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Als Schuljunge hatte Morse ein paar Shilling in ein Buch über Architektur investiert und zahlreiche Kirchen abgeklappert, in denen er gewissenhaft die Entwicklung von der Früh- zur Spätgotik verfolgt hatte. Doch die Begeisterung war — wie in vielen anderen Fällen — nur kurzlebig gewesen. Als er jetzt in der hallenden Stille stand und den Mittelgang entlang zum Altar blickte, die Sakristei mit dem schweren Vorhang im Rücken, kam ihm von der Architektur nur noch wenig bekannt vor. Die Informationen waren zwar irgendwo in seinem Gehirn gespeichert, das aber weigerte sich, sie herauszugeben. Er kam sich vor wie ein an Gedächtnisschwund leidender Ornithologe vor einem Ententeich. Ein Kreis von Kerzen brannte vor dem Bild eines Heiligen, ein goldenes Kruzifix warf ihren Schein in länglichen Lichtblitzen zurück. Schwer hing der Duft von Weihrauch im Raum.
Ganz still war es übrigens nicht, stellte Morse fest, als er langsam zum Chor ging. Irgendwo hörte er ein leises, rhythmisches Kratzen. Eine Kirchenmaus, die im Gebälk herumrannte? Nein, dafür war das Geräusch zu regelmäßig. Jetzt sah Morse, daß er nicht allein war. Ein grauer Kopf kam über der Lehne der vordersten Kirchenbank zum Vorschein. Die Frau nickte dem Besucher reserviert zu, wischte sich mit dem Handgelenk die blasse Stirn und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. Dann bückte sie sich wieder, die konzentrischen Seifenringe auf dem Dielenboden lösten sich unter ihrem Wischlappen auf. Mit klapperndem Eimer rückte sie ein Stück weiter.
Morse lächelte liebenswürdig «Guten Morgen. Gibt’s hier keine von diesen Broschüren, in denen dem Besucher gesagt wird, was er sich anzusehen hat?»
«Nein, sie sind uns letzte Woche ausgegangen, aber der Pfarrer läßt neue drucken.»
«Der Pfarrer? Das ist Mr. Lawson, nicht?»
«Nein.» In den großen, braunen Augen, die zu ihm aufsahen, stand plötzlich Zurückhaltung. Sie schien bedeutend jünger zu sein, als er zuerst gedacht hatte. «Unser Pfarrer heißt Meiklejohn, er ist seit November hier.»
«Dann habe ich das wohl mit einer anderen Kirche verwechselt.»
«Nein. Der vorige Pfarrer hieß Lawson.» Sie zögerte. «Er ist im Oktober gestorben.»
«Das tut mir leid.»
Ein paar Sekunden schwiegen beide.
«Sie haben gewußt, daß er tot ist, nicht?» fragte sie leise.
Morse blinzelte vergnügt. «Meinen Sie?»
«Sie sind Reporter, ja?»
Er schüttelte den Kopf und sagte ihr, daß er Kriminalbeamter sei. Bei der Thames Valley Police in Kidlington, nicht in Oxford selbst. Er habe von dem Fall gehört, ihn aber nicht bearbeitet. Damals sei er im Ausland gewesen.
«Hatten Sie auch etwas damit zu tun?»
«Ja, so könnte man es wohl sagen.»
«Wie meinen Sie?»
Sie hatte so leise gesprochen, daß Morse einen Schritt näher herantrat. «Ich war am Abend des Mordes hier in der Kirche.»
«Tatsächlich? Erzählen Sie doch mal.»
Sie wischte sich die Hände an den ausgebleichten, in Höhe der Knie fast durchgescheuerten Jeans ab und stand auf.
Ihr Gang war anmutig und ungezwungen, und Morse blickte ihr aufmerksam nach, als sie im Hintergrund verschwand. Eine Minute später tauchte sie mit einer braunen Handtasche wieder auf. Sie hatte bei dieser Gelegenheit ihr Haar in Ordnung gebracht, und Morse sah, daß sie einmal sehr anziehend gewesen sein mußte.
«Hier.» Sie reichte ihm einen billigen braunen Umschlag mit einigen Ausschnitten aus der Oxford Mail, und Morse setzte sich in die gegenüberliegende Kirchenbank und faltete behutsam die dünnen Blätter auseinander. Der erste Ausschnitt war vom Dienstag, dem 27. September des vergangenen Jahres.
KIRCHENÄLTESTER BEIM GOTTESDIENST ERMORDET
Während die Gemeinde den letzten Choral sang, wurde gestern abend H. A. Josephs in der Sakristei von St. Frideswide’s, Cornmarket, erstochen. Chief Inspector Bell von der Oxford City Police, der die Ermittlungen leitet, sagte unserem Reporter, daß Josephs, einer der beiden Kirchenältesten von St. Frideswide’s, gerade die Kollekte eingesammelt hatte und vermutlich beim Zählen gewesen war, als das Verbrechen geschah.
Als die Polizei eintraf, waren Kollekteteller und Geld verschwunden. Die Tat sei, falls es sich um einen Raub gehandelt hatte, besonders tragisch, meinte Inspector Bell, weil an dem Abendgottesdienst nur eine Handvoll Besucher teilgenommen hatten und höchstens zwei bis drei Pfund zusammengekommen waren.
Mehrere Gottesdienstbesucher hatten gehört, daß hinten in der Kirche Unruhe entstand, hatten sich aber nichts dabei gedacht, bis Josephs um Hilfe rief. Der Pfarrer, Hochwürden L. Lawson, unterbrach sofort den Gottesdienst und verständigte Polizei und Rettungsdienst, aber Josephs starb, ehe der Krankenwagen eintraf.
Die Tatwaffe war ein mattgoldenes Papiermesser in Form eines Kruzifixes mit rasiermesserscharfer Klinge. Die Polizei bittet um Meldung von Zeugen, die ein solches Messer schon einmal gesehen haben.
Harry Josephs (50) war verheiratet und wohnte im Port Meadow Drive, Wolvercote. Er hatte als Offizier in einer Kommandoeinheit der Marine gedient und war in Malaysia eingesetzt gewesen. Bis vor zwei Jahren war er beim Finanzamt in Oxford tätig. Er hatte keine Kinder. Die Leichenschau ist auf Montag nächster Woche festgesetzt worden.
Morse las den Artikel rasch noch einmal durch. Es gab da ein paar Punkte, die ihm nicht recht einleuchten wollten.
«Haben Sie ihn gut gekannt?»
«Wie bitte?» Die Frau hörte auf zu schrubben.
«Ich fragte, ob Sie Josephs gut gekannt haben.»
Regte sich da etwas wie Unbehagen in den braunen Augen? Hatte sie die Frage vielleicht schon beim erstenmal verstanden?
«Ja, ich kannte ihn recht gut. Er war Kirchenältester, das steht ja auch in dem Artikel.»
Morse wandte sich dem zweiten Ausschnitt zu. Er war vom Dienstag, dem 4. Oktober.
RÄTSEL BEI DER LEICHENSCHAU
Die gerichtliche Untersuchung im Fall H. A. Josephs, der letzte Woche in St. Frideswide’s erstochen wurde, ist gestern nach zwanzigminütiger Verhandlung vertagt worden. Dem Gericht wurde eine überraschende Tatsache zur Kenntnis gegeben. Aus dem Obduktionsbefund geht hervor, daß Josephs’ Mageninhalt eine tödliche Dosis Morphium enthielt. Unmittelbare Todesursache scheint allerdings die Stichwunde gewesen zu sein.
Vorher hatte Paul Morris, Home Close 3, Kidlington, die Identität des Toten bestätigt. Er hatte als Organist an dem Gottesdienst teilgenommen und spielte gerade den letzten Choral, als Josephs ermordet wurde.
Eine weitere Zeugin, Ruth Rawlinson, Manning Terrace 14, Summertown, sagte aus, sie habe während des letzten Chorals Geräusche aus der Sakristei gehört, habe sich umgedreht und gesehen, wie Josephs am Vorhang zur Sakristei zusammenbrach.
Chief Inspector Bell von der Oxford City Police teilte dem Coroner mit, er könne noch nichts Bestimmtes zu dem Fortgang des Falles sagen, doch die Ermittlungen seien angelaufen. Der Coroner sprach der Witwe des Ermordeten, Brenda Josephs, seine tiefempfundene Anteilnahme aus. Der Trauergottesdienst findet am Donnerstag um 14.30 Uhr in St. Frideswide’s statt.
Der Artikel war nicht sensationell, aber durchaus interessant. Wie war das Morphium in den Magen des armen Teufels gekommen? Irgendjemandem mußte sehr viel daran gelegen haben, ihn aus dem Weg zu räumen, und dieser Jemand lief noch immer — vermutlich sogar in Oxford — als freier Mann herum. Oder als freie Frau, ergänzte Morse in Gedanken und warf einen raschen Blick auf sein Gegenüber.
Er saß nur ein paar Meter vom Tatort entfernt und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Die Orgel spielt, die wenigen Besucher sind aufgestanden und sehen auf ihre Gesangbücher herunter... Moment mal. Wo war die Orgel? Er stand auf und ging die breiten, flachen Stufen zum Chor hinauf. Ja, da war sie, links hinter dem Chorgestühl, von einem blauen Vorhang umgeben. Über dem obersten Manual war ein Spiegel angebracht, so daß der Organist selbst zwar nicht zu sehen war, aber Pfarrer und Chor im Auge behalten konnte und auch, wenn er wollte, die Gemeinde. Wenn man den Spiegel ein bißchen drehte... Morse setzte sich hinter dem Vorhang auf die Orgelbank und blickte in den Spiegel. Er sah hinter sich das Chorgestühl und den Chor. Dann fing er an, den Spiegel zu verstellen wie ein nervöser Kandidat vor der Führerscheinprüfung. Das ging leicht und lautlos. Herauf, herunter, nach rechts und nach links, ganz beliebig. So, zunächst nach rechts und ein Stück nach unten. Jetzt sah er direkt auf das kunstvolle Goldgewirk, das die grüne Altardecke umrandete. Dann nach links und nach unten. Jetzt sah er Kopf und Schultern der Putzfrau, deren Ellbogen emsig über dem Seifenschaum kreisten. Noch weiter nach links und ein bißchen nach oben, fast bis zum Anschlag. Morse hielt jäh inne. Ein nadelfeiner Schmerz durchzuckte seine Schläfen. Er sah jetzt deutlich den Vorhang zur Sakristei, der sich damals vielleicht nur einen Spalt breit geöffnet und den Blick auf einen Mann freigegeben hatte, der verzweifelt gegen das Brausen der Orgel anschrie, einen Mann mit einem Messer im Rücken, der nur noch ein, zwei Sekunden zu leben hatte. Wenn nun der Organist — Morris, so hieß er wohl — während dieser schicksalhaften Sekunden auf den Vorhang zur Sakristei geblickt, wenn er etwas Bestimmtes gesehen hatte? Zum Beispiel...
Das Eimergeklapper holte seine hochfliegenden Gedanken wieder zur Erde zurück. Wozu hätte der Mann den Spiegel in eine so unwahrscheinliche Stellung bringen sollen, während er den letzten Choral spielte? Schwamm drüber. Er wandte sich um und warf einen Blick über den Vorhang. Die Putzfrau schien zusammenzupacken, und er hatte die anderen Ausschnitte noch nicht gelesen. Aber da bekamen seine Gedanken schon wieder Flügel und erhoben sich mühelos wie eine Möwe, die über den Klippen schwebt. Der Orgelvorhang... Er selbst war nur etwas über mittelgroß, aber auch wenn er zehn bis zwölf Zentimeter größer gewesen wäre, hätte ihn der Vorhang gut verborgen. Außer seinem Hinterkopf würde man wenig sehen. Vielleicht war Morris ja auch ausgesprochen klein, dann wäre er fast gar nicht zu sehen gewesen. Chor und Gemeinde hätten in diesem Fall überhaupt nicht gewußt, ob es tatsächlich Morris war, der an der Orgel saß.
Er ging die Stufen wieder hinunter. «Könnte ich die Ausschnitte noch behalten. Ich würde Sie Ihnen wieder zuschicken.»
Die Frau zuckte die Schultern. «Meinetwegen.»
«Ich weiß leider nicht, wie Sie heißen—» setzte Morse an, aber inzwischen hatte ein ziemlich klein gewachsener Mann mittleren Alters die Kirche betreten und kam rasch auf sie zu.
«Morgen, Miss Rawlinson.»
Miss Rawlinson, Zeugin bei der Leichenschau. Sieh mal einer an. Und der Mann, der eben hereingekommen war, mußte Morris sein, der andere Zeuge, denn er hatte sich schon an die Orgel gesetzt, ein paar Schalter klickten, eine verborgene Energiequelle begann zu sirren, gefolgt von einer Reihe rauher Baßtöne.
«Ja, wie gesagt, ich kann sie Ihnen schicken oder auch in den Briefkasten stecken. Manning Road 14, nicht?»
«Manning Terrace.»
«Richtig.» Morse lächelte entschuldigend. «Das Gedächtnis läßt allmählich nach. Es heißt, daß wir nach unserem dreißigsten Lebensjahr täglich 30 000 Gehirnzellen verlieren.»
«Nur gut, daß wir so viele haben, Inspector.» In den ruhigen Augen stand vielleicht eine Spur von Spott, aber Morses kleiner Scherz hatte keine entsprechende Reaktion hervorgelockt.
«Ich will nur noch kurz mit Mr. Morris sprechen, ehe —»
«Das ist nicht Mr. Morris.»
«Wie bitte?»
«Das ist Mr. Sharpe, er war früher zweiter Organist hier.»
«Und Mr. Morris ist nicht mehr bei Ihnen?» fragte Morse nachdenklich.
Sie schüttelte den Kopf.
«Wissen Sie, wo er ist?»
Wieder wirkte sie merkwürdig zurückhaltend. «Nein. Er ist weggezogen. Im Oktober.»
«Aber er hat doch sicher —»
Sie griff nach ihrem Eimer und wandte sich zum Gehen. «Keiner weiß, wo er abgeblieben ist.»
Morse spürte, daß sie log. «Es ist Ihre Pflicht, mir zu sagen, was Sie wissen.» Er sprach jetzt mit ruhiger Autorität, und die Frau errötete leicht.
«Es ist weiter nichts, nur... Er ist zur gleichen Zeit weggezogen wie jemand anders.»
«Und dabei konnte man sich sein Teil denken, meinen Sie?»
Sie nickte. «Ja. Sehen Sie, er hat Oxford in der gleichen Woche verlassen wie Mrs. Josephs.»