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Medien und Hellseher behaupten, größere Fähigkeiten zu haben, wenn ihnen der Zutritt zu Räumlichkeiten ermöglicht wird, in denen die Abwesenden — Vermißte oder schlichtweg Tote — ein paar verstreute Emanationen hinterlassen haben. Auch Mördern sagt man nach, es zöge sie unwiderstehlich zum Tatort zurück. Am Sonntag morgen ertappte sich Morse bei der Überlegung, ob wohl Josephs’ Mörder je wieder St. Frideswide’s betreten hatte. Sehr wahrscheinlich, dachte er. Es war eine der wenigen positiven Gedanken, die er seit Freitag abend zustande gebracht hatte. Sein Gehirn streikte, und am Samstag hatte er unwiderruflich beschlossen, die Finger von weiteren Untersuchungen dieses rätselhaften Falles zu lassen, der ihn im übrigen ja auch gar nichts anging. Vormittags hatte er noch einmal den Hotelführer als Orakel benützt, aber nach Inverness mochte er sich denn doch nicht schicken lassen. Nachmittags hatte er zwei Stunden vor dem Fernseher vertrödelt und sich die Rennen in Doncaster angesehen. Er war zappelig und langweilte sich. Es gab so viele Bücher, die er lesen, so viele Platten, die er abspielen konnte, aber er brachte für nichts Begeisterung auf. Diese Lustlosigkeit hielt bis zum Sonntag morgen an, und nicht einmal die erotischen Delikatessen aus der News of the World vermochten ihn aufzuheitern. Mißmutig räkelte er sich in seinem Sessel und ließ den Blick ziellos über die bunten Buchrücken gehen. Ob Baudelaire zu seiner Stimmung paßte? Wie hieß es da von dem Prinzen in «Les Fleurs du mal»? «Riche, mais impuissant, jeune et pourtant très vieux...»

Plötzlich fühlte Morse sich besser. So ein Quatsch. Er war weder impotent noch senil. Auf, laßt uns Taten sehen.

Er wählte die Nummer. «Miss Rawlinson?»

«Am Apparat.»

«Sie können mich vielleicht nicht mehr unterbringen. Wir haben uns in St. Frideswide’s kennengelernt. Am Montag.»

«Doch, ich erinnere mich.»

«Ich — äh — ich wollte heute vormittag in die Kirche gehen.»

«In unsere Kirche?»

«Ja.»

«Dann müssen Sie sich beeilen, sie fängt um halb elf an.»

«Ach so. Ja dann... vielen Dank auch.»

«Sie scheinen sich ja plötzlich sehr für uns zu interessieren, Inspector», sagte sie mit einer Spur freundlicher Belustigung in der Stimme. Morse versuchte sie zum Weitersprechen zu bewegen.

«Wußten Sie, daß ich am Freitagabend in dem Konzert war?»

«Natürlich.»

Morse freute sich geradezu kindlich über dieses «Natürlich». Nur weiter so, meinjunge.

«Ich — äh — habe Sie hinterher nicht gesehen. Und in dem Stück habe ich Sie auch nicht erkannt.»

«Ja, was eine blonde Perücke so ausmacht...»

«Wer ist denn das?» rief jemand aus dem Hintergrund.

«Wie meinten Sie?» fragte Morse.

«Das war nur meine Mutter. Sie wollte wissen, wer Sie sind.»

«Ah so.»

«Ja, wie gesagt, Sie müssen sich beeilen, wenn Sie...»

«Gehen Sie hin? Ich könnte Sie —»

«Nein, heute nicht. Mutter hatte einen ihrer Asthmaanfälle, ich kann sie nicht allein lassen.»

«Verstehe.» Morse bemäntelte seine Enttäuschung mit einem munteren Wort des Abschieds und legte auf. «Verdammter Mist», sagte er. Aber er würde zur Kirche gehen. Nicht wegen Ruth Rawlinson. Nur weil er ein bißchen Atmosphäre schnuppern, die eine oder andere dieser vertrauten Emanationen auffangen wollte. Ob diese Rawlinson da ist oder nicht, sagte er sich, ist mir piepegal.

Dieser erste Kirchgang nach einem Jahrzehnt war ein bemerkenswertes Erlebnis, fand Morse, wenn er später daran zurückdachte. St. Frideswide’s hatte das Hochkirchliche offenbar so weit getrieben, wie es nur eben ging. Gewiß, es gab keine Sammelbüchse für den Peterspfennig und keine Schriften, in denen die Unfehlbarkeit des Papstes verkündet wurde, aber sonst schien diese Kirche kaum etwas von Rom zu trennen. Es wurde zwar eine Predigt gehalten, die sich mit der humorlosen Verdammung der Fleischeslust durch den Heiligen Paulus befaßte, aber der Mittelpunkt des Gottesdienstes war eindeutig die Messe. Für Morse war der Anfang nicht allzu vielversprechend gewesen, er hatte sich nämlich um zwei Minuten verspätet und aus Versehen auf den Platz des Kirchenältesten gesetzt, was ein peinliches Gewisper nötig gemacht hatte, während die Gemeinde schon niederkniete, um ihre Missetaten zu beichten. Zum Glück hatte Morse dort hinten gute Sicht, so daß er den anderen das Aufstehen, Hinsetzen und Niederknien nachmachen konnte, obschon die Bekreuzigungen und Kniefälle ihm zuweilen nicht nur gegen den Strich gingen, sondern auch seine Reflexe überforderten. Besonders beeindruckend fand er die große Besetzung um den Altar herum — Priester, Diakon, Subdiakon, Weihrauchschwinger, zwei Meßgehilfen und vier Fackelträger und — gleichsam als Dirigent des Ganzen — ein jüngerer, melancholisch dreinblickender Zeremonienmeister, der die Hände in einer Pose ständigen Gebets vorgestreckt hatte. Es war fast wie eine gut choreographierte Revue, an der sich, fand Morse, die Stepptanzgruppe ein Beispiel hätte nehmen können. Die Gemeinde reagierte mit der gleichen Disziplin auf diese Exerzitien, setzte sich, erhob sich, respondierte feierlich. Die Frau neben Morse hatte ihn sehr bald als Greenhorn durchschaut und schob ihm ständig die entsprechende Seite des Gebetbuches unter die Nase. Sie selbst sang in schrillem, langgezogenen Sopran. Als Meiklejohn zu Beginn des Gottesdienstes durch den Mittelgang schritt und Weihwasser versprengte, flehte sie den Allmächtigen an, sie von ihren Sünden reinzuwaschen und weiß er, aha, weißer als Schneehee werden zu lassen. Aber Morse hatte zumindest ein Plus — er kannte fast alle Choräle. Und einmal gelang es ihm fast, ihr «Hailich, hailich, hailich» zu übertönen. Meiklejohns Abkündigungen von der Kanzel entnahm er, daß die Sache mit der Messe komplizierter war, als er gedacht hatte. Es gab sie offenbar in drei Ausführungen — Stille Messe, Hochamt und Feierliches Hochamt. Wenn die Stille Messe schlichter und ohne Chor, vielleicht gar ohne Organist ablief, fragte es sich, was wohl Morris in der Kirche zu suchen hatte, als der unglückliche Lawson vom Turm gefallen war. Es mochte Leute geben, die in die Kirche gingen, weil ihnen gerade danach war, aber... Es konnte sich jedenfalls lohnen, die Sache zu überprüfen. Noch etwas Aufschlußreiches kam zutage. Mit Ausnahme von Morse nahmen alle Besucher das Abendmahl. Der Kirchenälteste, dessen Platz er beinahe okkupiert hatte, trieb sie unauffällig, aber energisch in Richtung Chor und empfing dann — offenbar war das eine geheiligte Tradition — als letzter selbst das Sakrament. Josephs war Kirchenältester gewesen, Josephs mußte am Abend seines Todes als letzter am Gitter zum Chor gekniet haben. Und Josephs hatte nach Aussage des Pathologen sehr merkwürdige Dinge im Magen gehabt. Konnte es sein, daß Josephs am Altar vergiftet worden war? Ein Priester mit dem Kelch in der Hand, soviel war Morse inzwischen klargeworden, konnte großes Unheil anrichten, wenn er es darauf anlegte; denn wenn er fertig war, konnte er alle Beweise vernichten, ohne daß ihn jemand daran hinderte. Es gehörte einfach zum Ritual. Kelch ausspülen, abwischen, bis zum nächsten Gebrauch in den Schrank stellen. Unter den Augen so vieler Statisten war das natürlich ein etwas heikles Unterfangen. Doch an dem Abend, an dem Josephs ermordet worden war, hatten sie das Stück bestimmt in kleinerer Besetzung gespielt. Aber halt, auch diese Sache hatte einen Haken. Es schien, daß der Priester selbst den Kelch bis zur Neige leeren mußte, und zwar vor der ganzen Gemeinde. Konnte er nicht einfach so tun, als tränke er, nur um das Zeug später wegzukippen? Vielleicht war ja auch der Kelch leer gewesen.

Der Möglichkeiten gab es viele, und Morses Phantasie schwang sich in Kirchturmhöhen auf, als er aus der kühlen Kirche auf den sonnigen Cornmarket trat.