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Morse klopfte energisch an die Tür, auf der «Auskunft» stand, machte sie auf und nickte einer sympathisch aussehenden Schulsekretärin zu.

«Kann ich etwas für Sie tun, Sir?»

«Ist der Direktor da?»

«Erwartet er Sie?»

«Glaub ich kaum», sagte Morse, durchquerte das kleine Büro, klopfte an die nächste Tür und trat ein.

Direktor Phillipson von der Roger Bacon School erwies sich als sehr hilfsbereit.

Paul Morris war offenbar als Musiklehrer eine Perle gewesen. Er war beliebt bei Lehrern und Schülern, und seine Kandidaten hatten bei Prüfungen stets erfreulich gut abgeschnitten. Als er so plötzlich verschwand, ohne irgend jemandem ein Wort zu sagen, noch dazu mitten im Trimester, stand man zunächst vor einem Rätsel. Phillipson holte seinen Kalender vom Vorjahr heraus. Am 26. Oktober war es passiert, an einem Mittwoch. Morris war morgens zur gewohnten Zeit zur Schule gekommen und dann wahrscheinlich mittags, wie häufig am Mittwoch, zum Essen nach Hause gegangen. Ja, und danach hatten sie ihn nicht mehr gesehen. Sein Sohn Peter hatte nach Schulschluß, um Viertel vor vier, das Gebäude verlassen, und damit war auch er verschwunden. Am nächsten Tag war mehreren Kollegen aufgefallen, daß die beiden nicht da waren, und sicher wäre jemand bei Morris vorbeigefahren, doch da hatte die Polizei angerufen und von dem anonymen Hinweis eines Nachbarn berichtet, Morris habe mit seinem Sohn Kidlington verlassen, um mit einer Mrs. Josephs zusammenzutreffen. («Mehr brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen, Inspector!») Inspector Bell war höchstpersönlich bei Phillipson gewesen, um ihm zu sagen, daß die Polizei sich schon umgehört und in Erfahrung gebracht hatte, daß von Nachbarn in den vergangenen Monaten öfter ein Wagen vor dem Haus von Morris gesehen worden war, bei dem es sich der Beschreibung nach um Mrs. Josephs’ Allegro hätte handeln können. Aus anderer Quelle war an die Polizei durchgesickert, daß Morris und Mrs. Josephs höchstwahrscheinlich schon seit einiger Zeit liiert waren. Jedenfalls hatte Bell ihn, Phillipson, gebeten, die Geschichte herunterzuspielen und irgend etwas zu erfinden, einen Todesfall in der Familie beispielsweise, was als Erklärung für das Verschwinden von Paul Morris herhalten konnte. Eine Vertretung hatte für den Rest des Herbsttrimesters Morris’ Stunden übernommen, und für das nächste Trimester war eine neue Lehrerin eingestellt worden. Die Polizei war im Haus gewesen, das Morris möbliert gemietet hatte, und es stellte sich heraus, daß ein Großteil der persönlichen Habe fehlte; seltsamerweise waren noch ziemlich viele Bücher und ein teurer Plattenspieler da. Ja, und das war eigentlich alles. Von da ab hatte Phillipson nichts mehr von der Sache gehört. Soweit er wußte, hatte sich Morris bei niemandem gemeldet. Er hatte keine Referenzen angefordert und würde das unter diesen Umständen vielleicht auch gar nicht tun.

Morse hatte Phillipson nicht unterbrochen, und als er endlich den Mund aufmachte, sagte er etwas ganz Irrelevantes: «Haben Sie in dem Schrank da vielleicht auch Sherry?»

Zehn Minuten später sah Morse im Vorzimmer der Sekretärin über die Schulter.

«Stellen Sie gerade einen Scheck für mich aus, Miss?»

 

 

«Mrs., Mrs. Clarke.» Sie spannte das gelbe Blatt aus, legte es mit der Schriftseite nach unten auf den Schreibtisch und funkelte Morse herausfordernd an. Schon beim Hereinkommen hatte er sich sehr ungehörig benommen, und jetzt —

«Sie sehen reizend aus, wenn Sie wütend sind», sagte Morse. 1

Phillipson rief ihr von seinem Zimmer aus zu: «Ich muß jetzt los, Mrs. Clarke. Bringen Sie Chief Inspector Morse bitte zum Musiksaal. Und seien Sie so nett, die Gläser abzuwaschen, wenn Sie zurückkommen.»

Mit schmalen Lippen und hochrotem Gesicht ging Mrs.] Clarke voraus. «Dorthinein», sagte sie.

Morse drehte sich um, legte ihr freundlich die rechte Hand auf die Schulter und sah sie aus seinen blauen Augen an. «Vielen Dank, Mrs. Clarke. Tut mir furchtbar leid, wenn ich Sie geärgert habe. Bitte verzeihen Sie mir.»

Als sie zu ihrem Zimmer zurückging, fand sie das Leben plötzlich wieder wunderschön. Warum war sie so albern gewesen? Sie ertappte sich bei dem Wunsch, er möge sie zurückrufen. Tatsächlich-

«Wann bekommen die Lehrer ihr Gehalt, Mrs. Clarke?»

«Am letzten Freitag im Monat. Ich tippe die Schecks immer am Tag vorher.»

«Das vorhin war also kein Gehaltsscheck?»

«Nein. Morgen ist der letzte Tag vor den Ferien, da habe ich noch schnell einen Spesenscheck für Mr. Phillipson ausgestellt. Er hatte gestern eine Sitzung in London.»

«Na, hoffentlich macht er keinen Schmu.»

Sie lächelte. «Nein, Inspector, er ist sehr nett.»

«Sie sind auch sehr nett», sagte Morse.

Errötend wandte sie sich ab, und in Morse regte sich heftiger Neid auf Mr. Clarke, während er den schlanken Beinen nachsah, die über den Gang verschwanden. Am letzten Freitag im Monat, hatte sie gesagt. Am28. Oktober also. Morris hatte zwei Tage vor der Gehaltszahlung die Schule verlassen. Sehr merkwürdig.

Morse klopfte und betrat den Musiksaal. Mrs. Stewart stand sofort auf und machte Anstalten, den Plattenspieler auszuschalten, aber Morse hinderte sie mit einer Handbewegung daran. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich an die Wand. Die kleine Klasse hörte sich Faures Requiem an. Entzückt schloß Morse die Augen und genoß die ätherischen Klänge des «In Paradisum»:

...aetemam habeas requiem... und schenke dir die ewige Ruhe... Nur zu bald verhallten die letzten Töne, und Morse überlegte, daß vor nicht allzulanger Zeit einige Leute höchst unfreiwillig in den Genuß dieser ewigen Ruhe gekommen waren. Im Augenblick waren es drei, aber er hatte das dunkle Gefühl, daß es bald vier sein würden. Er stellte sich vor und musterte die sieben Mädchen und dreijungen im Leistungskurs Musik. Er sei mit Ermittlungen über Mr. Morris befaßt, sagte er, den sie ja alle gekannt hätten. Es seien da gewisse geschäftliche Dinge zu klären, und die Polizei wisse nicht genau, wo Mr. Morris abgeblieben sei. Vielleicht könne einer von ihnen ihm weiterhelfen? Die Schüler schüttelten stumm den Kopf. Morse stellte noch eine Reihe von Fragen, auf die sie ebenso stumm reagierten. Immerhin, zwei oder drei Mädchen waren sehr ansehnlich, und die Kleine ganz hinten, die mit den glutvollen Augen, war eine ausgesprochen flotte Puppe. Ob da nicht Morris hin und wieder Appetit bekommen hatte?

Morse wechselte unvermittelt die Taktik und nahm einen bläßlichen, langhaarigen Knaben in der ersten Reihe aufs Korn. «Kannten Sie Mr. Morris?»

«Ich?» Der Knabe schluckte. «Ich habe zwei Jahre Unterricht bei ihm gehabt, Sir.»

«Wie haben Sie ihn genannt?»

«Ja, ich... Mr. Morris...» Die anderen grienten, als habe Morse nicht alle Tassen im Schrank.

«Sie haben ihn nie anders genannt?»

«Nein.»

«Sie haben ihn nie mit <Sir> angeredet?»

«Doch, natürlich, aber—»

«Sie scheinen den Ernst der Lage noch nicht erfaßt zu haben, mein Junge. Ich wiederhole die Frage. Wie haben Sie ihn sonst noch genannt?»

«Ich weiß nicht recht, wie Sie das meinen...»

«Hatte er keine Beinamen?»

«Na ja, die meisten Lehrer—»

«Wie lautete sein Spitzname?»

Einer seiner Mitschüler sprang in die Bresche. «Manche haben ihn <Fatzke> genannt.»

«Ja, das ist mir bekannt. Und warum wohl?»

Jetzt meldete sich eins der Mädchen zu Wort, ein ernsthaftes; Wesen mit einer breiten Lücke zwischen den Schneidezähnen und einem merklichen Lispeln. «Er hat sich immer sehr nett angezogen, Sir.» Die anderen Mädchen kicherten und flüsterten und stießen sich verständnisinnig an.

«Möchte sonst noch jemand etwas dazu sagen?»

Jetzt nahm der dritte Junge das leichte Thema auf. «Er hatte immer einen Anzug an, und die meisten Lehrer... na ja, die meisten haben Bärte, die Männer, meine ich (lautes Gewieher), und tragen Jeans und Pullis und so. Aber Mr. Morris hat immer einen Anzug angehabt und hat... na ja, immer richtig schnieke ausgesehen.»

«Was für Anzüge waren denn das, die er angehabt hat?»

«Dunkle Anzüge», ließ sich derselbe Junge vernehmen. «Wie für ’ne Party. Und da haben wir ihn eben <Fatzke> getauft.»

Die Pausenklingel schrillte, und die Schüler griffen nach ihren Büchern und Ringheftern.

«Und seine Schlipse?» fragte Morse. Aber der psychologisch] günstige Moment war vorbei. Die Farbe von Morris’ Schlipsen] war offenbar dem kollektiven Gedächtnis entfallen.

Während er über die Auffahrt zu seinem Wagen ging, überlegte Morse, ob er noch mit dem einen oder anderen Lehrer ! sprechen sollte, aber er hatte nicht genug in der Hand und be-1 schloß, erst den Bericht des Pathologen abzuwarten.

Er hatte gerade den Motor angelassen, als ein junges Mädchen vor dem Fenster an der Fahrerseite erschien. «Tag, Süße»,] sagte er. Es war die Kleine aus der hintersten Reihe, die mit den Radaraugen. Sie lehnte sich vor. «Sie haben doch nach den Schlipsen gefragt. Mir ist einer eingefallen, Sir. Den hat er oft getragen. Hellblau. Hat gut zu den Anzügen gepaßt.»

Morse nickte verständnisvoll. «Das hilft mir schon weiter, Herzlichen Dank.» Er sah zu ihr hoch, und erst jetzt fiel ihm auf, wie hochgewachsen sie war. Im Sitzen sahen sie alle etwa gleich groß aus, als sei die Größe nicht so sehr von den Gesamtmaßen abhängig, sondern von der Länge der Beine. In diesem Fall zweier sehr schöner Beine.

«Haben Sie Mr. Morris gut gekannt?»

«Nein, gut eigentlich nicht.»

«Wie heißen Sie?»

«Carole. Carole Jones.»

«Ja, dann schönen Dank noch mal, Carole. Und alles Gute.»

 

 

Carole ging nachdenklich zum Haupteingang zurück und zu ihrer nächsten Stunde. Sie überlegte, warum sie sich so oft von älteren Männern angezogen fühlte. Männern wie diesem Inspector. Und Mr. Morris. Sie dachte daran, wie sie zusammen in seinem Wagen gesessen hatten. Wie seine Hand leicht über ihre Brüste gestreift war und ihre Linke sich sanft zwischen die Knöpfe seines weißen Hemdes geschoben hatte — unter den hellblauen Schlips. Und wie sie auf seine Einladung hin zu ihm gekommen war und er sie an der Tür abgefertigt hatte. Er habe gerade unerwartet Besuch bekommen, hatte er gesagt, und würde sich bei ihr melden. Sehr bald.

Aber er hatte es nie getan.