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«Was zum Teufel wollen Sie denn hier?» knurrte Chief Inspector Bell. Ein vierzehntägiger Urlaub in Malaga, der mit einem Streik des spanischen Hotelpersonals zusammengefallen war, hatte ihn nicht in die beste Laune versetzt, und die Fälle, denen er mit Vergnügen den Rücken gekehrt hatte, waren natürlich in der Zwischenzeit nicht von seinem Schreibtisch verschwunden. Aber er kannte Morse gut, sie waren alte Sparringspartner.
«Noch viel Betrieb in den spanischen Puffs?»
«Ich hab in Familie gemacht, Mann.»
«Erzählen Sie ein bißchen von dieser Lawson-Sache.»
«Ich werde mich hüten. Der Fall ist abgeschlossen und geht Sie nichts an.»
«Was machen die Kinder?»
«Undankbare Bande. Die nehm ich nie wieder mit.»
«Der Fall Lawson ist also abgeschlossen?»
«Ein für allemal.»
«Aber es kann doch nichts schaden, wenn —»
«Ich hab den Schlüssel verloren.»
«Kinder sind immer undankbar.»
«Meine besonders.»
«Wo sind die Akten?»
«Was wollen Sie denn wissen?»
«Zunächst mal, wer Josephs umgebracht hat.»
«Das war Lawson.»
Morse blinzelte überrascht. «Ist das Ihr Ernst?»
Bell nickte. «Das Messer, mit dem Josephs ermordet worden ist, gehörte Lawson. Seine Putzfrau hat es ein paarmal auf seinem Schreibtisch im Pfarrhaus gesehen.»
«Aber Lawson war doch gar nicht in Josephs’ Nähe, als —» Morse unterbrach sich, und Bell fuhr fort:
«Josephs war schon fast tot, als er das Messer in den Rücken bekam. Akute Morphiumvergiftung am Tisch des Herrn, so heißt es. Josephs war Kirchenältester und immer der letzte beim Abendmahl. Liegt doch auf der Hand, daß...» Morse hörte nur halb auf Bells — nein, auf seine eigene Erklärung «...gehört einfach zum Ritual. Den Kelch ausspülen, abwischen und bis zum nächstenmal in den Schrank stellen. Kinderleicht. Aber Beweise haben wir keine.» — «Aber wie hat Lawson — ?»
«Er steht vor dem Altar und wartet, bis der letzte Choral zu Ende geht. Er weiß, daß Josephs wie immer in die Sakristei gegangen ist, um die Kollekte zu zählen, und glaubt, daß er bewußtlos, inzwischen wohl schon tot ist. Aber plötzlich ruft Josephs um Hilfe, und Lawson rauscht in seiner Batman-Kluft —»
«Meßgewand», sagte Morse halblaut.
«—durch die Kirche und verdeckt ihn mit diesem Ding. Die anderen Besucher — viele sind es sowieso nicht — hält er von der Sakristei fern, läßt Hilfe holen, und als er allein ist, stößt er Josephs vorsichtshalber das Messer in den Rücken.»
«Ich denke, die Kollekte ist weg?»
Bell nickte. «Einer dieser Pennbrüder hat an dem Gottesdienst teilgenommen. Lawson hatte sich gelegentlich um ihn gekümmert, ihn im Pfarrhaus aufgenommen, ihm was von seinen alten Sachen gegeben und dergleichen. Der Penner hatte am Altar neben Josephs gekniet.»
«Er könnte das Gift in den Wein getan haben.»
Bell schüttelte den Kopf. «Sie sollten gelegentlich zur Kirche gehn, Morse. In dem Falle hätte nicht nur Josephs, sondern auch Lawson dran glauben müssen. Der Pfarrer muß den Rest Wein austrinken, der noch im Kelch ist. Morse, ich glaube, Sie werden alt.»
«Aber die Kollekte ist jedenfalls weg», sagte Morse matt.
«Ja, die hat bestimmt dieser Penner mitgehen lassen, Swan oder so ähnlich. Der hat das Geld in der Sakristei gesehen und es sich unter den Nagel gerissen.»
«Haben Sie nicht eben gesagt, daß Lawson die anderen ferngehalten hat?»
«Zunächst ja.»
Morse wirkte nicht sehr überzeugt, aber Bell fuhr munter fort: «Nach allem, was man so hört, ein durchaus gebildeter Typ, dieser Penner. Wir haben natürlich einen Steckbrief rausgeschickt. Aber diese Burschen sehen sich alle ähnlich, unrasiert und mit langem Zottelhaar. Auch wenn wir ihn finden würden, könnten wir ihn nur wegen Diebstahl rankriegen, vielleicht auch nur wegen Mundraub. Es waren höchstens zwei oder drei Pfund. Ironie des Schicksals, wenn man so will. Hätte er Josephs’ Ta-I sehen durchsuchen können, hätte er fast hundert erwischt.»
Morse stieß einen leisen Pfiff aus. «Das bedeutet aber, daß auch Lawson seine Taschen nicht durchsucht hat. Es heißt ja, daß die Pfarrer heutzutage nicht gerade überbezahlt sind, und Lawson war bestimmt kein Krösus.»
Bell lächelte. «Lawson konnte von Glück sagen, daß er es geschafft hat, ihm das Messer in den Rücken zu stoßen. Da dürften ihm die Taschen ziemlich egal gewesen sein. Im übrigen könnte man Lawson — mit gewissen Abstrichen — durchaus als Krösus bezeichnen. Ein paar Wochen vor seinem Tod hatte er noch über 3o ooo Pfund auf seinem Girokonto.»
Diesmal pfiff Morse laut und lange. «Ein paar Wochen vor seinem Tod, sagen Sie...»
«Ja. Dann hat er fast alles abgehoben.»
«Und weiß man —»
«Nein.»
«Was hat denn der Bankmensch gesagt?»
«Der darf doch nichts sagen.»
«Und was hat er gesagt?»
«Lawson habe ihm erzählt, er wolle eine anonyme Spende für einen wohltätigen Zweck leisten und brauche deshalb Bargeld.»
«Wohltätiger Zweck? Es darf gelacht werden.»
«Es gibt eben noch großherzige Menschen auf der Welt.»
«Hat er das Bargeld vor oder nach dem Mord an Josephs abgehoben?»
Zum erstenmal ließ Bell Anzeichen von Unbehagen erkennen. «Vorher.»
Morse schwieg einen Augenblick. Die neuen Informationen wollten sich nicht so ohne weiteres in das Muster einfugen. «Was für ein Motiv hatte Lawson für den Mord an Josephs?»
«Erpressung vielleicht?»
«Hatte Josephs ihn irgendwie in der Hand?»
«Kann sein. Es gab da gewisse Gerüchte.»
«Ja?»
«Bei Fakten ist mir wohler.»
«Hat Lawson mit den Chorknaben geschwuchtelt?»
«Sie drücken sich immer so gewählt aus.»
«Na, dann rücken Sie mal raus mit Ihren Fakten.»
«Lawson hatte ein paar Wochen vorher einen Scheck über 250 Pfund für Josephs ausgeschrieben.»
«Verstehe», sagte Morse nachdenklich. «Was noch?»
«Sonst nichts.»
«Kann ich die Akten einsehen?»
«Natürlich nicht.»
Morse verbrachte die nächste Stunden in Bells Büro mit der Durchsicht der Unterlagen.
Wenn man den chronischen Personalmangel berücksichtigte, waren die Ermittlungen im Fall Josephs und im Fall Lawson recht sorgfältig durchgeführt worden. Allerdings gab es da ein paar überraschende Lücken. So wären zum Beispiel die Aussagen aller Besucher aufschlußreich gewesen, die an dem Abend, an dem Josephs gestorben war, am Gottesdienst teilgenommen hatten, aber offenbar waren die meisten gar keine Gemeindemitglieder gewesen - unter anderem hatten auch mehrere amerikanische Touristen teilgenommen — und Lawson hatte ihnen ganz harmlos erklärt, ihre weitere Anwesenheit sei nicht erforderlich. Verständlich, gewiß, aber sehr leichtsinnig und inkorrekt. Unterstellen wir mal, überlegte Morse, Lawson habe gar keinen Wert darauf gelegt, daß die Zeugen der Polizei alles erzählten, was sie gesehen hatten. Manchmal waren es gerade diese Details, diese kleinen Unstimmigkeiten... Von den gewissenhaft abgefaßten, sauber getippten Aussagen las Morse nur eine gründlicher. Sie trug die krakelige Unterschrift von Mrs. Emily Walsh-Atkins, die bestätigte, daß es sich bei dem Toten um Lawson gehandelt habe.
«Haben Sie das alte Mädchen verhört?» fragte Morse und schob das Protokoll über den Tisch.
«Nicht persönlich.»
Bisher hatte Bell ein, zwei Längen Vorsprung gehabt, aber Morse hatte den Eindruck, daß er zügig aufholte. «Sie ist blind wie ein Maulwurf, haben Sie das gewußt? Komische Art von Identifizierung. Ich hab sie vor kurzem kennengelernt, und da —»
Bell sah langsam von dem Bericht auf, den er gerade las. «Wollen Sie damit sagen, daß der Typ, der über der Einfriedung hing, als wir kamen, nicht Lawson war?»
«Ich sage nur, daß Sie wohl ziemlich verlegen um Zeugen waren, wenn die alte Dame zur Identifizierung herhalten mußte. Wie gesagt, sie ist —»
«—blind wie ein Maulwurf, genauso hat es mein Sergeant Davies auch ausgedrückt. Aber nehmen Sie ihr es nicht krumm, daß sie mitspielen wollte, so was Aufregendes ist ihr bestimmt in ihrem ganzen Leben nicht passiert.»
«Aber das bedeutet doch nicht—»
«Jetzt mal langsam, Morse. Für die Leichenschau brauchten wir nur eine Identifizierung, also haben wir auch nur sie als Zeugin benannt. Aber wir hatten noch einen zweiten Zeugen in Reserve, und der ist bestimmt nicht blind wie ein Maulwurf, sonst würde er sich nämlich verdammt schwertun, auf seiner Orgel Stücke mit sechs Kreuzen zu spielen.»
«Verstehe.» Aber Morse verstand überhaupt nichts mehr. Was hatte Morris an diesem Vormittag in der Kirche zu suchen gehabt? Ruth Rawlinson würde es wissen. Ruth, die heute Geburtstag hatte und vermutlich gerade dabei war, sich für einen geilen Bock aufzudonnern.
«Warum war Morris an dem Vormittag in der Kirche?»
«Wir leben in einem freien Land, Morse. Vielleicht war ihm gerade danach.»
«Haben Sie festgestellt, ob er an dem Tag Orgel gespielt hat?»
«Hat er.» Bell war wieder obenauf — eine seltene Erfahrung bei einem Gespräch mit Morse.
Als Morse weg war, sah Bell minutenlang tatenlos aus dem Fenster. Morse war ein schlauer Hund. Mit einigen Fragen war er ihm ziemlich nah an den Nerv gekommen. Aber Unklarheiten gab es bei jedem Fall. Er versuchte, gedanklich auf einen anderen Kanal umzuschalten, aber ihm war heiß, und er schwitzte. Sah ganz danach aus, als ob er sich eine Erkältung eingefangen hatte.
Ruth Rawlinson hatte Morse angeschwindelt. Das heißt, nicht direkt angeschwindelt. Sie war an ihrem Geburtstag tatsächlich abends verabredet, aber zum Glück nicht sehr lange. Danach könnte sie sich mit Morse treffen, falls er noch Lust hatte, mit ihr auszugehen.
Um drei blätterte sie nervös unter M in dem blauen Telefonbuch von Oxford und Umgebung. Sie fand nur einen Morse, wohnhaft in Nord-Oxford. Morse, E. Sie wußte nicht, wie er mit Vornamen hieß, und überlegte kurz, wofür wohl das E stehen mochte. Gegen jede Vernunft hoffte sie bei den ersten Anschlägen des Apparates, daß er nicht zu Hause war. Je länger sie es klingeln ließ, desto sehnsüchtiger wünschte sie sich, er möge sich melden.
Aber er meldete sich nicht.