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Der Bus, ein ausladendes Luxusgefährt, sollte um halb acht am Cornmarket abgehen, und Morris trat zu der Gruppe aufgeregter Eltern, die Verpflegungspakete, Badezeug und Taschengeld noch einmal überprüften. Peter saß schon zwischen zwei aufgekratzten Kumpeln auf der hintersten Bank, und Lawson zählte nochmals durch, ob seine Schar wirklich vollzählig war und die Expedition endlich starten konnte. Während der Fahrer sich mit dem Lenkrad mühte, um das schwere Fahrzeug in die Beaumont Street zu manövrieren, sah Morris Harry und Brenda Josephs stumm nebeneinander auf einer der vorderen Bänke sitzen, sah Lawson, der seinen Regenmantel zusammenfaltete und im Gepäcknetz verstaute, sah Peter, der munter schwatzte und wie die meisten anderen Jungen darauf verzichtete oder einfach vergessen hatte, noch einmal zum Abschied zu winken. Und dann rollten sie gen Bournemouth.
Die Uhr auf der Südseite des Turms von St. Frideswide’s stand auf Viertel vor acht, als Morris zur Carfax und durch die Queen Street zur St. Ebbe’s ging. Dort machte er vor einem schmalen, dreigeschossigen Stuckhaus halt, das, ein wenig von der Straße zurückversetzt, hinter einem leuchtendgelben Zaun stand. An dem hohen Holztor, das den schmalen Zugang zur Haustür bewachte, hing ein abblätterndes Schild, auf dem verblaßte Druckbuchstaben verkündeten: Pfarrei St. Frideswide’s. Das Tor stand halb offen. Während Morris noch befangen und unentschlossen auf der verlassenen Straße stand, kam pfeifend ein Zeitungsjunge angeradelt und schob die Times durch den Briefkastenschlitz an der Haustür. Niemand nahm die Zeitung heraus. Morris entfernte sich langsam und ging ebenso langsam wieder auf das Haus zu. Im Obergeschoß ließ ein schmaler Streifen Neonlicht darauf schließen, daß jemand da war. Er ging zur Haustür und betätigte leise den häßlichen schwarzen Türklopfer. Drinnen rührte sich nichts. Er versuchte es noch einmal, diesmal ein bißchen lauter. In dem weitläufigen alten Pfarrhaus mußte doch irgend jemand sein. Studenten wahrscheinlich, vielleicht auch eine Haushälterin. Aber als er das Ohr an die Tür legte, hörte er keinen Laut. Mit hämmerndem Herzen drehte er den Türknauf. Die Tür war abgeschlossen.
Hinten war das Haus von einer fast drei Meter hohen Mauer umgeben. Aber ein zweiflügeliges Tor, auf das jemand ziemlich dilettantisch «Nicht parken!» gepinselt hatte, verhieß einen Zugang. Morris drehte den Metallring. Das Tor war unverschlossen. Er trat ein. Ein schmaler Weg führte zwischen der hohen steinernen Mauer und ungepflegtem Rasen zum Haus. Morris machte leise das Tor zu, ging zur Hintertür und klopfte mit der Zaghaftigkeit des Feiglings. Keine Reaktion, kein Laut. Er drehte den Türknauf. Die Tür öffnete sich. Sekundenlang blieb er reglos in der weiträumigen Diele stehen. Er sah die Times schräg nach unten im Briefschlitz stecken wie die Zunge eines grinsenden Wasserspeiers. Im Haus war es totenstill. Er zwang sich, ruhig zu atmen, und sah sich um. Links stand eine Tür einen Spalt breit offen. Auf Zehenspitzen ging er hin. «Ist da jemand?» So leise er es gefragt hatte — die Worte machten ihn seltsamerweise sicherer. Als sei er für den Fall, daß doch jemand da war, entschuldigt, nachdem er sich bemerkbar gemacht hatte. Und es war tatsächlich jemand da, oder zumindest war kürzlich jemand dagewesen. Auf einem Tisch mit Resopalplatte lag ein mit Butter und Marmelade verschmiertes Messer, daneben standen ein einsamer Teller voller Toastkrümel und ein großer Becher mit einem Schuck kaltem Tee. Sicher die Überreste von Lawsons Frühstück. Aber plötzlich rann es Morris kalt den Rücken herunter. Der Grill am Elektroherd war noch angestellt, die Heizschlangen leuchteten zornigrot. Doch auch hier war alles ruhig, das mechanische Ticktack der Küchenuhr schien die allgemeine Stille nur noch zu unterstreichen.
Leise ging er wieder in die Diele und stieg so lautlos wie möglich die breite Treppe hinauf. Im ersten Stock war nur eine Tür offen, anscheinend die richtige. Ein schwarzes Ledersofa stand an seiner Wand, der Raum hatte Teppichboden. Morris schlich zu dem Rollsekretär am Fenster. Er war abgeschlossen, aber der Schlüssel lag obenauf. Innen fanden sich zwei sauber beschriebene Bogen — Text und Notizen für eine Predigt — beschwert mit einem ungewöhnlichen Papiermesser in Kruzifixform mit einer Schneide, die — ganz unnötigerweise, fand Morris — rasiermesserscharf war. Er nahm sich zunächst die linken Schubfächer vor. Alle ließen sich widerstandslos öffnen, alle enthielten anscheinend Harmloses. Dasselbe galt für zwei der rechten Schubfächer. Aber das unterste war abgeschlossen. Von einem Schlüssel keine Spur.
Als angehender Einbrecher hatte Morris die Widerspenstigkeit von Schlössern und Riegeln nur insoweit berücksichtigt, als er einen kleinen Meißel mitgenommen hatte, den er jetzt aus der Tasche zog. Er brauchte gute zehn Minuten, und als das unterste Schubfach endlich offen stand, war der Rahmen, der es umgab, hoffnungslos verschrammt und angeschlagen. Das Fach enthielt eine alte Konfektionsschachtel, von der Morris gerade die Gummibänder streifte, als er einen leisen Laut hörte und mit schreckgeweiteten Augen herumfuhr.
In der Tür stand ein Mann mit schaumbedecktem Gesicht, in der rechten Hand einen Rasierpinsel, in der linken ein schmutziges rosa Handtuch. Sekundenlang war Morris so verblüfft, daß er fast seinen Schrecken darüber vergaß, denn er hatte zunächst den Eindruck, daß Lawson vor ihm stand. Aber das war natürlich Unsinn, und nach ein paar Sekunden setzte sein logisches Denken wieder ein. Der Mann war etwa ebenso groß und von ähnlichem Körperbau wie Lawson, aber das Gesicht war schmaler, das Haar grauer. Und die Stimme des Mannes klang ganz anders als die von Lawson, war eine seltsame Mischung aus Kultiviertem und Ordinärem.
«Sag mal, alter Freund, was zum Teufel treibst du eigentlich hier?»
Jetzt erkannte Morris ihn. Er war einer der Pennbrüder, die manchmal auf dem Bonn Square oder in der Brasenose Lane zusammensaßen. Lawson hatte ihn ein paarmal zum Gottesdienst mitgebracht. Es wurde gemunkelt, die beiden seien verwandt. Manche hatten gar den Verdacht, daß der Mann Lawsons Bruder war.
In Bournemouth strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, aber der Wind war kalt und böig, und Brenda Josephs in ihrem Liegestuhl beneidete die Urlauber, die behaglich hinter ihrem gestreiften Windschutz aus Segeltuch saßen. Ihr war kalt, und sie langweilte sich. Und Harrys Bemerkung ging ihr nach: «Schade, daß Morris keine Zeit hatte.»
Das war alles gewesen. Alles?
Die Jungen waren mit geradezu bewundernswerter Energie herumgetobt, sie hatten am Strand Fußball gespielt, waren ins Wasser gestürmt, auf den Felsen herumgeklettert, hatten Cola in sich hineingeschüttet, Sandwiches verschlungen, Kartoffelchips gemampft, waren wieder ins Wasser gegangen. Aber für sie, Brenda, war es ein leerer, nutzloser Tag gewesen. Sie war als «Schwester vom Dienst» mitgefahren, denn es blieb nicht aus, daß auf so einem Ausflug einem Kind schlecht wurde oder sich jemand das Knie aufschlug. Statt dessen hätte sie den Tag mit Paul verbringen können. Ohne jedes Risiko. Die Vorstellung war schier unerträglich.
Weit draußen funkelte das Meer einladend in der Sonne, aber am Strand schlugen die Brecher mit schwerer Gischt auf. Es war kein Tag für gemächliche Strandläufe, aber ein Riesenspaß für die Jungen, die noch immer gegen die Wellen angingen. Lawson war bei ihnen, hellhäutig wie ein Fischbauch, lachend, planschend, rundum glücklich. Brenda kam das alles recht harmlos vor, sie konnte sich einfach nicht vorstellen, daß in diesem kleinlichen Kirchenklatsch ein Kern von Wahrheit stecken sollte. Lawson war ihr zwar nicht sonderlich sympathisch, aber sie hatte auch nichts gegen ihn. Wahrscheinlich ahnte er, daß sich zwischen ihr und Paul etwas abspielte. Aber er hatte nichts gesagt. Noch nicht...
Harry hatte einen Spaziergang über die Strandpromenade gemacht, und sie war froh, daß sie allein war. Sie versuchte Zeitung zu lesen, aber die Seiten flatterten und blähten sich im Wind, bis sie es aufgab und das Blatt wieder in die Tasche steckte, zu der Thermosflasche mit Kaffee, den Lachsbroten und ihrem weißen Bikini. Schade, daß es nichts geworden war mit dem Bikini. In den letzten Monaten war sie zunehmend körperbewußt geworden, und es hätte ihr Spaß gemacht zu sehen, wie die jungen Burschen ihre vollen Brüste anglotzten. Was ist nur los mit mir, dachte sie.
Als Harry nach einer Stunde zurückkam, merkte man, daß er getrunken hatte, aber Brenda sagte nichts. Als Zugeständnis an den englischen Sommer hatte er alte Shorts angezogen, lange schlottrige Army-Shorts, in denen er und seine Leute, wie er sagte, den malaysischen Dschungel terroristenfrei gemacht hatten. Seine Beine waren dünner geworden, besonders an den Schenkeln, aber sie waren noch immer muskulös und kräftig, kräftiger als die von Paul. Aber... Sie stemmte sich gegen die Flut der Gedanken und wickelte die Brote aus der Alufolie.
Sie wandte den Blick von ihrem Mann ab, der langsam Dosenlachs kaute. Was ist nur los mit mir, dachte sie wieder. Der arme Kerl konnte jetzt nicht einmal essen, ohne daß sich leichter Ekel in ihr regte. Etwas mußte geschehen, und zwar bald. Aber was?
Nicht an diesem freudlosen Tag in Bournemouth, aber wenig später akzeptierte Brenda Josephs die böse Wahrheit, die sich schon seit einiger Zeit mühte, in ihr Bewußtsein vorzudringen: Sie haßte den Mann, den sie geheiratet hatte.
«Haben Sie schon gehört? Bei uns soll sich ja jemand aus der Kollekte bedienen... Es ist nur ein Gerücht, aber...» Morris kam das Gemunkel am nächsten Morgen zum erstenmal zu Ohren, aber ihm — wie vielen anderen — schien es, als stünden die vorgeblichen allwöchentlichen Diebstähle für die himmlischen Instanzen bereits fest und als sei die Bestätigung von irdischer Seite nur mehr eine Formsache. Es lag auf der Hand, daß es nur zwei Möglichkeiten gab und daß nur zwei Verdächtige in Frage kamen: Lawson am Altar, Josephs in der Sakristei. Während er den vorletzten Vers des Chorals spielte, unter dessen Klängen das Opfergeld eingesammelt wurde, rückte Morris den Orgelspiegel leicht nach rechts und änderte die Höheneinstellung, so daß er das große vergoldete Kruzifix, das auf der Altardecke aus schwerem Brokat lag, gut im Blick hatte. Und auch Lawson, der den Kollekteteller segnend hob und wieder senkte, ehe er ihn dem Kirchenältesten zurückgab. Lawsons Hände hatte er nicht deutlich sehen können, aber Morris hätte schwören mögen, daß nichts von dem Teller verschwunden war. Also mußte es dieser widerliche Wurm Josephs sein, der Zugriff, wenn er das viele Geld in der Sakristei zählte, was ja auch viel naheliegender war. Andererseits... Gab es nicht einen noch viel wahrscheinlicheren Übeltäter? Den abgerissenen Typ aus dem Obdachlosenasyl, der heute früh wieder dagewesen war und neben Josephs gesessen hatte, um den sich Lawson manchmal kümmerte — und dem er selber gestern vormittag im Pfarrhaus begegnet war?
Wenige Minuten später schloß er die Orgeltür leise hinter sich und grüßte munter, als sich Mrs. Walsh-Atkins endlich von den Knien erhob. Aber diese Munterkeit war nur Fassade. Während er langsam durch den Mittelgang schritt, dachte er ausnahmsweise nicht nur an Brenda Josephs, die am Taufstein auf ihn wartete. Er hatte Sorgen, große Sorgen. Wie Lawson um diese Zeit vor einer Woche.