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Am Freitag der gleichen Woche, nachmittags um halb fünf, schob Ruth Rawlinson ihr Fahrrad in den schmalen Durchgang und lehnte es in dem vollgestopften Geräteschuppen an den Rasenmäher. Hier mußte sie bald einmal wieder Ordnung schaffen. Sie nahm eine Plastiktüte vom Gepäckständer und ging zur Haustür. Die Oxford Mail steckte im Briefkasten, und sie zog die Zeitung leise heraus.
Die Meldung war heute nur kurz, stand aber immer noch auf der ersten Seite.
LEICHE NOCH IMMER NICHT IDENTIFIZIERT
Die Polizei hat immer noch keinen bestimmten Hinweis auf die Identität des Toten, der auf dem Turmdach von St. Frideswide’s gefunden worden ist. Chief Inspector Morse wiederholte heute, der Tote sei wahrscheinlich Ende Dreißig. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug, weißes Hemd und hellblauen Schlips. Zweckdienliche Informationen sind an das Polizeipräsidium in St. Aldates, Oxford 49881, zu richten. Nach den bisherigen Ermittlungen zeichnet sich noch keine Verbindung zu dem noch ungeklärten Mord an Harry Josephs ab, der im vergangenen Jahr in derselben Kirche begangen wurde.
Ruth gab es unwillkürlich einen kleinen Ruck. Zweckdienliche Informationen... Informationen hatte sie genug, mehr als ihr lieb war. Und die belasteten ihr Gewissen täglich mehr. Demnach hatte also jetzt Morse den Fall übernommen...
Während sie aufschloß, wappnete sie sich gegen den erschreckend vorhersehbaren Dialog mit ihrer Mutter.
«Bist du das, Ruthie?»
Wer sonst, dämliche Kuh. «Ja, Mutter.»
«Ist die Zeitung gekommen?»
Weißt du ganz genau. Deinen scharfen alten Ohren entgeht doch kein Rascheln. «Ja, Mutter.»
«Bring sie mit, Liebes.»
Ruth stellte die schwere Tüte auf den Küchentisch, hängte ihren Regenmantel über einen Stuhl und ging ins Wohnzimmer. Sie beugte sich über ihre Mutter und gab ihr einen leichten Kuß auf die eisige Wange, legte ihr die Zeitung in den Schoß und wandte sich zur Gasheizung. «Du stellst sie nie hoch genug, Mutter. Es ist diese Woche viel kälter geworden, und du mußt dich warmhalten.»
«Wir können schließlich das Geld nicht zum Fenster rauswerfen, Ruthie.»
Fang bloß nicht wieder damit an. Ruth mobilisierte alle Reserven an Geduld und töchterlicher Nachsicht. «Bist du mit dem Buch fertig?»
«Ja, Liebes. Sehr raffiniert geschrieben.» Aber was sie wirklich interessierte, war die Abendzeitung. «Noch was über den Mord drin?»
«Ich weiß nicht. War es denn ein Mord?»
«Sei nicht albern, Ruthie.» Gierig verschlang sie den Artikel.
«Der Mann, der hier war, Ruthie — dem haben sie den Fall übertragen.»
«Ach ja?»
«Der weiß mehr, als er rausläßt, das sag ich dir.»
«Glaubst du?»
Die Alte nickte weise. «Du kannst noch das eine oder andere von deiner alten Mutter lernen.»
«Zum Beispiel?»
«Erinnerst du dich an diesen Penner, der Harry Josephs ermordet hat?»
«Wer sagt denn, daß er—»
«Jetzt werd nicht gleich böse, Liebes. Die Sache interessiert dich, das merke ich doch. Du hast dir alle Zeitungsausschnitte aufgehoben.»
Neugierige alte Kuh. «Ich hab dir schon einmal gesagt, du sollst nicht in meiner Handtasche herumschnüffeln, Mutter. Eines Tages —»
«—finde ich Sachen, die ich nicht finden soll. Wolltest du das sagen?»
Ruth starrte wütend in die blaue Flammenreihe der Gasheizung und zählte bis zehn. An manchen Tagen wagte sie es neuerdings kaum mehr, den Mund aufzumachen.
«Also das ist er», sagte ihre Mutter.
«Wie meinst du?»
«Der Mann auf dem Turm, Liebes. Das ist der Penner.»
«Ein bißchen zu gut angezogen für einen Penner, findest du nicht, Mutter? Weißes Hemd und—»
«Ich denke, du hast die Zeitung noch nicht gelesen, Liebes?» sagte Mrs. Rawlinson seidenweich.
Ruth holte tief Atem. «Ich hab nur gedacht, du willst dich lieber selbst informieren.»
«Du fängst an, mich anzuschwindeln, Ruthie. Das muß aufhören.»
Ruth sah sich rasch um. Was sollte das heißen? Ihre Mutter konnte unmöglich wissen... «Du redest Unsinn, Mutter.»
«Du glaubst also nicht, daß es der Penner ist?»
«Ein Penner wäre anders angezogen.»
«Kleidung kann man wechseln.»
«Du liest zu viele Krimis.»
«Man kann doch einen Menschen ermorden und ihn dann umziehen.»
«Unsinn.» Ruth beobachtete ihre Mutter scharf. «So einfach geht das nicht. So wie du es sagst, hört es sich an, als ob man eine Puppe anzieht.»
«Ich weiß, Liebes, es wäre kompliziert. Aber das Leben steckt voller Komplikationen. Ich sag ja bloß, daß es nicht unmöglich ist.»
«Ich hab bei Sainsbury’s zwei schöne Steaks mitgenommen. Am besten mach ich ein paar Pommes frites dazu.»
«Man könnte einen Menschen auch umziehen, ehe man ihn ermordet.»
«Wie? Sei nicht albern, Mutter. Man identifiziert eine Leiche nicht nach den Sachen, sondern nach dem Gesicht und dergleichen.»
«Und wenn nichts mehr von seinem Gesicht übrig ist, Liebes?» fragte Mrs. Rawlinson unschuldig.
Ruth ging zum Fenster. Sie wollte dieses Gespräch beenden. Es war widerwärtig und machte ihr Angst. Vielleicht war ihre Mutter doch nicht so senil, wie sie gedacht hatte. Ruth sah deutlich den «Penner» vor sich, von dem ihre Mutter gesprochen hatte, den Mann, von dem Ruth wußte — obschon es ihr niemand gesagt hatte, daß er Lionel Lawsons Bruder war. Ein Parasit, untüchtig und minderwertig, der nach Alkohol, Dreck und Gosse stank. Allerdings nicht immer. Zweimal hatte sie ihn erstaunlich manierlich erlebt, frisch rasiert, mit ordentlich geschnittenem Haar, sauberen Fingernägeln und einem anständigen Anzug auf dem Leib. In diesem Zustand war die Familienähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern geradezu frappant.
«...sie mich fragen, was sie zweifellos nicht tun werden...» Mrs. Rawlinson hatte unaufhörlich weitergeschwatzt, aber erst jetzt nahm Ruth ihre Worte wieder auf.
«Was würdest du ihnen sagen?»
«Davon red ich doch die ganze Zeit. Hörst du nicht zu, Liebes? Fehlt dir was?»
Ja, eine ganze Menge fehlt mir. Ruhe zum Beispiel. Und wenn du nicht zurücksteckst, geliebte Mama, werde ich dir eines schönen Tages den Hals umdrehen, dir andere Sachen anziehen, deinen mageren kleinen Körper auf den Turm tragen und den Vögeln eine zweite Portion servieren. «Was soll mir fehlen? Ich kümmere mich ums Abendessen.»
Schwarze, faulige Flecken kamen unter der Schale der ersten Kartoffel zum Vorschein, und sie griff nach der nächsten. Sie hatte den Beutel gerade erst gekauft. Über dem Slogan «Buy British» prangte ein großer Union Jack. Rot, weiß und blau... Sie dachte an Paul Morris an der Orgelbank mit seinem roten Hut, dem weißen Hemd, dem blauen Schlips. An Paul Morris, der nach gängiger Meinung mit Brenda Josephs durchgebrannt war. Was natürlich nicht stimmte. Jemand hatte dafür gesorgt, daß ihm das nicht gelungen war. Jemand, der in diesem Augenblick irgendwo saß und sich an seinem Erfolg weidete. Das Dumme war, daß nicht mehr viele übrig waren. Eigentlich gab es nur noch eine, die eventuell... Aber nein, Brenda Josephs konnte doch damit nichts zu tun haben. Oder doch?
Ruth schüttelte überzeugt den Kopf und schälte die nächste Kartoffel.