Kapitel 45

Vor Alices Fenster schien es zu schneien. Dicke Flocken rieselten herab und wurden gegen die Scheibe geschleudert. Sie sammelten sich auf dem Sims und schmolzen nicht. Alice durchquerte das Zimmer, um sie zu betrachten.

Der Apfelbaum verlor seine Blüten. Weiß sprenkelten sie das Gras am Fuß des Stamms, und der Tau benetzte sie. Die Äste des Baums zeichneten sich dunkel gegen das ferne Waldland ab, wo ein früher Nebel in der Luft hing und es seiner Farben beraubte. Alice konnte bereits die Wärme der lauernden Sonne spüren. Schon bald würde sie den Nebelvorhang wegbrennen, der jetzt noch über dem Wald schwebte, und der Sommer würde beginnen.

In ihrem Garten verdrängten violette Schwertlilien und bunter Rittersporn die Grün- und Gelbtöne des Frühlings. Demnächst würde der Wald wieder vor Menschen strotzen. Sie würden spazieren gehen und lachen, die Luft mit ihren Rufen erfüllen; dann würde er kein Ort der Toten mehr sein, sondern den Lebenden gehören. Nur die Geschichten würden bleiben – die Geschichten von Chrissie Farrell, Teresa King, Ellen Robertson und die eines lange vergessenen Kindes.

Alice nahm sich einen Augenblick Zeit, um über sie nachzudenken. Bernard Levitt hatte sie alle einer Geschichte geopfert, die er in sich getragen hatte, einer Geschichte aus seiner Vergangenheit, die nie erzählt worden war und stattdessen in ihm gegärt hatte. Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen das Glas. Als sie die Lider wieder aufschlug, sah sie, dass etwas auf dem Sims lag.

Langsam öffnete sie das Fenster.

Auf dem Sims lag eine Feder, halb verborgen von herabgerieselten Apfelblüten. Alice streckte die Hand aus, dann zog sie die Finger zurück, ohne die Feder zu berühren, denn sie wirkte schier unmöglich: Sie wies zwei Farben auf, die sie noch nie zuvor zusammen bei einem Vogel gesehen hatte: ein helles, klares Blau und ein intensives Blutrot.

Alice holte tief Luft, streckte die Hand erneut aus und hob die Feder auf. Sie war für sie zurückgelassen worden, ein Geschenk. Auf ihrer Handfläche erkannte sie, worum es sich in Wirklichkeit handelte – nicht um eine Feder, sondern um zwei.

Abermals schaute sie zum Waldland hinaus. Halb erwartete sie, zwei bunte Schemen darüber hinwegfliegen zu sehen, die in der Luft neue Formen bildeten und neue Lieder zwischen sich hin- und herschmetterten, doch da war nichts.

Eine Feder fehlt noch, hatte er gesagt. Eine Transformation ist noch offen. Und am Ende hatte er sie ergriffen, die Feder des blauen Vogels; er hatte sie in der Hand gehalten. Alice schloss die Augen und dachte daran zurück, wie sie aus der Hütte gewankt war, wie sich der Mantel um ihre Füße gewickelt hatte. War auch er zuletzt bei ihm gewesen? Hatte sie ihn in seine Reichweite geworfen? Sie versuchte, sich daran zu erinnern, und stellte fest, dass es ihr nicht gelang. Wenn sie jedoch die Lider schloss, konnte sie den Verschlag wieder vor sich sehen. Er brannte; grelle Flammen, weißer Rauch, und mitten darin hatte eine bunte Gestalt geschwebt. Ein Vogel, das Gefieder rot und grün und golden, die Augen wie Sterne.

Sie schüttelte den Kopf. Es war ein Bild aus einem Märchen gewesen, mehr nicht. Alice wusste, dass ihr Verstand ihr für einen Lidschlag etwas vorgegaukelt hatte. Levitt hatte gesagt, dass er ihre Macht brauchte; er hatte gesagt, dass sie für ihn glauben müsse. Was sie nun mit Traurigkeit erfüllte, war: Sie hatte nicht geglaubt, jedenfalls nicht wirklich. All die Jahre hatte sie die alten Geschichten geliebt, und in jenem Moment, als sie aus der Hütte gestolpert war, da hatten sie Alice im Stich gelassen, und sie hatte ihrerseits die Geschichten im Stich gelassen. Levitt hatte die Opfer für sie getötet. Als sie zurück ins Feuer geblickt hatte, war es ihr klar geworden: Sie hatte dort nur Rauch und Blut und Gewalt gesehen. Levitt war verblendet gewesen, und er war gestorben. Was sie gesehen zu haben glaubte, war lediglich ein Trugbild gewesen.

Und dann hatte Cate etwas zu ihr gesagt, als sie ihr half, vom Feuer wegzukommen. Alice hatte die Polizistin zu dem Zeitpunkt nicht richtig verstehen können, aber sie hatte es ihr von den Lippen abgelesen: Haben Sie das gesehen?, lauteten die Worte, die der Mund der Frau geformt hatte. Und hatte nicht auch etwas in ihrem Tonfall mitgeschwungen? Verblüffung vielleicht? War es am Ende doch Alices Glauben gewesen, den Levitt gebraucht hatte?

Sie schloss die Hand um die Federn. Alice brauchte sie nicht noch einmal zu betrachten. Sie konnte sich den Vogel ausmalen, den sie in ihrer Halluzination gesehen hatte, sein buntes Gefieder, den Goldsaum um den Hals. Es war der Vogel aus Der Machandelbaum gewesen, eine zum Leben erwachte Geschichte. Vielleicht war Levitt doch auf die eine oder andere Weise seiner Schwester gefolgt. Alice bezweifelte, dass er dadurch glücklich werden würde. Was immer geschehen sein mochte, er würde seine eigene Dunkelheit mitgenommen haben. Ihr konnte er nie entfliehen.

Ich muss wissen, ob sie mir die Schuld gibt.

Vielleicht wusste er es inzwischen.

Alice ergriff ihre über dem Stuhl hängende Jacke und steckte die Federn in ihre Tasche. Levitt war in dem Glauben gestorben, der blaue Vogel hätte Alice für den Tod auserkoren, aber vielleicht hatte er sich geirrt; am Ende hatte der Vogel ihr geholfen. Wenn sie es versuchte, konnte sie unter Umständen eine Möglichkeit finden, daran zu glauben, dass er das mit Absicht getan hatte.

Sie schlüpfte in die Jacke, und ihr fiel wieder ein, was für einen Trost die blaue Feder ihr die ganze Zeit über geboten hatte, jedes Mal, wenn sie ihre Hand in die Tasche gesteckt hatte, um ihre glatte Oberfläche zu betasten. Jetzt allerdings brauchte sie die Feder nicht mehr. Sie verkörperte nicht mehr Alice, die Verirrte, die durch eine von jemand anderem geschaffene Geschichte wanderte. Von nun an würde sie ihre eigene Geschichte erschaffen.

Nein, sie brauchte diese neuen Federn nicht, aber sie würde sie für Cate mitnehmen. Als sie die Polizistin zuletzt gesehen hatte, war sie ihr zufällig begegnet, denn sie hatte ein Haus in der Nähe besichtigt, und sie hatte sich glücklich angehört.

»Ich habe beschlossen zu bleiben«, hatte sie verkündet, als sollte es eine Überraschung für Alice sein, die nie gewusst hatte, dass Cate sich mit dem Gedanken trug, wegzuziehen. »Ich habe nicht weit von hier ein Haus gefunden. Ich will es herrichten – das wird eine Ewigkeit dauern.« Letzteres hatte sie voll inniger Freude ausgesprochen, als wäre es etwas, das es zu schätzen galt. Und dann: »Mir ist wohl eben erst klar geworden, dass überall etwas passieren kann. Manchmal muss man die Entscheidung fällen, dass man das Leben damit beginnen lassen will.«

Alice hatte keine Ahnung gehabt, was Cate damit gemeint hatte, aber sie hatte sich vom Enthusiasmus der jungen Polizistin anstecken lassen und ihr Lächeln unwillkürlich erwidert; und dann hatten sie miteinander gelacht.

Ja, sie würde Cate die Federn schenken. Vielleicht würde die Polizistin ein wenig Magie für den Weg brauchen, der vor ihr lag. Irgendwie fühlte es sich richtig an. Etwas, das eine Verbindung zu den toten Frauen – Chrissie, Teresa, Ellen – aufwies, etwas, das mit Cate weiter durchs Leben ziehen würde. Es schien zu passen. Und alles würde weiter durchs Leben ziehen, eins mit dem Ausklang des Frühlings und der Ankunft des Sommers: kein seliges Ende, sondern ein Neubeginn. Das Jahr erneuerte sich und ließ Ereignisse hinter sich zurück, als wären sie nie geschehen.