Kapitel 40

Alice lief in ihrem Schlafzimmer auf und ab. Dabei warf sie immer wieder kurze Blicke in Richtung Fenster. Sie fand nirgendwo Ruhe. Mit der Entdeckung des Wacholderbaums hatte sie den Schlüssel für die Polizei gefunden, davon war sie überzeugt; aber an der Stelle schien die Geschichte geendet zu haben, zumindest für sie. Alice war so lange eingebunden gewesen, wie es gedauert hatte, die Behörden hinzuführen und eine Hand an den Stamm des Baums zu legen wie ein Judas, der ihn zum Tode verurteilte. Nun hatte man ihr nicht einmal mitgeteilt, was man dort gefunden hatte. Dabei verkörperte sie unabhängig davon, worum es sich handelte, zweifellos die Einzige, die es zu deuten vermochte, jedenfalls so zu deuten, wie es gemeint war.

Alice schauderte. Vielleicht hatte man gar nichts gefunden, und sie verlor wirklich allmählich den Verstand. Oder vielleicht gab man ihr aus einem anderen Grund nicht Bescheid. Wie Cate sie angesehen hatte, als sie ihr schilderte, wie sie auf den Baum gestoßen war, hatte Bände gesprochen.

Wieder drehte sie sich dem Fenster zu. Es war der Vogel. Der Vogel hatte am Anfang von allem gestanden. Er hatte sie mit seinem beharrlichen Gesang gerufen, sie an Orte geführt, an die sie nicht gehen wollte. Warum hatte er Alice ausgewählt – weil er irgendwie wusste, dass sie die Einzige war, die es verstehen könnte? Ihre Miene verfinsterte sich. Ihre Studenten würden wahrscheinlich etwas anderes sagen. Sie war in letzter Zeit zerstreut gewesen, hatte nicht ihr Bestes und stattdessen nur vage Antworten auf ihre Fragen gegeben. Es war wohl besser, wenn sie all das vergaß und sich auf jene Dinge besann, die ihr gehört hatten: ein geliebter Job und Seelenfrieden.

Ein scharfes, lautes Geräusch durchbrach ihre Gedankengänge – etwas, das gegen Glas klopfte. Sie stand still und lauschte: Es kam nicht vom hinteren Teil des Hauses, wo der Apfelbaum wuchs. Vielmehr stammte es von der anderen Seite und wurde von einem anderen Geräusch begleitet, von einem Auto, das sich den Weg herauf näherte, sich ächzend über die unebene Fahrbahn mit ihren zahlreichen Schlaglöchern quälte.

Ihr Blick wanderte zu der Feder, die ihr der Vogel geschenkt hatte. Alice hatte sie auf die Frisierkommode gelegt. Mittlerweile war die Feder dermaßen zerrupft, dass Alice sie nie aufgehoben hätte, wenn sie ursprünglich in diesem Zustand gewesen wäre. Die einst wunderschön ausgerichteten Strahlen waren verklebt und verbogen und würden sich nie wieder glätten lassen. Die Farbe hingegen war nicht verblasst und erinnerte immer noch an ein Stück des Himmels, das in ihr Zimmer gebracht worden war. Alice ergriff die Feder, rieb sich damit über die Wange und steckte sie anschließend in die Tasche.

Ein dumpfes Pochen ertönte, gefolgt von weiterem eindringlichem Klopfen.

Alice folgte dem Geräusch und ging zu dem Fenster, das den Bereich vor dem Haus überblickte. Kaum war sie hingetreten, schrak sie wieder zurück: Etwas war vor der Scheibe vorbeigehuscht, ein Gewirr von Federn und Luft, das so schnell wieder verschwunden war, dass sie nicht sicher sein konnte, ob sie es wirklich gesehen hatte. Als sie jedoch erneut zum Glas eilte, sah sie es sehr wohl; und sie hörte den dumpfen Knall des gegen das Fenster prallenden Körpers, das wilde Flattern der Flügel. Der blaue Vogel landete auf dem Fenstersims und drehte sich ihr zu. Der scharf wirkende Schnabel schnellte vor: klopf-klopf-klopf-klopf – ein eindringliches Geräusch. Alice fasste sich an die Brust und spürte, dass ihr Herz einen schnellen Takt schlug, der dem wilden Hämmern des Vogels entsprach. Dann verlagerte sich ihr Augenmerk, und sie blickte an dem Geschöpf vorbei zur Zufahrt.

Ein Auto hielt auf ihr Haus zu. Nichts daran wirkte eigenartig, jedenfalls nicht oberflächlich, trotzdem wusste Alice, dass irgendetwas nicht stimmte. Hinter dem ersten Fahrzeug folgte mit knappem Abstand ein weiteres. Beide waren unscheinbar, silbern: anonym. Alice schaute genauer hin, spähte zwischen Reflexionen von Hecken und Himmel durch die Windschutzscheibe, und ihr stockte der Atem – denn sie erkannte den Mann, der das Auto lenkte. Er hatte sie genauso angestarrt, wie er nun konzentriert auf die schmale Fahrbahn starrte. Allerdings hatte er damals keine gewöhnliche Aufmachung getragen, sondern war ganz in Weiß gekleidet gewesen – mit der Montur, die Polizisten anlegten, wenn sie einen Tatort betraten. Dieselbe Montur hatte sie selbst tragen müssen. Der Mann gehörte zur Kriminalpolizei.

Alice wich zurück und duckte sich außer Sicht.

Während sie sich an die Wand presste, konnte sie sich nicht zusammenreimen, weshalb sie das getan hatte. Sie half der Polizei doch, oder nicht? Aber warum kam man dann auf diese Weise zu ihr? Diesmal handelte es sich nicht um eine lächelnde Cate, um kein dezentes Klopfen an der Tür, sondern um eine Wagenkolonne, die jeder sehen konnten. Ihre Wangen fühlten sich an, als stünden sie in Flammen.

Sie verrenkte sich, um erneut aus dem Fenster zu spähen. Dabei geriet explosionsartig der Vogel in Sicht, versperrte die Sicht auf die Autos und die Polizei und spreizte sein Gefieder.

Alice musste weg. Sie konnte sich nicht erklären, woher sie es wusste oder weshalb die Polizei anrollte oder weshalb der Vogel hier war – doch irgendwie wollte er sie warnen. Sie warf einen weiteren Blick aus dem Fenster. Ihr eigenes Auto hatte sie weiter vorne entlang der Zufahrtsstraße geparkt, wodurch sie noch schmaler wurde. Die Polizei hatte die Fahrt verlangsamen müssen, um vorsichtig daran vorbeizurollen. Viel Zeit blieb ihr nicht.

Sie rannte aus dem Zimmer, schwenkte um den Türrahmen und polterte die Treppe hinunter, wobei sie in ihrer Hast um ein Haar gestürzt wäre. Dann eilte sie auf die Hintertür zu. Sie dachte nicht nach, wusste nicht, wohin sie eigentlich wollte oder was sie tun würde, wenn sie dort ankäme. Ihr Verstand leerte sich, und Panik füllte ihn aus, verdrängte jeden vernünftigen Gedanken.

Sie stürmte durch die Tür hinaus und zog sie heftig hinter sich zu, hielt jedoch nicht inne, um zu überprüfen, ob sie sich ordentlich geschlossen hatte. Stattdessen lief sie tief geduckt durch ihren Garten. Sie wusste, das Tor würde klappern, deshalb hechtete sie lieber der Mauer entgegen und rollte sich auf dem Bauch darüber. Ihr Oberteil rutschte dabei hoch, und der raue Stein schürfte ihre Haut auf. Trotzdem hielt sie nicht inne, sondern rannte weiter, nach wie vor tief gebückt, in den Wald hinein.

Als sie ein Stück zurückgelegt hatte, begann die sanfte Dunkelheit der Bäume, sie zu beruhigen. Sie wurde erst langsamer, dann blieb sie stehen. Sie lehnte sich gegen einen Stamm, legte das Gesicht an die Rinde und wartete, bis sich ihre Atmung normalisiert hatte. Die Rinde fühlte sich rau an ihrer Haut an.

Was um alles in der Welt tat sie da eigentlich? Was, wenn man sie gesehen hatte? Wahrscheinlich kam die Polizei nur, um ihr Bescheid zu geben, was vor sich ging, oder vielleicht auch, um ihr weitere Fragen zu stellen. Sie aber hatte die Flucht ergriffen wie eine Verbrecherin. Sie sollte zurückgehen. Aber was, wenn man sie tatsächlich gesehen hatte? Sie konnte sich gut vorstellen, welche Blicke sie ernten würde. Wenn man sich nicht bereits davor gegen sie gewandt hatte, dann spätestens jetzt. Nein. Wenn sie nicht zurückging, konnte sie immer noch behaupten, sie sei lediglich gerade zu einem Spaziergang aufgebrochen, mehr nicht. Sie hatte eben nicht gesehen, dass jemand kam. Sie atmete tief und schaute nach oben zu den Ästen des Baums. Dort über ihr blickte der Vogel auf sie herab.

Jäh wich sie von dem Stamm zurück und musterte das Geschöpf. Eine Zeit lang rührte es sich nicht, ließ sich in keiner Weise anmerken, dass es sie überhaupt bemerkt hatte. Dann raffte es sich auf und flatterte weiter zu einem anderen Ast eines anderen, ein Stück entfernt stehenden Baums.

Ringsum herrschte Stille; Alice atmete nicht einmal. Der Vogel legte den Kopf schief, richtete den Blick der schwarzen Äuglein auf sie und öffnete den Schnabel. Eine Sekunde lang bildete sie sich ein, er würde gleich sprechen, und sie ertappte sich dabei, tatsächlich darauf zu warten. Sie hatte sogar das Gefühl, zu wissen, wie sich seine Stimme anhören würde: hoch und silbrig und voll spöttischer Heiterkeit.

Alice schaute in die Richtung ihres Hauses. Sie musste entweder umkehren oder weitergehen. Der Vogel verließ seinen Ast erneut und flog tiefer in den Wald. Nach kurzem Zögern folgte sie ihm.

Als sie sich von ihrem Haus entfernte, versuchte sie, sich einzureden, dass sie wirklich bloß einen Spaziergang unternahm, mehr nicht. Sie hatte schließlich jedes Recht dazu. Dies war ihre Heimat, und sie hatte nichts Falsches getan. Sie konnte jederzeit hier spazieren gehen. Falls sie zufällig just zu dem Zeitpunkt aufbrach, als die Polizei eintraf, konnte man ihr daraus keinen Vorwurf machen. Und der Vogel tauchte auch gerade wie zufällig erneut auf, sank tief auf den Pfad herab, bevor er wieder steil aufstieg. Das schillernde Gefieder des Tieres diente als unleugbare Erinnerung daran, was sie gerade tat. Als wolle der Vogel seine Gegenwart unterstreichen, begann er, im Flug zu singen – hohe, flötende Töne. Für ihre Ohren hörte er sich anders als früher an. Es klang wie der Gesang des Vogels aus der Geschichte vom Wacholderbaum:

Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!

Und er war wirklich schön. Alice behielt ihn im Auge, während sie weiterging und über knorrige Baumwurzeln stieg.

Sie gelangte zu dem Schluss, dass es inmitten dieser Bäume gewisse Dinge gab. Der Wald verbarg seine Geheimnisse vor ihr, obwohl sie sich in ihm befand. Er erschien ihr als ein Ort, an dem alles geschehen konnte, an dem Wahnsinn und Tod lauerten; ein Ort, an dem junge Frauen – junge Frauen wie sie – auf dem Weg bleiben sollten.

Alice hielt inne und blickte zu Boden. Die Wurzeln der Bäume wanden sich dick und wellenförmig über die Erde. Sie befand sich nicht auf dem Weg, und ihr wurde klar, dass sie den Pfad schon vor geraumer Zeit verlassen hatte. Und der Vogel führte sie immer tiefer zwischen die Bäume. Dennoch vermeinte sie zu wissen, wohin sie sich bewegten.

Nach einer Weile stellte sie fest, dass sie recht hatte. Der fahle Schimmer von Windröschen zeichnete sich gegen das Gras ab, und ein offener Bereich tauchte auf. Alice betrat ihn – eine Lichtung, die sie wiedererkannte. Sie brauchte sich nicht umzusehen, wusste genau, wohin sie gehen sollte. Der Vogel wartete dort, obwohl das Gebilde nicht wie das aus ihrem Traum aussah; statt seiner handelte es sich um eine eigenwillige Ansammlung von Zelttuch und Ästen an einem Baum.

Sie wartete. Nichts geschah, nichts rührte sich. Das Einzige, was sie tun konnte, war, darauf zuzugehen. Die Blumen streiften ihre Beine. Als sie sich ein kurzes Stück von dem Verschlag entfernt befand, blieb sie stehen.

Der Unterschlupf war um eine breite Eiche errichtet worden. Äste so dick wie Alices Arme waren um den Stamm festgezurrt. Sie konnte den durchdringenden Geruch von frischem Harz riechen, das dort austrat, wo man sie abgeschnitten hatte. Dazwischen waren kleinere Äste eingeflochten, um die Freiräume zu füllen. An die erste Konstruktion war eine weitere angebaut worden, eine Art grobe Veranda, die einen Eingang bot. Dieser wurde von Zelttuch verhüllt, bemalt mit grünen und braunen Tarnflecken, und über der Tür stand in zerronnenen weißen Buchstaben etwas geschrieben:

SEI KÜHN, SEI KÜHN – DOCH NICHT ZU SEHR

Leise beendete Alice den Reim: »Sonst wird dein Herzblut dir gar schwer.«