die Banbury Road zu überqueren. Mit einem schuldbewußten «Schönen Dank auch» verließ sie das Geschäft und folgte ihm in gebührendem Abstand, während er leicht und plattfüßig in Richtung Nord-Oxford ging. Durch seinen braunen Anzug war er in der Menge deutlich zu erkennen. Jetzt würde er gleich rechts abbiegen, in die Manning Terrace. Sie schlängelte sich geschickt an den Kinderwagen vorbei, um ihn nicht zu verlieren. Er ging auf der rechten Straßenseite. Vor dem siebenten oder achten Haus würde er haltmachen. Sie kannte nicht nur die Hausnummer, sondern auch die Frau, die dort wohnte, kannte ihre Haarfarbe und ihre Frisur. Langes, vorzeitig ergrautes Haar, grau wie die Strähne, die sie in der vorigen Woche an Harrys Anzug gefunden hatte. Ruth Rawlinson hieß die Frau, die in Nummer 14 wohnte und bei der ihr Mann seinen Besuch machte. Es war ganz so, wie Lionel Lawson gesagt hatte. Rasch ging sie zurück zum Parkplatz von Summertown. Sie hatte gerade noch Zeit, im Krankenhaus vorbeizuschauen und der Oberschwester zu sagen, daß es beim Zahnarzt viel länger als vorgesehen gedauert hatte und daß sie die Zeit morgen nacharbeiten würde.
Als sie nach Hause fuhr, lag auf Brendas Gesicht ein bösartiges, zufriedenes Lächeln.
Um acht Uhr abends am Mittwoch der folgenden Woche ließ sich Ruth Rawlinson nicht weiter stören, als sie hörte, wie sich klickend und knarrend die Tür am Nordportal öffnete. Es kamen oft Besucher her, um die Kirche zu besichtigen, den Taufstein zu bewundern, eine Kerze anzuzünden, manche sogar, um zu beten. Lautlos fuhr sie hinter einer der Säulen im Südflügel mit dem nassen Lappen über den Holzboden. Der Besucher stand jetzt still, das Echo seiner Schritte war in der leeren, dunklen Kirche verhallt. Um diese Zeit konnte einem hier fast unheimlich werden, aber Ruth wollte sich sowieso auf den Heimweg machen. Ihr Alter war schwer zu schätzen, sie konnte zwischen Mitte Dreißig und Ende Vierzig sein. Jetzt wischte sie mit dem Handrücken über die blasse Stirn und strich eine ungebärdige Haarsträhne zurück. Sie hatte genug getan. Zweimal in der Woche, montags und mittwochs, meist am Vormittag, arbeitete sie etwa zwei Stunden in St. Frideswide’s. Sie schrubbte die Böden, staubte die Kirchenbänke ab, putzte die Leuchter, räumte die verwelkten Blumen weg. Und alle drei Monate wusch und bügelte sie sämtliche Chorhemden. Die Motive für diese guten Werke lagen — nicht zuletzt für Ruth selbst — in dunkeln. Manchmal hatte sie den Verdacht, daß sie damit nur einem fast pathologischen Bedürfnis nachkam, kurze Zeit ihrer anspruchsvollen, unzufriedenen, selbstbezogenen kranken Mutter zu entkommen, mit der sie zusammenlebte. Dann wieder, besonders sonntags, hatte sie das Gefühl, daß es da noch tiefere Beweggründe gab, denn die gesungene Messe, besonders Palestrina, berührte sie sehr, und wenn sie dann an den Tisch des Herrn trat, um die Hostie zu empfangen, empfand sie fast mystische Verzückung und Frömmigkeit.
Jetzt setzte der Besucher sich wieder in Bewegung, die Schritte kamen auf dem Mittelgang näher. Ruth schaute über den oberen Rand der Kirchenbank. Sie meinte den Mann schon einmal gesehen zu haben, aber er war halb von ihr abgewandt, und zunächst erkannte sie ihn nicht. Sein dunkler Anzug schien aus gutem Stoff zu sein, aber er war abgetragen und zu groß für ihn, und das, was sie von seinem Gesicht erkennen konnte, war mit grauen Stoppeln bedeckt. Er sah über die Kirchenbänke hinweg, erst nach links, dann nach rechts, dann blieb er vor den Stufen zum Chor stehen. Suchte er etwas? Oder jemanden? Ruth hatte das Gefühl, daß es besser war, wenn sie sich nicht bemerkbar machte. Leise verteilte sie mit dem Tuch den irisierenden Seifenschaum.
Wieder das Klicken und Knarren der Tür am Nordportal. Rasch tauchte sie den seifigen Lappen in das Schmutzwasser, aber dann erstarrte sie mitten in der Bewegung.
«Sie sind also gekommen?»
«Nicht so laut.»
«Ist doch niemand da.»
Der Neuankömmling ging den Mittelgang entlang, die beiden Männer trafen sich auf halbem Wege. Sie sprachen leise, aber die wenigen Gesprächsfetzen, die Ruth auffing, waren nur zu verständlich.
«...Ihnen schon mehr als genug gegeben, Sie kriegen keinen Penny mehr.»
«...hab Ihnen doch schon gesagt, Mr. Morris, es ist doch bloß, damit ich über die Runden komme. Wäre Ihnen bestimmt nicht recht, wenn ich meinem Bruder sage...» Die Stimme war eine seltsame Mischung aus Kultiviertem und Ordinärem.
Das häßliche Wort «Erpressung» kam Ruth in den Sinn, doch da hatte sich die Tür schon wieder geöffnet, und eine Touristengruppe war hereingekommen. Eine näselnde amerikanische Stimme lobte das Taufbecken in den höchsten Tönen.
Die Sommerferien waren zur Hälfte vorbei, die Augustsonne strahlte. Brenda und Harry Josephs waren auf eine Woche in Tenby, Lawson war gerade von einem kurzen Urlaub in Schottland zurückgekommen, Peter Morris war in einem Pfadfinderlager, und sein Vater war damit beschäftigt, das Treppenhaus zu tapezieren. Unter anderem.
Um halb zwei saß er im Old Bull in Deddington und war zu dem Schluß gekommen, daß er nichts mehr trinken dürfe. Schließlich mußte er noch nach Hause fahren. Und er war nicht allein.
«Ich glaube, wir müssen jetzt gehen», sagte er.
Carole nickte und leerte ihr drittes Glas Babyeham. Von Anfang an war ihr in seiner Gesellschaft recht unbehaglich gewesen. Das lag auch daran, wie er mit ihr redete, so alltäglich, überhaupt nicht zärtlich. Nein, so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Natürlich war sie nicht zum erstenmal in einem Pub. Aber bisher hatte sie bei ihren Besuchen nur kichernd mit ein paar Schulfreundinnen um die Musikbox herumgestanden. Die ganze Sache war ein Reinfall, dabei hätte es auch ganz anders laufen können...
Der Wagen stand ganz hinten auf dem Parkplatz. Morris schloß ihr höflich die Tür auf und öffnete, ehe er sich ans Steuer setzte.
«Du wirst doch den Mund halten?»
«Klar.»
«Du darfst niemandem etwas sagen.»
«Ich sag’s keinem Menschen.» Die Augen unter den grellbunten Lidschatten waren stumpf vor Enttäuschung.
Morris holte tief Luft. «Schnall dich an, Kleines. Sicher ist sicher...»
Er lehnte sich zu ihr herüber, um ihr mit dem widerspenstigen Sicherheitsgurt zu helfen, und spürte ihre weiche Brust. Mit einer fast väterlichen Bewegung nahm er ihre Hand und drückte seinen Mund leicht auf den ihren, spürte ihre vollen, weichen Lippen. Mehr hatte es nicht sein sollen, doch als sie den Druck sanft, aber merklich erwiderte, konnte er sich nicht trennen, ließ sich von dem sinnlichen Genuß erregen. Er legte den Arm auf den Rücken der Sitzlehne und zog das Mädchen näher zu sich heran. Dann schob sich ihre Zungenspitze zwischen seine Lippen, und die Glut wurde zur verzehrenden Flamme. Ungeduldig zog sie seine Hand an ihren nackten Schenkel, ihre Beine spreizten sich langsam und einladend.
Sie lösten sich schuldbewußt voneinander, als ein Wagen rückwärts in die Parklücke neben ihnen fuhr. Morris setzte sie am Nordende von Kidlington ab, wo er sie auch abgeholt hatte.
«Möchtest du mich mal besuchen?» Es waren die ersten Worte, die sie auf der Rückfahrt wechselten.
«Wann denn?»
«Ich weiß nicht.» Seine Kehle war sehr trocken. «Jetzt?»
«Ist gut.»
«Wie lange brauchst du von hier?»
«Zehn Minuten.»
«Am besten kommst du zur Hintertür.»
«Ist gut.»
«Ich will dich haben, Carole.»
«Ich Sie auch, Sir.» Sir... Himmel, was tat er da? «Beeil dich,
ja?»
«Klar.»
In der Küche öffnete er eine Flasche Beaujolais, holte zwei Gläser und sah noch einmal auf die Uhr. Noch fünf Minuten. So beeil dich doch, Carole. Schon knöpfte er im Geist die weiße Bluse auf, schob seine Hände hinein, um ihre Brüste zu liebkosen... Er atmete tief, wartete mit fast verzweifelter Ungeduld.
Als er endlich das schüchterne Klopfen hörte, ging er zur Tür wie ein Mann, dem sich die Tore zum Paradies geöffnet haben.
«Guten Abend», sagte Lawson. «Hoffentlich störe ich nicht. Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen. Es ist — äh — ziemlich wichtig.»