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Das dicke, ledergebundene Kirchenbuch stand, wie Meiklejohn gesagt hatte, auf einem Bord in der Sakristei, und Morse empfand dieselbe Mischung aus Angst und Erwartung, mit der er als Schuljunge die Umschläge mit den Prüfungsergebnissen geöffnet hatte. Die Blätter waren blau liniert, mit einem Zeilenabstand von einem halben Zentimeter, eine Eintragung ging jeweils über die rechte und die linke Seite des Buches. Auf der linken Seite standen Wochentag, Datum und Zeit des Gottesdienstes, rechts Besucherzahl, Betrag der Kollekte und schließlich der Name (fast immer die Unterschrift) des oder der Geistlichen. In einer Kirche von eher protestantischem Zuschnitt hätte bestimmt auch noch dagestanden, welche Bibelstelle in der Predigt abgehandelt worden war. Doch auch mit dem, was er vor sich sah, war Morse hochzufrieden. Das Register hatte sich von selbst beim laufenden Monat geöffnet, und er las die letzte Eintragung: «Montag, 3. April, i9.3oUhr, St. Richard von Chichester. Stille Messe. 19. £ 5.35. Keith Meiklejohn M. A. (Pfarrer).» Dann ging er weit, etwas zu weit zurück, wie er feststellte, bis zum Juli des Vorjahres. Er blätterte bis zum August. Ihm wurde ganz flau, als ihm einfiel, daß jemand die Seite, die er suchte, herausgerissen haben könnte. Aber nein, da war sie. «Montag, 26. September, 19.30 Uhr. Bekehrung des St. Augustin. Feierliches Hochamt. 13. —. Lionel Lawson M. A. (Pfarrer).» Minutenlang sah Morse auf die Eintragung. Hatte er sich doch geirrt? Denn da stand es, von Lawsons eigener Hand — genaue Angaben über den Gottesdienst, in dem Josephs ermordet worden war: Datum und Zeit, Anlaß, Art der Messe (des- halb war natürlich auch Paul Morris dabeigewesen), Besucherzahl, Kollekte (die Summe war natürlich unbekannt, nur Josephs Gedächtnis hatte sie vielleicht sekundenlang gespeichert, — ehe der Tod ihn ereilte), dann Lawsons Unterschrift. Alles vorhanden, alles in Ordnung. Was hatte er sich erhofft? Doch sicher nicht den Betrag der Kollekte? Eine so bodenlose Dummheit hätte Lawson sich nicht leisten dürfen, ohne Stunden später von jedem auch nur einigermaßen tüchtigen Kriminalbeamten verhaftet zu werden. Nein, einen Fehler dieser Art hatte Morse nicht erwartet. Es war viel einfacher. Er hatte überhaupt keine Eintragung erwartet.
Die Tür am Nordportal öffnete sich knarrend, und Morse verspürte einen Anflug nackter Angst, wie er da so allein in der stillen Kirche stand. Irgendwo — vielleicht ganz in der Nähe — lief ein Mörder frei herum und beobachtete die Entwicklung mit bösem, berechnenden Blick. Vielleicht beobachtete er sogar Morse in dieser Sekunde, wußte, daß die Polizei der Wahrheit gefährlich nahe gekommen war. Der Inspector ging auf Zehenspitzen zu dem schweren roten Vorhang vor dem Eingang zur Sakristei und peilte vorsichtig hindurch. Es war Meiklejohn.
«Da habe ich Ihnen was mitgebracht, Inspector», sagte er munter. «Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, wir haben um elf Messe.»
Er reichte Morse ein doppelseitig bedrucktes Blatt mit verblaßten Buchstaben. Die Gemeindemitteilungen für September bestanden aus zahlreichen enggedruckten, durch Sternchenreihen unterteilten Abschnitten. Den Anfang machten in einer Doppelspalte die bevorstehenden Veranstaltungen. Morse setzte sich auf die hinterste Bank und vertiefte sich in das Blatt. Er war noch mit der Lektüre beschäftigt, als ein paar Minuten später Mrs. Walsh-Atkins langsam durch den Mittelgang kam. Sie tastete sich mit der Linken von Bankreihe zu Bankreihe bis zu ihrem Stammplatz. Dort kniete sie nieder und legte zu einer längeren Audienz mit dem Allmächtigen die Stirn in die linke Armbeuge. Inzwischen waren noch ein paar fromme Seelen, alles Frauen, erschienen. Morse hatte sie nicht kommen hören. Die Tür am Südportal war wohl besser mit Öl versorgt als die am Nordportal. Er registrierte diese Tatsache, als könne sie noch einmal nützlich sein.
Morse saß den Gottesdienst aus — was wortwörtlich zu nehmen war, denn er versuchte nicht einmal, die Bewegungen der wenigen alten Damen nachzuahmen. Sein Antlitz trug — schon weit vor Meiklejohns feierlichem Segen — einen Ausdruck lächelnder Zufriedenheit.
«Haben Sie gefunden, was Sie suchen, Inspector?» Meiklejohn beugte sich über den niedrigen Tisch in der Sakristei und machte mit der rechten Hand die Eintragungen im Kirchenbuch, während die Linke zu der langen Reihe von Knöpfen an der Soutane ging.
«Ja, ich bin Ihnen sehr dankbar. Nur noch eine Frage. Können Sie mir etwas über den Heiligen Augustin sagen?»
Meiklejohn sah sich blinzelnd um. «Welchen?»
«Das möchte ich ja gerade von Ihnen wissen.»
«Es gab zwei. St. Augustin von Hippo hat um 400 nach Christus gelebt. Er ist hauptsächlich wegen seiner Confessiones bekannt, der berühmten Bekenntnisse, wie Sie wohl wissen. Der andere, der Heilige Augustin von Canterbury, lebte ein paar Jahrhunderte später, galt als Apostel der Angelsachsen und hat das Christentum auf die Britischen Inseln gebracht. Ich habe ein paar Bücher, die ich Ihnen leihen könnte, wenn —»
«Wissen Sie, wann die beiden bekehrt worden sind?»
«Bekehrt? Äh — nein, leider nicht. Ich bin gar nicht sicher, ob dieses Datum bekannt ist, jedenfalls bei unserem St. Augustin nicht. Aber wie gesagt —»
«Und welchen von den beiden feiern Sie hier?» Von Meiklejohns Antwort hing alles ab. Die hellblauen Augen richteten sich fast feindselig vor Spannung auf den Pfarrer.
«Keinen von beiden», sagte Meiklejohn schlicht. «Vielleicht sollten wir es tun, aber man kann nicht unentwegt feiern, sonst wäre kein Feiertag mehr etwas Besonderes.»
Als Meiklejohn gegangen war, schlug Morse rasch über die letzten drei Jahre den Monat September im Register nach und schnurrte fast vor Zufriedenheit. Das Fest der Bekehrung des einen oder anderen Augustin war erst im September des vergangenen Jahres eingeführt worden. Unter Hochwürden Lionel Lawson.
Als Morse gerade die Kirche verlassen wollte, sah er, daß Mrs. Walsh-Atkins sich erhoben hatte, und ging zurück, um ihr zu helfen.
«Sie sind eine treue alte Seele», sagte er freundlich.
«Wenn ich kann, komme ich zu allen Gottesdiensten, Inspector.»
Morse nickte. «Dann wundert es mich eigentlich, daß Sie an dem Abend nicht da waren, als Josephs ermordet wurde.»
Die alte Dame lächelte wehmütig. «Ich muß wohl vergessen haben, mir die Gemeindemitteilungen anzusehen. Das ist leider so, wenn man älter wird — das Gedächtnis macht nicht mehr so richtig mit.»
Morse geleitete sie zur Tür und sah ihr nach, wie sie zum Martyrs’ Memorial ging. Er hätte sie über ihre vermeintliche Gedächtnisschwäche trösten können. Im September jedenfalls hatte sie sich nicht vertan. Denn in dem Mitteilungsblatt, das Meiklejohn soeben für ihn aufgestöbert hatte, stand kein Wort über den Gottesdienst, in dem Josephs ermordet worden war.