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Morse trat ins Freie und schlenderte zu dem kleinen Lokal gegenüber.
«Einen Kaffee bitte», sagte er zu dem Mädchen, das sich an der Kasse lümmelte.
«Wenn Sie sich setzen, kommt die Bedienung zu Ihnen.»
«Ach so.» Das Verfahren kam ihm etwas umständlich vor.
Er setzte sich, starrte geistesabwesend durch die großen Scheiben, an denen jetzt Regentropfen hingen, und besah sich die Leute, die am Cornmarket entlanggingen. Direkt gegenüber, an dem schwarzen spitzenbewehrten Gitter von St. Frideswide’s lehnte ein bärtiger, durchnäßter Penner, eine Flasche in der linken Hand.
«Was darfs sein, bitte?» Es war das Mädchen von der Kasse.
«Hab ich Ihnen doch eben gesagt», fuhr Morse gereizt auf.
«Tut mir leid, Sir, aber—»
«Mir reicht’s.» Er stand auf und ging wieder über die Straße.
«Wie geht’s, Bruder?»
Der Penner beäugte Morse mißtrauisch durch eine dunkle Sonnenbrille, die nicht recht in die Landschaft paßte. Daß sich jemand ungebeten für sein Wohlergehen interessierte, kam offenbar nicht alle Tage vor. «Tasse Tee wär nicht schlecht, Chef.»
Morse drückte zwei Zehn-Pence-Stücke in eine überraschend saubere Hand. «Stehen Sie sonst auch immer hier?»
«Nee, meist vor dem Brasenose College. Ist mal ’ne Abwechslung.»
«Manchmal kommen nette Leute aus der Kirche, wie?»
«Manchmal.»
«Kennen Sie den Pfarrer?»
«Nee. Der jagt mich bestimmt weg. Den anderen hab ich gekannt, der war ein richtiger Gentleman. Hat einen manchmal mit ins Pfarrhaus genommen und einem was Anständiges zu spachteln gegeben.»
«Ist das der, der gestorben ist?»
Der Penner sah Morse an. Was hinter der dunklen Brille vorging, war nicht zu erkennen. Er nahm einen Schluck aus der Pulle. «Sie sagen es, Mister.» Er schlurfte am Gitter entlang und verschwand in Richtung Carfax.
Morse ging wieder auf die andere Straßenseite, vorbei an dem kleinen Lokal, an einem gut bestückten Fahrradgeschäft und dem Kino, dann bog er links in die sanft geschwungene Beaumont Street ein. Einen Augenblick schwankte er zwischen dem Ashmolean, das rechts gegenüber lag, und dem gleich links gelegenen Randolph. Es war kein fairer Wettstreit.
Die Bar war schon ziemlich voll. Morse wartete, bis eine Gruppe von Amerikanern ihre in breitem Akzent geforderten Gin and Tonics bekommen hatten. Die Barfrau trug ein tief ausgeschnittenes Kleid, und Morse beobachtete mit fasziniertem Desinteresse, wie er es nannte, wie sie sich endlich vorbeugte, um sein Bier zu zapfen. Aber sie war zu jung, kaum über zwanzig, und Morse hatte sich inzwischen eine Theorie zurechtgebastelt, nach der Männer sich immer zu etwa gleichaltrigen Frauen hingezogen fühlen —plus oder minus zehn Jahre.
Er setzte sich, ließ sich sein Bier schmecken und holte Ausschnitt Nummer Drei aus der Tasche. Er war vom Mittwoch, dem 19. Oktober.
TRAGISCHER KIRCHTURMSTURZ
Gestern vormittag fand Pfarrer Lionel Lawson den Tod, als er vom Turm der St. Frideswide’s-Kirche am Cornmarket stürzte. Erst zehn Minuten vorher hatte er die Messe gehalten, und zwei Gottesdienstbesucher entdeckten als erste das Unglück.
Der Kirchturm, früher ein bei Touristen beliebter Aussichtspunkt, ist seit zwei Jahren für Besucher gesperrt, da sich in den Steinen an der Nordseite Risse gezeigt hatten. Doch galt der Turm nicht als gefährdet, und erst eine Woche davor waren Handwerker oben gewesen, um das Bleidach zu überprüfen.
Pfarrer Lawson, 41 Jahre alt und Junggeselle, war seit fast elf Jahren Pfarrer in St. Frideswide’s. Besonders im Gedächtnis bleiben wird sein soziales Engagement, denn zusätzlich zu seinem unermüdlichen Einsatz in der florierenden Jugendarbeit nahm er sich stets mit verständnisvollem Mitgefühl der Obdachlosen an. Es dürfte in Oxford kaum einen Stadtstreicher geben, den er nicht irgendwann einmal unter seine Fittiche genommen hätte.
Als Geistlicher machte er kein Hehl aus seinen Neigungen zur Hochkirche. Zwar hatte er sich durch unmißverständlich zum Ausdruck gebrachte Ablehnung der Ordinierung von Frauen nicht gerade überall beliebt gemacht, doch trauert eine große ihm treu ergebene Gemeinde um ihren Freund und Seelsorger. Lawson studierte Theologie in Christ’s College, Cambridge, und später in St. Stephen’s House, Oxford.
Erst letzten Monat war H. A. Josephs, einer der Kirchenältesten von St. Frideswide’s, in der Sakristei der Kirche erstochen aufgefunden worden.
Morse las den letzten Satz noch einmal und fragte sich, warum der Reporter es nötig befunden hatte, ihn anzufügen. Daß auf einen Mord kurze Zeit später ein Selbstmord folgte, war nicht ungewöhnlich, und der Reporter dürfte nicht der einzige gewesen sein, der da einen Kausalzusammenhang gewittert hatte. Wenn Lawson bei Josephs Tod irgendwie die Hand im Spiel gehabt hatte, war es für ihn als einen Diener Gottes nur recht und billig, daß ihn das Gewissen plagte und er sich vom nächstbesten Turm stürzte.
Morse leerte sein Glas, kramte nach weiterem Kleingeld und sah sich um. Eine Frau, deren Hinteransicht er sich mit wachsendem Interesse besah, war an den Tresen getreten. Im Alter paßte sie sehr viel besser zu ihm als die Barfrau, soviel stand fest. Schwarze kniehohe Lederstiefel. Schlanke Figur. Hellbeiger Regenmantel, eng gegürtet. Rotgetupftes Kopftuch. Nett. Und ohne Begleitung.
Morse trat zu ihr und hörte, wie sie einen Dry Martini bestellte. Er brauchte nur den Drink zu zahlen, sie in eine stille Ecke zu bitten und leise, fesselnd und souverän über dies und jenes zu plaudern, und dann... wer weiß? Doch da war schon ein Mann mittleren Alters aufgestanden und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
«Ich mach das schon, Ruthie. Setz dich inzwischen.»
Miss Rawlinson band das Kopftuch ab und lächelte. Erst dann schien sie Morse zu bemerken, und das Lächeln erlosch. Sie nickte ihm fast frostig zu und wandte sich ab.
Nach dem dritten Bier verließ Morse die Bar. Von der Hotelhalle aus rief er im Polizeipräsidium an. Aber Chief Inspector Bell war auf Urlaub. In Spanien.
Es war lange her, seit Morse sich körperlich ertüchtigt hatte, und einem Impuls folgend beschloß er, zu Fuß nach Nord-Oxford zurückzugehen. Nur eine halbe Stunde, wenn er Tempo vorlegte. Wie zum Hohn überholte ihn ein Bus nach dem anderen: der Bus nach Cutteslowe, der Bus nach Kidlington, und der immer leere Park-and-Ride-Bus, unter großem finanziellen Aufwand von den Stadtvätern eingesetzt in der eitlen Hoffnung, sie könnten die Bürger dazu bewegen, zum Einkäufen das Auto am Stadtrand stehenzulassen. Morse stiefelte verbissen weiter.
An der Kreuzung der Marston Ferry Road beobachtete er wie hypnotisiert einen Wagen, der in nördliche Richtung fuhr, plötzlich ausscherte und mit einem überholenden Motorrad zusammenstieß. Der Fahrer wurde auf die andere Straßenseite geschleudert, wo sein weißer Helm mit einem schaurigen Knall an den Randstein schlug und das Rad eines entgegenkommenden Lasters trotz kreischender Bremsen mit hörbarem Knirschen das Becken des Verunglückten überrollte.
Andere Zeugen des Geschehens bewiesen — vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben — einen aus der Situation erwachsenden Mut der Verzweiflung. Etliche knieten neben dem Sterbenden nieder, Mäntel wurden über seinen zerschmetterten Körper gebreitet. Ein junger Mann mit fettigem, schulterlangen Haar lenkte den Verkehr um. Ein Arzt von der Gemeinschaftspraxis an der Ecke war schon unterwegs, Krankenwagen und Polizei waren verständigt.
Morse spürte, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog. Leichter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und als er den Blick abwandte und sich davonmachte, meinte er, sich übergeben zu müssen. Seine Passivität und Feigheit widerten ihn an, aber die Übelkeit, die in ihm wühlte, trieb ihn weiter, immer weiter, vorbei an den Geschäften von Summertown, bis zu seinem Haus. Selbst der Levite hatte einen raschen Blick gewagt, ehe er vorüberging.
Morse hatte nie so ganz begriffen, was ihn an einem Verkehrsunfall immer so hoffnungslos aus der Fassung brachte. Oft genug hatte er am Tatort eines Mordes gestanden, hatte eine brutal verstümmelte Leiche untersucht, voller Widerwillen, gewiß, aber ohne diese tiefe Verunsicherung. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, daß ein Unterschied zwischen dem Tod und dem Vorgang des Sterbens bestand, eines qualvollen Sterbens nach einem Verkehrsunfall. Ja, es war wohl das Zufällige, die Beliebigkeit eines solchen Todes, der Gedanke, daß ein paar Meter, ja, Zentimeter, daß Sekundenbruchteile Sicherheit bedeutet hätten. Es war, wie Lukrez es ausgedrückt hatte, das zufällige Zusammentreffen der Atome, das Sinnlos-Grausame einer solchen Begebenheit. Wenn Morse sich die in immer weitere Ferne rückende Möglichkeit vorstellte, selbst einmal Frau und Kinder zu haben, dachte er oft daran, daß er im Familienkreis vielleicht eine unheilbare Krankheit, nie aber einen Verkehrstod würde verkraften können.
In der Ferne war jetzt die Sirene des Krankenwagens zu hören, sie klang wie das Jammern einer verzweifelten Mutter nach ihren Kindern.
Morse nahm die Milchflasche von der Schwelle und betrat seine Wohnung. Kein sehr vielversprechender Urlaubsanfang. Er griff nach Vier letzte Lieder von Richard Strauß. Aber dann kam ihm ein Gedanke, und er legte die Platte wieder aus der Hand. Im Randolph hatte er flüchtig den vierten Ausschnitt gelesen, der über die Leichenschau im Fall Lawson berichtete, und den er nicht sehr aufschlußreich gefunden hatte. Er nahm ihn sich noch einmal vor. Der arme Kerl hatte offenbar schlimm ausgesehen, der Körper völlig zerschmettert, der Schädel... Ja, das war es, was Morse durch den Kopf geschossen war, als er gerade den Deckel des Plattenspielers aufklappen wollte. Wenn er selbst es schon nicht fertigbrachte, in das Gesicht eines sterbenden Motorradfahrers zu sehen, wie war es da um die beiden Zeugen bestellt, die Lawson gefunden hatten? Jetzt brauchte er nur noch die eine oder andere Detailangabe aus dem Protokoll. Und da er den Coroner gut kannte, konnte er sich die holen, wann er wollte. Noch heute nachmittag.
Zehn Minuten später war er eingeschlafen.