Kapitel 25
Len Stockdale schaute auf, als Cate an ihrem Schreibtisch Platz nahm. Sie versuchte, seine Miene abzuwägen, aber es flammten keine Warnleuchten auf. Er wirkte lediglich ein wenig zurückhaltend, vielleicht sogar gedämpft, wenngleich sein Tonfall durchaus freundlich klang.
»Irgendwelche neuen Entwicklungen?«, erkundigte er sich.
Sie verzog das Gesicht. »Eigentlich nicht.«
Er öffnete den Mund und sah aus, als wolle er eine sarkastische Bemerkung anbringen – vielleicht: »Darfst mir nichts darüber erzählen, was?« Aber er widerstand dem Drang und schloss den Mund wieder. Dann sagte er: »Wie ich höre, haben euch diese Zähne auch nichts Neues sagen können.«
Cate seufzte. »Die Proben waren zu weit zersetzt – zu alt.«
»Ich hab außerdem gehört, dass definitiv keine tierische DNS in der Wunde gefunden wurde. Inzwischen haben sie den Versuch sein lassen.«
»Wirklich?« Sie hatte gewusst, dass man weitere Tests durchführen wollte, aber sie hatte noch keine Ergebnisse erfahren und nicht gehört, dass man es mittlerweile aufgegeben hatte.
»Nichts, nicht einmal um die Krallenspuren herum. Obwohl ich persönlich ja glaube, dieser Gerichtsmediziner könnte nicht mal mit beiden Händen den eigenen Hintern finden. Das arme Mädchen. Sie …«
»Man hat wirklich nichts gefunden, nicht einmal Hautzellen? Wenn ein Hund …«
»Die glauben nicht, dass es ein Hund war, Cate.«
Sie holte tief Luft. Zwar hatte sie gewusst, dass sich Neuigkeiten über die Ermittlungen im Revier verbreiten würden, doch ihr war nicht ganz klar, wie es sein konnte, dass sie von Wachtmeister Stockdale auf den neuesten Stand gebracht wurde, obwohl sie an dem Fall arbeitete, er hingegen nicht.
Er lächelte, wenngleich in dem Ausdruck keinerlei Humor mitschwang. »Keine Sorge, Cate. Ich bin nur für die Drecksarbeit dabei. Ich habe ja einen Wald zu bewachen.« Er begegnete ihrem Blick, und diesmal lag etwas in seinen Zügen; Cate fiel wieder ein, wie sie ihn gebeten hatte, Alices Anwesenheit am See zu ignorieren, und sie wechselte rasch das Thema.
»Wenn die Wunde also sauber war … Wie halten die das für möglich? Wenn ein Wolf …«
»Ein Wolf?« Len stieß ein jähes Lachen aus. »Es war kein Wolf, Cate. So nennen die ihn nur.«
»Ich weiß, aber der Mörder begeht diese Verbrechen so, dass sie zu den Geschichten passen, und in der Geschichte kommt ein Wolf vor, also …«
»Also.« Er holte tief Luft und verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Lass dich nicht zu tief reinziehen, Cate. Bewahr einen klaren Kopf, sonst bist du womöglich blind, wenn etwas geschieht, das nicht in dein Denkschema passt – wenn er einen Fehler begeht.«
Sie schwieg, als sie das Gewicht der Erfahrung hinter seinen Worten spürte. Dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. »Es passt«, beharrte sie. »Alles außer den fehlenden Hautzellen oder Haaren von dem Tier.«
»Vielleicht hat er ja kein Tier benutzt. Vielleicht hat er die Male an der Wunde irgendwie anders hinbekommen. Er könnte gewollt haben, dass es so aussieht, es aber auf eine Weise getan haben, durch die alles steril blieb.«
Cate starrte ihn an, und er erwiderte ihren Blick wortlos. Erneut kam Cate flüchtig in den Sinn, dass Len bestimmt irgendwann mit dem Gedanken gespielt haben musste, zur Kriminalpolizei zu wechseln. Natürlich musste es so gemacht worden sein. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Es hätte ihr einfallen müssen. Während sich die Stille hinzog, erwog sie, dass er vielleicht auch mit anderen Vermutungen recht haben könnte. Vielleicht sah sie die Dinge tatsächlich nicht klar genug. Aber hatte sie nicht zugleich auf andere Weise recht gehabt? Der Mörder hatte sehr wohl vor, sich an das Märchen zu halten, deshalb hatte er – oder sie – auch die Male von Krallen erschaffen, ohne auf echte Krallen zurückzugreifen.
Cate versuchte, ihre Verwirrung zu überspielen. »Hat es sonst irgendwelche Spuren gegeben?«
»Nicht dass ich wüsste. Oh, aber man hat etwas im Brot gefunden. Ein Pestizid, glaube ich. So wie beim ersten Fundort.«
»Vergiftetes Brot – für die Großmutter?« Diesmal versuchte Cate nicht, ihre Ungläubigkeit zu verbergen, und sie achtete nicht auf Lens Gesichtsausdruck. Sie konnte nicht anders: Im Gegensatz zu den Krallenspuren passte das überhaupt nicht ins Bild. Rotkäppchen brachte Essen zur Großmutter, um ihr zu helfen, nicht um sie zu töten. Was also sollte das bedeuten? Oder vielleicht handelte es sich um einen Fehler. Vielleicht war das Gift lediglich dazu gedacht gewesen, das Opfer zu betäuben, und das Brot war nur versehentlich kontaminiert worden … Allerdings hätte man in dem Fall Spuren des Pestizids im Körper gefunden.
Hilflos starrte sie Len an. Was hatte er gerade gesagt? Im Wesentlichen, dass sie einen Schritt zurücktreten und das Bild im Ganzen betrachten sollte. Sonst bist du womöglich blind, wenn etwas geschieht, das nicht in dein Denkschema passt – wenn er einen Fehler begeht.
»Ich muss los«, verkündete sie mit einem Blick auf die Uhr. Ihre Schicht würde demnächst enden, und sie musste mit Alice Hyland reden. Allerdings erzählte sie Stocky nichts davon und bemühte sich, seinen Gesichtsausdruck zu übersehen, als sie davoneilte.
Cate klopfte an die Tür und wartete. Als Alice öffnete und überrascht einen Schritt zurücktrat, konnte sie nur hilflos mit den Schultern zucken. »Tut mir leid, dass ich schon wieder störe«, sagte die Polizistin, »aber es hat sich etwas ergeben. Darf ich?«
Alice winkte Cate hinein, und sie folgte ihr in die Küche. »Es liegen neue Informationen vor. Man hat Gift in dem Brot entdeckt, das im Korb an Rotkäppchens Fundort sichergestellt wurde – können Sie mir darüber etwas sagen? Wissen Sie, aus welcher Leseart des Märchens das stammt?«
»Lesart«, berichtigte Alice automatisch. Ihr Blick wirkte abwesend. Dann rührte sie sich. »Das stammt aus keiner Lesart. Das Brot ist für die Großmutter bestimmt. Das kommt in keiner mir bekannten Version der Geschichte vor.« Sie runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher? Es ergibt nämlich keinen Sinn. Rotkäppchen bringt Essen zur Großmutter, weil sie krank oder alt oder gebrechlich ist. Die Großmutter wird vom Wolf in Stücke gerissen, dann ereilt Rotkäppchen dasselbe Schicksal. Der Jäger …« Plötzlich gähnte sie ausgiebig und offenbarte dabei die rosa Innenseite ihres Rachens. »Den Rest kennen Sie ja. Wir sind das alles schon durchgegangen. Es gibt kein Gift.«
»Was ist mit der anderen Fassung, von der Sie mir erzählt haben – in der Rotkäppchen die Morgenröte ist oder so ähnlich? Wird die Erde darin nicht vergiftet? Und die Erde ist doch die Großmutter.«
»Sie wird von Dunkelheit verschlungen«, entgegnete Alice, »nicht wirklich vergiftet, nicht in dem Sinn, den Sie meinen. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was das bedeuten könnte: Das Brot sollte nicht vergiftet sein. Ich würde sagen, es handelt sich um eine Ausnahme. Vielleicht hat der Mörder ja etwas falsch verstanden.«
»Glauben Sie das wirklich?« Cate gelang es nicht, die Aufregung aus ihrem Tonfall zu verbannen.
Alice zuckte mit den Schultern. »Muss wohl so sein. Es sei denn, das Gift wurde für etwas anderes gebraucht. In der Geschichte kommt es jedenfalls nicht vor.« Ihr Körper erschlaffte, und sie lehnte sich an den Küchentisch. Erst da bemerkte Cate, wie müde die Dozentin wirklich war. Hatte sie sie mit ihren Fragen erschöpft?
»Es läuft immer alles auf die Geschichten hinaus«, beharrte sie. »Fällt Ihnen irgendetwas ein, wie das hineinpassen könnte?«
Alice schüttelte den Kopf. »Nicht bei diesem Teil.«
»Es muss aber etwas bedeuten.« Cate ballte die Hand zur Faust und musste an sich halten, um damit nicht auf Alices Tisch zu schlagen. »Warum überhaupt all die albernen Märchen? Das treibt mich noch in den Wahnsinn.«
Alice atmete hörbar ein und begann, auf und ab zu laufen. Dabei sah sie Cate nicht an. Ihr Gesichtsausdruck blieb ruhig, als wäre ihr gar nicht bewusst, dass sie beobachtet wurde. »Na schön«, sagte sie. »Diese Mädchen – diese ermordeten Mädchen – werden also wie Figuren aus Märchen dargestellt. So viel wissen wir. Aber es ist mehr als das. Es ist, als wären sie die Geschichten oder zumindest irgendjemandes eigene Lesart alter Märchen; eine neue Art, sie zu erzählen.« Kurz überlegte sie. »Wissen Sie, ich muss immerzu an dieses eine Mädchen denken – das Mädchen, das ich gesehen habe. Bei dem auf dem Foto war es nicht dasselbe. Kein Vergleich dazu, das Opfer in Fleisch und Blut zu sehen.« Ihre Stimme wurde brüchig. »Mir ist unwillkürlich durch den Kopf gegangen … All die Polizei, die Autos, die Bemühungen. Ohne die Geschichten hätte es all das nicht gegeben, oder? Ohne den roten Umhang, den Korb und das alles wäre sie nur ein totes, im Wald entsorgtes Mädchen gewesen. Nein, schlimmer noch: eine tote Hure. Auf diese Weise interessiert sich zumindest jemand für sie.« Sie richtete den Blick auf Cate. »Die Geschichten bewirken also etwas. Dadurch, dass das Mädchen Teil einer Geschichte ist, wird es erst wichtig.«
Cates Augen weiteten sich vor Überraschung. »Natürlich ist sie wichtig.«
»Ach ja? Wäre sie sonst nicht bloß ein weiterer toter Junkie? Eine Straßennutte? Junkies sterben doch ständig, oder?«
Cate wich einen halben Schritt zurück. Eine solche Vehemenz hätte sie von Alice nicht erwartet. Jedenfalls nicht, wenn es um etwas ging, das sich in der realen Welt ereignete, denn Alice schien nur halb in der realen Welt zu leben. Das hatte Cate also bewirkt, indem sie diese Frau beharrlich und unumkehrbar in diese Welt gezerrt hatte. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber natürlich ist sie mir wichtig.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, ertappte sie sich dabei, zu überlegen, wie wichtig – hätte sie genauso sehr an diesem Fall mitarbeiten wollen, wenn er so gewöhnlich, so schäbig gewesen wäre, dass es nur um einen weiteren toten Junkie ging?
Alice starrte mit offenem Mund ins Leere.
»Was ist?«
»Großer Gott«, stieß Alice hervor. Ihr Blick heftete sich auf Cate. »Glauben Sie …«
»Was?«, fragte Cate. »Alice, geht es Ihnen gut?«
»Sie sterben ständig«, betonte sie. »Was war bei diesen Fällen anders?«
»Wie sie inszeniert wurden. Das wissen Sie doch. Ich habe es gesehen, und ich musste dabei an Märchen denken …«
»Genau. Es hat Sie zum Denken gebracht.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
Alice hob eine Hand und schnippte in der Luft mit den Fingern. »Woher wissen Sie, dass es keine anderen gegeben hat?«
»Oh …«, entfuhr es Cate.
»Genau«, sagte Alice. »Ich weiß, dass es beim Farrell-Mädchen anders war, aber vielleicht hat es noch andere wie die Prostituierte gegeben. Es könnte andere gegeben haben, bei denen sich niemand die Mühe gemacht hat, darüber nachzudenken. Oder in deren Fällen es niemand so wahrgenommen hat wie Sie. Sie müssen sich alte Fälle ansehen – oder zumindest ältere. Finden Sie heraus, ob irgendwelche Leichen inszeniert ausgesehen haben, ob etwas bei ihnen gefunden wurde. Beim ersten Mädchen war es auf den Fotos nicht so offensichtlich, dass es sich um ein Märchen handeln sollte. Das könnte schon seit Jahren passieren.«
Cate erwiderte nichts. Stattdessen holte sie lang und tief Luft. Im Geiste ging sie bereits alles durch, was sie tun musste: Sie musste noch einmal mit Heath reden und sich vergewissern, dass all die alten Fallakten angesehen worden waren – ungelöste Morde mit verdächtigen Umständen, insbesondere junge Frauen betreffend. Dann die Fälle vermisster Personen. Wahrscheinlich war das bereits erledigt worden, aber vielleicht ließe sich trotzdem etwas Neues herausfinden. Es konnte ihnen genau den Durchbruch verschaffen, den sie brauchten, und dem Profiler mehr Ausgangsmaterial an die Hand geben. Vielleicht führte es auch zu DNS oder anderen Beweisen, die sie benutzen konnten, um eine richtige Verdächtigenliste zusammenzustellen.
Danach würde Stocky nicht mehr an ihr zweifeln. Und mit einem Durchbruch in dem Fall, den man Alice zu verdanken hätte, wäre auch Cates Glaube an die Frau gerechtfertigt. Und sie würde Alice mehr denn je brauchen. Beim Durchsehen der alten Fälle würde sie vermutlich Dinge übersehen, die Alice sofort auffallen mochten. So unerfreulich und unerwünscht es sein mochte, eine Zivilistin in die Sache hineinzuziehen – wenn Cate auf etwas stieße, das sich nach einem wahrscheinlichen Treffer anfühlte, würde sie Alice bitten müssen, sich die entsprechenden Fälle ebenfalls anzusehen.
Sie überlegte gerade, wie sie das Heath – und Stocky – beibringen sollte, als plötzlich ihr Mobiltelefon klingelte.
»Ich weiß, dass Sie außer Dienst sind«, meldete sich eine Stimme – die von Dan. »Aber wir haben wieder eine. Bei Sandal Castle. Ich schlage vor, Sie fahren sofort hin.«
»Wieder dasselbe? Inszeniert wie bei den anderen?«
»Nein«, entgegnete er. »Überhaupt nicht dasselbe.«
»Warum soll ich dann …«
»Sie lebt noch«, fiel er ihr ins Wort. »Deshalb ist es nicht dasselbe. Der Krankenwagen ist schon unterwegs. Genau wie ich.«
Damit legte er auf.
Cate und Alice starrten sich gegenseitig an. Dann setzte sich Cate in Bewegung und steuerte auf die Tür zu. Alice beobachtete sie nach wie vor, und aus ihren Augen sprach eine Frage. Nach einem tiefen Atemzug sagte Cate: »Kommen Sie mit.«
Das Mädchen – sofern es sich um ein Mädchen handelte –, das man bei der Burgruine gefunden hatte, würde in aller Eile ins Krankenhaus gebracht werden. Falls sich Erkenntnisse daraus gewinnen ließen, den Ort zu sehen, an dem man sie gefunden hatte, und wie man sie gefunden hatte, dann schien es am besten, wenn auch Alice ihn zu sehen bekäme.