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Harry Josephs tat, als schlafe er noch, hatte aber sehr wohl gehört, wie seine Frau kurz vor sieben aufstand, und konnte ihre Bewegungen präzise verfolgen. Sie hatte den Morgenrock übers Nachthemd gezogen, war in die Küche hinuntergegangen, hatte den Kessel gefüllt und sich dann an den Küchentisch gesetzt, um ihre erste Zigarette zu rauchen. Erst in den letzten zwei, drei Monaten hatte Brenda wieder angefangen zu rauchen, was ihm gar nicht paßte. Ihr Atem roch schal, und der Anblick eines Aschers voller Stummel ekelte ihn an. Wer Sorgen hatte und nervös war, hieß es, rauchte viel. Zigaretten waren ein Betäubungsmittel wie Aspirin oder Schnaps oder Pferdewetten. Erneut von seinen eigenen Sorgen überwältigt, vergrub er den Kopf im Kissen.
«Tee.» Sie stupste sanft seine Schulter an und setzte den Becher auf das Tischchen, das zwischen den Ehebetten stand.
Josephs nickte, grunzte und drehte sich auf den Rücken. Er sah zu seiner Frau hinüber, die vor dem Ankleidetisch stand und sich das Nachthemd über den Kopf streifte. Sie wurde allmählich ein bißchen breiter um die Hüften, war aber noch immer von langbeiniger Eleganz, und ihre Brüste waren fest und voll. Dennoch sah Josephs sie nicht direkt an, als sie jetzt sekundenlang nackt vor dem Spiegel stand. In den letzten Monaten war es ihm zunehmend peinlich, ihren Körper zu betrachten, als dringe er damit in eine Privatsphäre ein, in die sie ihn nicht mehr ausdrücklich einlud. Er setzte sich auf und trank seinen Tee, während sie den Seitenreißverschluß an ihrem braunen Rock hochzog. «Die Zeitung schon da?»
«Hätt ich sonst mitgebracht.» Sie beugte sich aus der Taille nach vorn und nahm ein paar kosmetische Verschönerungsaktionen an ihrem Gesicht vor. Josephs hatte nie viel Interesse für die Reihenfolge aufbringen können.
«Hat tüchtig geregnet in der Nacht.»
«Regnet noch», meinte Brenda.
«Gut für den Garten.»
«Schon gefrühstückt?»
Sie schüttelte den Kopf. «Aber Schinken haben wir noch reichlich, wenn du...» Sie fuhr mit dem Lippenstift über den Schmollmund. «Und Pilze sind auch noch ein paar da.»
Josephs trank seinen Tee aus und legte sich zurück. Es war fünf vor halb acht, in fünf Minuten mußte Brenda los. Sie arbeitete vormittags am Radcliffe Infirmary, wo sie vor zwei Jahren wieder als Krankenschwester angefangen hatte. Vor zwei Jahren, kurz nachdem...
Sie kam zu ihm ans Bett, streifte mit den Lippen leicht seine Stirn, griff sich den Becher und verließ das Zimmer. Aber gleich darauf war sie wieder da. «Fast hätte ich’s vergessen, Harry. Ich bin heute mittag zum Essen nicht hier, kannst du dir was machen? Ich muß mir unbedingt in der Stadt was besorgen. Aber spätestens um drei bin ich zurück. Ich bring auch was Schönes zum Abendessen mit.»
Josephs nickte stumm. Sie stand noch an der Tür. «Brauchst du was? Aus der Stadt, meine ich.»
«Nein.» Einen Augenblick lag er ganz still und horchte nach unten auf ihre Schritte.
«Tschüs!»
«Wiedersehen.» Die Haustür schlug hinter ihr zu. «Wiedersehen, Brenda.»
Er zog die Bettdecke zurück, stand auf und spähte seitlich durch den Vorhang. Der Allegro rollte vorsichtig im Rückwärtsgang auf die stille, nasse Straße hinaus, gab noch die Auspuffwölkchen von sich — dann war er verschwunden. Zum Radcliffe waren es genau 2,8 Meilen, das wußte Josephs. Drei Jahre lang war er selbst genau dieselbe Strecke gefahren, zu dem Gebäude der Stadtverwaltung unterhalb des Krankenhauses, in dem er nach zwanzig Jahren, bei der Army tätig gewesen war. Vor zwei Jahren nach den neuesten Kürzungen der öffentlichen Haushalte, war es zu Personaleinsparungen gekommen, und drei der sieben Mitarbeiter, darunter auch er, hatten ihre Stellung verloren. Er war weder der Älteste noch der Unerfahrenste, doch von den Älteren hatte er die wenigste Erfahrung, und von den weniger Erfahrenen war er der Älteste. Ein leicht versilberter Händedruck, eine Abschiedsfete und eine kleine Hoffnung, einen neuen Job zu finden. Nein, falsch: Fast keine Hoffnung, einen neuen Job zu finden. Damals war er 48 gewesen, genaugenommen noch nicht besonders alt. Doch ganz allmählich hatte er die traurige Wahrheit begriffen: Niemand wollte ihn mehr haben. Nach über einem Jahr deprimierender Untätigkeit hatte er dann doch eine Stelle gefunden, in einer Apotheke in Summertown, aber die Filiale war kürzlich geschlossen worden, und er fast froh gewesen, daß damit auch sein Arbeitsverhältnis auslief. Er, ein Mann, der sich in der Kommandotruppe der Königlichen Marine bis zum Hauptmann hochgearbeitet hatte, der im malaysischen Dschungel zur Terroristenbekämpfung eingesetzt gewesen war, hatte dienstbeflissen hinter einer Theke stehen und Pillen und Pülverchen an irgendein mageres, bleichsüchtiges Bürschchen verkaufen müssen, das bei den Übungen seiner Einheit nicht fünf Sekunden durchgehalten hätte. Und dann hatte der Chef auch noch verlangt, daß er bei jedem Einkauf «Vielen Dank, Sir!» sagte.
Er schob den Gedanken beiseite und zog den Vorhang zurück.
An der Ecke hatten sich Leute an der Bushaltestelle angestellt, mit aufgespannten Schirmen, denn ein stetiger Nieselregen ging auf die strohfarbenen Felder und Wiesen nieder. Ein Vers, den er in der Schule gelernt hatte, kam ihm in den Sinn. Er paßte zu seiner Stimmung und zu dem trostlosen Bild, das sich ihm bot.
Und schaurig durch den Nieselregen bricht
auf kahlen Straßen an der leere Tag.
Er fuhr mit dem Halb-elf-Bus nach Summertown, betrat das Wettbüro und besah sich das Feld von Lichfield Park. Um 14.30 Uhr lief Organist, und um 16.00 Uhr Armer alter Harry. Komischer Zufall. Meist gab er nicht viel auf Namen, was vielleicht ein Fehler war. Mit dem verbiesterten Starren auf die Form der Gäule war er jedenfalls bisher noch nicht auf einen grünen Zweig gekommen. In den Vorwetten war Organist einer der Favoriten, Armer alter Harry war nicht mal erwähnt. Josephs ging an den Tageszeitungen entlang, die an der Wand hingen. In einigen wurden Organist gute Gewinnchancen eingeräumt, Armer alter Harry schien keine Fürsprecher zu haben. Josephs grinste etwas kläglich. Wahrscheinlich würden sie beide nicht als erste den Pfosten passieren, aber versuchen konnte man es ja mal. Er füllte den weißen Wettzettel aus und ging mit seinem Geld an den Schalter.
Lichfield Park, 16.00 Uhr
2 Pfund auf Sieg, Armer alter Harry.
Vor etwa einem Jahr hatte er im Supermarkt, als er zwei Dosen Bohnen in Tomatensoße erstanden hatte, Wechselgeld für ein Pfund bekommen und nicht für die Fünf-Pfund-Note, die er der Kassiererin hingelegt hatte. Sein Protest hatte zu einem Kassensturz und einer peinlichen halben Stunde geführt, ehe sich die Berechtigung seiner Reklamation herausgestellt hatte. Seither prägte er sich, wenn er mit einer Fünf-Pfund-Note zahlte, immer die drei Endziffern ein. Er sagte sie vor sich hin, während er auf das Wechselgeld wartete: 646... 646... 646...
Der Nieselregen hatte praktisch aufgehört, als er um 11.20 Uhr ohne Eile die Woodstock Road hinunterging. Fünfundzwanzig Minuten später stand er auf einem der Parkplätze des Radcliffe und hatte sehr bald den Wagen entdeckt. Er schob sich zwischen den dicht an dicht parkenden Fahrzeugen hindurch und sah durch das Fenster auf der Beifahrerseite. Meilenstand 25 622. Jawohl, das hatte seine Richtigkeit. Als sie weggefahren war, waren es 619 gewesen. Und wenn sie sich jetzt benahm wie jeder vernünftige Mensch, würde sie von hier aus zu Fuß zum Einkäufen gehen, und dann würde der Meilenzeiger, wenn sie heimkam, auf 625, höchstens 626 stehen. Er zog sich hinter den Stamm einer moribunden Ulme zurück und sah auf die Uhr. Und wartete.
Zwei Minuten nach zwölf öffneten sich die Zelluloidklappen, die zur Ambulanz führten, und Brenda Josephs ging rasch auf ihren Wagen zu. Sie schloß auf, lehnte sich vor und besah sich ein paar Sekunden im Rückspiegel, dann nahm sie ein Parfümfläschchen aus der Handtasche und betupfte damit ihren Hals, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite. Sie war nicht angeschnallt, als sie ein wenig ungeschickt im Rückwärtsgang aus der schmalen Parklücke herausfuhr. Dann blinkte sie nach rechts, rollte vom Parkplatz herunter und fuhr die Woodstock Road hinauf, dort blinkte sie nach links und fädelte sich in den Verkehrsstrom ein, der nach Norden aus der Stadt herausführte.
Wie es von dort aus weitergehen würde, wußte er: Zum Kreisel an der Northern Ring Road, dann über den Five Mile Drive zur Kidlington Road. Auch sein nächster Schritt war nun klar.
Die Telefonzelle war unbesetzt. Das Telefonbuch war zwar längst geklaut, aber er kannte die Nummer auswendig.
«Hallo?» Eine Frauenstimme. «Roger Bacon School, Kidlington. Was kann ich für Sie tun?»
«Ich hätte gern Mr. Morris gesprochen, Mr. Paul Morris. Er ist Musiklehrer bei Ihnen, soviel ich weiß.»
«Ja, das stimmt. Moment bitte, ich schau nur mal auf den Stundenplan... Augenblickchen... Nein, er hat eine Freistunde. Ich seh mal nach, ob er im Lehrerzimmer ist. Mit wem spreche ich bitte?»
«Äh - Mr. Jones.»
Eine halbe Minute später war sie wieder dran. «Tut mir leid, Mr. Jones, er scheint nicht im Haus zu sein. Kann ich ihm was ausrichten?»
«Nein, es ist nicht weiter wichtig. Können Sie mir sagen, ob er über Mittag in der Schule sein wird?»
«Moment noch.» Josephs hörte Papier rascheln. Die Mühe hätte sie sich sparen können, er wußte, wie die Antwort ausfallen würde. «Nein. Er hat sich nicht zum Essen angemeldet. Sonst bleibt er meist hier, aber —»
«Macht nichts. Entschuldigen Sie bitte die Störung.»
Herzklopfend wählte er eine andere Nummer. Auch dies war ein Anschluß in Kidlington. Dem sauberen Pärchen würde er mal ein bißchen einheizen. Wenn er sich nur in einen Wagen setzen könnte... Das Telefon läutete endlos. Waren sie am Ende doch nicht...? Doch dann meldete sich jemand.
«Hallo?» Klang das nicht etwas gezwungen?
«Mr. Morris?» Es fiel ihm nicht schwer, in den breiten Yorkshire-Dialekt seiner Jugend zu verfallen.
«Ja?»
«Hier sind die Stadtwerke. Könnten wir wohl mal vorbeikommen? Wir —»
«Heute?»
«Ja, jetzt über Mittag.»
«Äh — nein — das paßt leider nicht. Ich bin nur mal eben zu Hause vorbeigefahren, um mir ein — äh — Buch zu holen. Es war reiner Zufall, daß Sie mich überhaupt erwischt haben. Ich — äh — muß sofort wieder zurück in die Schule. Worum geht es denn?»
Josephs legte grinsend auf. Sollte der Armleuchter ruhig ins Schwitzen kommen.
Als Brenda zehn nach drei heimkam, beschnitt Harry Josephs gerade mit hingebungsvoller Pendanterie die Ligusterhecke. «Tag, Schatz. Alles in Ordnung?»
«Ja, danke. Der übliche Betrieb. Ich hab was Schönes zum Abendessen mitgebracht.»
«Hört man gern.»
«Hast du mittags was gegessen?»
«Einen Happen Brot und Käse.»
Das war gelogen. Brenda wußte, daß sie keinen Käse im Haus hatten. Leise Panik regte sich in ihr. Oder war er weg gewesen? Rasch ging sie mit ihren Einkaufstüten ins Haus.
Josephs setzte seine pingelige Arbeit an der hohen Hecke fort, die sie von den Nachbarn trennte. Er hatte es nicht eilig, und erst als er mit seiner Schnippelei direkt an der Beifahrertür angelangt war, warf er einen beiläufigen Blick auf das Armaturenbrett. Meilenstand 2 5 63 3.
Wie immer wusch er nach dem Abendessen allein ab, einen weiteren Punkt seiner Ermittlungen vertagte er auf später, denn daß seine Frau sich unter irgendeinem Vorwand früh hinlegen würde, stand für ihn fest. Trotzdem war er jetzt fast guter Laune. Endlich mal saß er am längeren Hebel (das dachte er jedenfalls). Nach dem Nachrichtenüberblick in BBC kam das, was er erwartet hatte: «Ich glaube, ich nehme noch ein Bad und lege mich dann bald hin, Harry, ich bin ziemlich erledigt.»
Er nickte teilnahmsvoll. «Soll ich dir eine Tasse Ovaltine bringen?»
«Nein, danke, ich schlafe bestimmt sofort ein. Lieb von dir.» Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und sekundenlang standen Selbstvorwurf und Reue in ihrem Blick.
Als das Wasser im Bad nicht mehr lief, ging Josephs wieder in die Küche und sah in den Mülleimer. Fest zusammengeknüllt und ganz unten im Abfall lagen vier weiße Papiertüten. Was für ein Leichtsinn, Brenda. Er hatte am Morgen schon einmal den Mülleimer überprüft. Die vier Tüten waren neu, und auf allen prangte der Namenszug des Quality-Supermarkts von Kidlington.
Als Brenda am nächsten Morgen weggefahren war, machte er sich Kaffee und Toast und nahm sich den Daily Express vor. Die starken nächtlichen Regenfälle hatten vielen Favoriten einen Strich durch die Rechnung gemacht, die Tipgeber hatten sich mit ihren weit daneben liegenden Voraussagen nicht gerade mit Ruhm bedeckt. Mit boshafter Freude stellte er fest, daß Organist als siebenter von acht Läufern ins Ziel gegangen war. Und Armer alter Harry — hatte gewonnen. Sechzehn zu eins. So leer war der Tag also doch nicht gewesen.