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«Nein, tut mir leid, Inspector, da haben Sie Pech.» Es war zehn nach sieben. Mrs. Lewis ließ sich nicht gern bei den Archers stören und wünschte, Morse würde entweder hereinkommen oder wieder gehen. «Heute spielt Oxford United, und da ist er hin.»

Nach dem Abendessen hatte es angefangen zu regnen, und noch immer pladderte es auf die Pfützen in der Einfahrt der Familie Lewis. «Der ist ja verrückt», sagte Morse.

«Er ist Ihr Mitarbeiter, Inspector. Kommen Sie herein.»

Morse schüttelte den Kopf, ein Regentropfen fiel ihm von dem unbedeckten Kopf aufs Kinn. «Ich will mal sehen, ob ich ihn finde.»

«Sie sind ja verrückt», sagte Mrs. Lewis halblaut.

Morse fuhr vorsichtig durch den Regen nach Headington. Die Scheibenwischer machten bogenförmige Ausschnitte auf der regennassen Windschutzscheibe frei. Dieser verdammte Urlaub brachte ihn ganz durcheinander. Heute, am Dienstag abend, hatte ihn in seinem Sessel wieder eine lähmende Lethargie erfaßt, die mit jeder Minute schlimmer wurde. Das Playhouse bot ihm eine Farce von Joe Orton, die von den Kritikern als klassische Komödie gerühmt worden war. Nichts für ihn. Das Moulin Rouge zeigte die feurige Sandra Bergson als Chefin einer sexhungrigen, wilden, unersättlichen Mädchenbande in dem Film «On the Game». Auch nichts. Niemand konnte es im Augenblick Morse recht machen. Dann fiel ihm Sergeant Lewis ein.

 

 

In der Sandfield Road hatte Morse ohne Mühe einen Parkplatz für den Lancia gefunden. Jetzt ließ er sich von einem knarrenden Drehkreuz ins Stadion schieben. Auf der Westseite standen nur ein paar durchnäßte, mit Regenschirmen bewaffnete Figuren, aber auf der überdachten Tribüne am Ende der London Road drängten sich junge Leute mit orange-schwarzen Schals und ließen ihr anfeuerndes «Oxford, hey, hey, hey!» im Stakkatorhythmus über den Platz schallen. Unvermittelt wurde das Flutlicht eingeschaltet, und das nasse Gras glitzerte.

Lautes Gebrüll begrüßte die in blauem Hemd und blauer Hose spielende Heimmannschaft, die sich gegen den schräg einfallenden Regen stemmte. Morse wandte sich um. Hinter ihm war die Haupttribüne, überdacht und unterbesetzt. Er ging zurück zum Eingang und erstand ein Zusatzbillett.

Zur Halbzeit hatte Oxford zwei Tore Rückstand, und Morse hatte, so aufmerksam er sich auch umsah, Lewis immer noch nicht entdeckt. Während die Mannschaft das Mittelfeld und die Umgebung der Tore in eine weiche, matschige Masse verwandelt hatte, die ihn an Aufnahmen der Schlachtfelder von Passchendaele erinnerte, waren seine Gedanken nicht zur Ruhe gekommen. Eine unwahrscheinliche, unlogische Ahnung hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, alle seine Überlegungen kreisten jetzt um den Turm von St. Frideswide’s. Daß er selbst nicht imstande war, diese Ahnung zu überprüfen, wie es in Wirklichkeit um diese Ahnung bestellt war, ließ sie nur noch glaubhafter erscheinen. Kein Zweifel, er brauchte Lewis dringend.

Unter gellenden Pfiffen kam der Schiedsrichter, dessen schwarze Kluft glänzte wie ein Taucheranzug, wieder heraus, um erneut das Spielfeld zu begutachten. Morse sah auf die Uhr neben der riesigen Anzeigetafel. 20.20 Uhr. Hatte das Warten überhaupt noch Zweck?

Eine schwere Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. ;

«Sie sind ja verrückt, Sir.»

Lewis schwang sich über die Banklehne und setzte sich neben seinen Chef.

Morse war hochbeglückt. «Hören Sie, Lewis, ich brauche Ihre Hilfe.»

«Natürlich, Sir, jederzeit. Aber sind Sie nicht—»

«Jederzeit?»

Die Frage wirkte sichtlich ernüchternd. «Sie meinen doch nicht etwa —»

Natürlich wußte er ganz genau, was Morse meinte.

«Das Match habt ihr sowieso verloren.»

«Ja, wir haben in der ersten Halbzeit ein bißchen Pech gehabt...»

«Sind Sie eigentlich schwindelfrei?» fragte Morse.

 

 

Wie die Straßen um das Stadion herum war auch die St. Giles ziemlich leer, und sie konnten beide Wagen vor dem St. John’s College parken.

«Wie wär’s mit einem Beefburger, Lewis?»

«Nein, danke, Sir. Meine Frau hat bestimmt Fritten gemacht.»

Morse lächelte zufrieden. Es tat gut, wieder im Geschirr zu sein, und es war schön, an Mrs. Lewis’ Fritten erinnert zu werden. Selbst der Regen hatte nachgelassen. Morse hob den Kopf und atmete tief, ohne auf Lewis’ wiederholte Fragen nach ihrer nächtlichen Mission einzugehen.

Hinter dem großen Westfenster von St. Frideswide’s leuchtete es mattgelb, man hörte gedämpft-melancholischen Orgelklang.

«Gehen wir zur Kirche?» fragte Lewis. Wortlos schob Morse den Riegel der Tür am Nordportal zurück und trat ein. Links von ihnen stand eine bunt bemalte Statue der Heiligen Jungfrau im flackernden Licht vieler Kerzen. Einige waren schlank und schon fast heruntergebrannt, andere dick und stämmig und bestimmt noch gut für den Rest der Nacht. Kaleidoskopartig beleuchteten sie die von stiller Heiterkeit geprägten Züge der Muttergottes.

«Coleridge hatte großes Interesse an Kerzen», sagte Morse. Aber ehe er Lewis dieses rätselhafte Gesprächsthema verdeutlichen konnte, tauchte aus der Düsternis eine hochgewachsene, schattenhafte Gestalt in schwarzer Kutte auf.

«Tut mir leid, aber der Gottesdienst ist schon vorbei.»

«Um so besser», sagte Morse. «Wir wollen auf den Turm.»

«Wie bitte?»

«Wer sind Sie?» fragte Morse schroff.

«Der Küster. Und auf den Turm können Sie nicht.»

Zehn Minuten später setzte Morse, bewaffnet mit den Schlüsseln und der Taschenlampe des Küsters und dessen Lamento noch im Ohr, die ganze Sache sei absolut gegen die Vorschriften, den Fuß auf die unterste Stufe einer schmalen, steilen Wendeltreppe, die sich in engen Windungen zum Turm hochschraubte. Lewis war dicht hinter ihm. Morse ließ den Strahl der Lampe vor sich herwandern, biß, vor Angst und Anstrengung immer kurzatmiger werdend, die Zähne zusammen und kletterte weiter. Fünfundfünfzig, sechsundfünfzig, siebenundfünfzig. Auf der 63. Stufe tauchte links ein kleines, schmales Fenster auf. Morse machte die Augen zu und drückte sich noch enger an die rechte Wand. Nach weiteren zehn Stufen — er zählte noch immer gewissenhaft — beschloß er unwiderruflich, nach dem nächsten Schritt kehrtzumachen und Lewis ein Bier im Randolph zu spendieren. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und die Vertikale und Horizontale gerieten auf beängstigende Weise in schiebende, gleitende Bewegung. Er wünschte sich nur noch eins: Fest mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, vor diesem grauenhaften Turm, und den so herrlich irdischen Verkehr auf der St. Giles zu beobachten. Zu stehen? Ach was, zu sitzen, zu liegen, mit allen Gliedern die trostreichen Konturen von Mutter Erde zu umfassen.

«Hier, Lewis, nehmen Sie mal die Taschenlampe. Ich — ich komme gleich nach.»

Lewis kletterte leichtfüßig und sicher, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in die ragende Schwärze hinein. Morse folgte ihm. Die Glockenstube lag hinter ihnen, wieder ein Fenster, wieder der schwindelnde Blick auf die tief unter ihnen liegende Erde. Morse dachte mit größter Willensanstrengung an nichts weiter als an den nächsten Schritt gen Himmel, mit allen Fasern seines Seins konzentrierte er sich wie ein mit lokomotrischer Ataxie Geschlagener auf die körperliche Mühsal, abwechselnd die Füße zu heben.

«So, das hätten wir geschafft», sagte Lewis munter und richtete die Taschenlampe auf eine kleine Tür unmittelbar über ihnen. «Da geht’s wohl zum Dach.»

Die Tür war nicht abgeschlossen. Lewis ging hinaus, während Morse sich schwer atmend auf die Schwelle setzte, den«Rücken an den Türpfosten gelehnt, die Hände an der feuchten J Stirn. Als er endlich einen Blick in die Runde wagte, sah er die ausgezackte Mauerkrönung des Turms, die sich schwarz gegen den Abendhimmel abhob, sah die dunklen Wolken, die über den blassen Mond hinwegeilten, sah den blassen Mond, der hinter den dunklen Wolken hervorkam, sah den Turm, der sich gegen den Himmel lehnte und ebenfalls hinwegzueilen drohte. Schwindel erfaßte ihn, sein Magen krampfte sich zusammen, zweimal würgte er trocken. Hoffentlich, dachte er, hat Lewis das nicht gehört.

Lewis sah von der Nordseite des Turmes nach unten auf die breite, baumbestandene St. Giles. In der Tiefe — fünfundzwanzig, dreißig Meter mochten es sein — war gerade noch die spitzenbewehrte Einfriedung vor dem Nordportal zu erkennen, dahinter sah man die mondbeschienenen Gräber auf dem kleinen Friedhof. Er leuchtete mit der Taschenlampe den Turm ab. An der Innenseite der etwa zwölf Meter langen Turmwände zog sich eine Abflußrinne entlang; zwischen der Rinne und dem etwa drei Meter hohen pyramidenförmigen Bleidach, auf dem sich eine hölzerne Stange mit einem etwas windschiefen Wetterhahn erhob, verlief ein schmaler, knapp ein Meter breiter Umgang.

Er trat in die Tür. «Alles im Lot, Sir?»

«Ja, ich bin bloß nicht mehr so fit wie Sie.»

«Wenn Sie da sitzen bleiben, kriegen Sie noch das Zipperlein.»

«Haben Sie was gefunden?»

Lewis schüttelte den Kopf.

«Haben Sie sich überall umgesehen?»

«Sehr gründlich noch nicht. Wollen Sie mir nicht verraten, was wir suchen?» Und als Morse nicht gleich antwortete: «Ist Ihnen nicht gut, Sir?»

«Gehen Sie einmal um den Turm herum, Lewis. Ich – äh - das wird gleich wieder.»

«Was ist es denn, Sir?»

«Haben Sie keine Augen im Kopf, Sie Blödmann!» knirschte Morse. «Ich leide an Höhenangst.»

Lewis sagte nichts mehr. Er hatte schon oft mit Morse gearbeitet und reagierte auf seinen Koller etwa so, wie er früher auf die verletzend-bösartigen Ausbrüche seiner halbwüchsigen Töchter reagiert hatte. Trotzdem tat es ein bißchen weh.

Er leuchtete mit der Taschenlampe an der Südseite des Turms entlang und machte dann langsam die Runde. Taubenkot lag dick auf dem schmalen Umgang, und irgendwo auf dieser Seite mußte der Abfluß verstopft sein, denn an der Südostecke stand das Wasser mindestens fünf Zentimeter hoch. Lewis hielt sich an der Brüstung fest und versuchte, um die Ostecke zu sehen, aber das Mauerwerk war mürbe und wackelig. Vorsichtig lehnte er sich an die Schräge des Dachkegels und leuchtete mit der Taschenlampe um die Ecke. «Ach, du meine Fresse», sagte er leise.

An der Ostseite lag der Körper eines Mannes — allerdings erkannte Lewis bereits in diesem Augenblick, daß nur der zerschlissene. Durchweichte Anzug und die Beschaffenheit des Haares darauf hindeuteten, daß es sich um einen Mann handelte. Das Gesicht selbst war bis auf den Knochen kahlgefressen. Lewis nahm all seine Willenskraft zusammen und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf dieses Nichtgesicht. Zweimal. Das reichte ihm.