25

 

Am gleichen Tag saß kurz nach acht ein Mann mittleren Alters in weißem Hemd ohne Krawatte in einem hellerleuchteten, hübsch eingerichteten Zimmer und wartete. Er lehnte auf einem bequemen Chintzsofa mit braunweißem Blütenmuster und starrte mit ziemlich leerem Blick auf die Mattscheibe, wobei er eine lange Benson&Hedges-Zigarette rauchte. Sie hatte sich heute abend ein bißchen verspätet, aber kommen würde sie bestimmt, denn sie brauchte ihn ebenso sehr, wie er sie brauchte. Manchmal, vermutete er, sogar noch mehr. Eine bereits geöffnete Flasche Rotwein und zwei Weingläser standen auf dem Beistelltisch neben ihm, und durch die halb geöffnete Schlafzimmertür sah er die Hypotenuse der zurückgeschlagenen Bettdecke.

Jetzt komm endlich, Schätzchen.

Es war zehn nach acht, als er es schließen hörte. Obgleich es draußen stetig nieselte, sah ihr hellblauer Regenmantel, den sie von den Schultern nahm und ordentlich zusammengefaltet über eine Sessellehne legte, trocken aus. Die weiße Baumwollbluse saß straff über dem Busen, der enge schwarze Rock folgte der Rundung ihrer Hüften. Eine Weile sagte sie nichts, sondern sah ihn nur an. In ihrem Blick lagen weder Freude noch Zärtlichkeit, nur eine glimmende animalische Sinnlichkeit. Sie ging auf ihn zu und blieb in aufreizender Haltung vor ihm stehen.

«Du hast mir doch gesagt, daß du mit dem Rauchen aufhören würdest.»

«Setz dich und hör auf zu meckern, Weib. In dieser Kluft machst du mich an.»

Die Frau gehorchte. Es schien fast, als beugte sie sich widerspruchslos seinen Wünschen und Launen, als bereite ihr seine schroffe Art, sie herumzukommandieren, so etwas wie Genuß.

Es gab keine zärtlichen Worte, keine Liebkosung, aber sie saß dicht neben ihm, als er den Wein einschenkte, und er spürte den Druck ihres schwarz bestrumpften Beines (brav, sie hatte es also nicht vergessen). Mit einem Rest von gegenseitiger Achtung ließen sie die Gläser aneinanderklingen, und sie lehnte sich zurück.

«Hast du den ganzen Abend ferngesehen?» fragte sie, offenbar nur, um etwas zu sagen.

«Ich bin erst um halb sieben zurückgekommen.»

Jetzt sah sie ihn zum erstenmal voll an. «Es ist Wahnsinn, daß du da draußen rumläufst. Besonders am Sonntag. Ist dir nicht klar —»

«Reg dich ab. Ich bin kein Trottel, das weißt du ganz genau. Niemand hat mich je hier rauskommen sehen. Und wenn schon. Jetzt erkennt mich doch keiner.» Er lehnte sich rasch zu ihr hinüber und öffnete den obersten Blusenknopf. Und den nächsten.

Wie immer mischten sich in ihrer Reaktion Ekel und Sinnenkitzel — eine gefährliche Kombination. Bis vor kurzem war sie noch Jungfrau gewesen. Erst jetzt war sie sich der Macht ihres Körpers richtig bewußt geworden. Sie legte sich passiv zurück, während er sie streichelte — weit über den Punkt hinaus, den sie noch bis vor ein paar Monaten genossen oder sich auch nur gestattet hätte. Willenlos ließ sie sich vom Sofa hochziehen und folgte ihm ins Schlafzimmer.

Der Koitus war nicht besonders denkwürdig, ganz gewiß nicht ekstatisch, aber er befriedigte sie, wie meist. Doch danach lag sie wieder schweigend im Bett und kam sich billig und gedemütigt vor. Nicht nur ihr Körper war nackt, sondern auch ihre Seele war entblößt. Instinktiv zog sie sich die Decke bis zum Hals und hoffte, daß er sie wenigstens eine Weile mit seinen Händen und seinen Blicken in Ruhe lassen würde. Wie sie ihn verachtete. Aber nicht halb so sehr wie sich selbst.

Es mußte aufhören. Sie haßte den Mann und die Macht, die er über sie hatte, und doch brauchte sie ihn und seine Männlichkeit. Er hatte sich erstaunlich fit gehalten... aber das... war ja auch eigentlich... kein Wunder...

Sie schlief ein.

 

 

Als sie an der Tür stand, den Regenmantel locker über den Schultern, fragte er: «Mittwoch um dieselbe Zeit?»

Wieder sah sie ganz klar das Entwürdigende ihrer Lage. Ihre Lippen zuckten. «Einmal muß Schluß sein. Das weißt du.»

Er lächelte arrogant. «Red dir nichts ein. Du kannst doch gar nicht Schluß machen.»

«Ich kann damit aufhören, wann ich will, und weder du noch sonst jemand—»

«Ach ja? Du steckst in der Sache ebenso tief drin wie ich, vergiß das nicht.»

Sie schüttelte heftig den Kopf. «Du hast gesagt, daß du weggehen würdest. Du hast es versprochen.»

«Mach ich auch. Sehr bald sogar, Schätzchen. Ehrlich. Aber bis ich gehe, treffen wir uns, ist das klar? Wir treffen uns, wann ich will und so oft ich will. Und erzähl mir nicht, daß es dir keinen Spaß macht, das nehm ich dir nämlich nicht ab.»

Ja, es machte ihr Spaß, und ihre Augen brannten bei seinen gemeinen Worten. Wie konnte sie einen Mann so sehr hassen und trotzdem zulassen, daß er mit ihr schlief? So konnte es nicht weitergehen. Dabei gab es eine sehr einfache Lösung. Sie brauchte nur zu Morse zu gehen, ihm alles zu sagen und die Folgen auf sich zu nehmen. Soviel Mut würde sie doch wohl noch aufbringen können?

Der Mann beobachtete sie scharf. Er erriet einiges von dem, was ihr durch den Kopf ging. Er war es gewöhnt, schnelle Entscheidungen zu treffen. Und er sah seinen nächsten Zug so klar vor sich wie ein Großmeister, der mit einem Neuling am Schachbrett sitzt. Daß er das Problem, das die Frau darstellte, irgendwie würde lösen müssen, hatte er von Anfang an gewußt. Er hatte zwar gehofft, er könne es noch eine Weile vor sich herschieben, aber jetzt eilte es. Für ihn kam weit vor dem Sex die Macht, und so sollte es auch bleiben.

Er trat zu ihr, legte ihr leicht die Hände auf die Schultern und sah ihr forschend in die Augen. Sein Gesicht wirkte überraschend freundlich und verständnisvoll.

«Ich will dir keinen Kummer machen, Ruth», sagte er leise.

«Komm, setz dich noch einen Augenblick. Ich möchte mit dir reden.» Sanft nahm er ihren Arm und führte sie zum Sofa. Sie wehrte sich nicht. «Ich werde nichts mehr von dir verlangen, Ruth, das verspreche ich dir. Wir werden uns nicht mehr treffen, wenn du es wirklich nicht willst. Ich kann es nicht ertragen, wenn du so unglücklich bist.»

Es war viele Wochen her, seit er so geredet hatte, und in ihrer tiefen Verstörung war sie ihm plötzlich unendlich dankbar für seine Worte.

«Wie gesagt, bald gehe ich weg, dann kannst du mich vergessen, und wir werden beide versuchen, nicht mehr an das Unrecht zu denken, das wir begangen haben. Denn es war Unrecht. Nicht daß wir zusammen ins Bett gegangen sind, das meine ich nicht. Das war etwas sehr Schönes für mich, etwas, was ich nie bereuen werde. Und ich hatte gehofft, du würdest es ebenso empfinden. Aber lassen wir das. Versprich mir eins, Ruth. Wenn du doch wieder zu mir kommen willst, solange ich noch hier bin, komm bitte. Du weißt, daß ich mich nach dir sehne. Daß ich auf dich warte.»

Sie nickte stumm, mit Tränen in den Augen, während er ihren Kopf an seine Schulter legte und sie an sich zog.

Sie hatte den Eindruck, daß sie lange Zeit so saßen. Für ihn war es nur ein unvermeidliches Zwischenspiel. Seine kalten Augen blickten über Ruths Schulter auf die verhaßte Tapete hinter dem Fernseher. Er würde sie umbringen müssen, ganz klar. Die Entscheidung war schon längst gefallen. Aber er konnte sich die Verzögerung nicht erklären. So dumm, wie sie tat, konnte die Polizei doch unmöglich sein. Noch kein Wort über den Mord in Shrewsbury. Nichts Definitives über die Leiche auf dem Turm. Kein einziges Wort über den Jungen...

«Geht’s deiner Mutter gut?» fragte er fast zärtlich.

Ruth gab es einen Ruck. Es wurde Zeit, daß sie heimging. Zur Mutter.

«Gehst du immer noch in die Kirche zum Putzen?»

Sie nickte, schnüffelte ein bißchen und löste sich von ihm.

«Montags, mittwochs und freitags?»

«Jetzt nur noch montags und mittwochs. Mit zunehmendem Alter werde ich lässiger.»

«Immer noch vormittags?»

«Ja. Meist so um zehn. Danach gehe ich neuerdings auf einen Drink ins Randolph.» Sie lachte verlegen und schnaubte sich laut in ihr nasses Taschentuch. «Ich könnte jetzt auch einen gebrauchen, wenn—»

«Natürlich.» Er holte eine Flasche Teacher’s Whisky aus dem Sideboard und gab einen großzügigen Schuß in ihr Weinglas. «Hier, der wird dir guttun. Dir ist jetzt schon besser, nicht?»

«Ja, das stimmt.» Sie nahm einen Schluck. «Weißt du noch, als ich dich gefragt habe, ob du etwas von... von dem weißt, was sie auf dem Kirchturm gefunden haben?»

«Ja.»

«Und du hast gesagt, daß du keine Ahnung hast.»

«Hab ich auch nicht. Aber die Polizei wird es schon herausbekommen.»

«Es heißt nur, daß die Ermittlungen laufen.»

«Haben sie dich etwa wieder belästigt?»

Sie atmete tief und stand auf. «Nein. Allerdings könnte ich ihnen darüber auch nichts sagen.»

Einen Augenblick dachte sie an Morse mit seinen durchdringenden Augen. Traurigen Augen, als seien sie ständig auf der Suche nach etwas, was sie nicht finden konnten. Ein gescheiter Mann, und auch ein netter Mann. Warum war ihr nicht vor Jahren jemand wie Morse über den Weg gelaufen?

«Was denkst du?» Seine Stimme klang wieder fast schroff.

«Daß du schrecklich nett sein kannst, wenn du willst.»

Sie hatte es jetzt eilig. Ihr war, als winke die Freiheit hinter der geschlossenen Tür. Aber da war er schon bei ihr, seine Hände gingen wieder zärtlich über ihren Körper. Und bald hatte er sie mit sich zu Boden gezogen, wo er — wenige Zentimeter vor der Tür — erneut in sie eindrang. Er keuchte wie ein Tier, während sie mit stumpfem Blick auf einen Haarriß an der Decke starrte.