Kapitel 42
Alice stand vor dem Verschlag. Sie wähnte sich weit von der Polizei und ihrem Zuhause entfernt, doch sie hatte das Gefühl, dass sie hier sein sollte. Die Konstruktion vor ihr glich in keiner Weise jener aus ihrem Traum, aber irgendwie fühlte sie sich trotzdem vertraut an. Alice konnte nicht hineinsehen, doch sie konnte sich das Buch so deutlich vorstellen, als hätte sie es vor sich, mit Holzseiten, die wie natürlich gewachsen wirkten. Irgendetwas sollte sie hier finden, irgendetwas sollte sie hier verstehen; dennoch wollte sie lieber nicht hineingehen.
Sie sah sich um und erblickte nur die mittlerweile verstummten Bäume. Sogar der ständige Klang des Vogelgezwitschers hatte aufgehört. Weit und breit war niemand zu sehen, und sie würde nur einige wenige Augenblicke brauchen. Trotzdem konnte sich Alice nicht dazu durchringen, sich in Bewegung zu setzen. Ihr kam der Gedanke in den Sinn, dass sie zurückgehen, die Polizei holen und hierher führen sollte. Dann schwebte eine kleine, schillernde Gestalt herab, ließ sich über dem Eingang nieder und blickte auf sie hinunter. Das gab den Ausschlag: Wenn der blaue Vogel keine Angst hatte, musste sie allein hier sein. Ansonsten wäre er bestimmt nicht hergekommen.
Sie trat vor den Eingang und spähte hinein. Die Wände bestanden aus ordentlich verwobenen Ästen. Sonnenlicht drang in Form eines sanften Schimmers ein. Das Geflecht beschrieb eine Krümmung, durch die es natürlich gewachsen wirkte, mehr eine Höhle als ein Raum, und es verzauberte sie. Es war, als befände sich ein Teil von ihr noch an jenem anderen Ort, den sie in ihrem Traum gesehen hatte, dem Ort, der allein den Märchen gehörte. Sie bewegte sich einen Schritt vorwärts, atmete den Duft von geschnittenem Holz ein, genoss den kühlen Schatten. Im Inneren befanden sich nur einige Stühle. Wie sie gedacht hatte: Der Verschlag präsentierte sich verwaist. Sie trat ein und betrachtete eingehender, wie er gebaut war. Jemand hatte dicke Stützbalken zurechtgeschnitten, die sich über ihren Kopf wölbten. An der Stelle, wo sie auf den Stamm und die niedrigsten Äste der Eiche stießen, waren sie zusammengebunden. Zwischen ihnen waren kleinere Zweige eingewoben oder eingeflochten, und unter ihnen leuchteten Farben hervor: die welkenden Köpfe von Wildblumen, die gerade erst aufgehängt worden waren. Der Boden raschelte und knisterte unter Alices Füßen. Er bestand aus Rohrkolben, die vom See stammen mussten. Es roch nach Frühling.
Aus der Nähe konnte sie die Stühle richtig erkennen. Es waren nicht zwei, wie sie ursprünglich gedacht hatte, sondern ein großer, schlichter Holzstuhl, ein Klappstuhl mit ausgebleichter Sitzfläche aus Stoff und ein weiterer, so klein, dass sie ihn anfangs übersehen hatte. Bei Letzterem handelte es sich eher um einen Schemel, so winzig, dass er für ein Kind gedacht sein mochte. Auf jedem stand eine Schüssel.
Alice konnte den Blick nicht davon abwenden. Sie vermochte nicht, sich zu rühren. Instinktiv wusste sie, was sie zu bedeuten hatten, was all das zu bedeuten hatte. Was hatte sie sich nur gedacht? Die Stühle mussten für sie hier aufgestellt worden sein. Sie sollte verschwinden und sich so weit wie möglich von diesem Ort entfernen. Jäh wirbelte sie herum und hielt auf den Eingang zu. Dabei fiel ihr ein schmaler, in die Zeltleinwand geschnittener Schlitz auf. Sie wusste, wofür er gedacht war, erinnerte sich daran, ihn schon von draußen gesehen zu haben, nur stellte er sich jetzt hell statt dunkel dar – perfekt, um jemanden zu beobachten, ohne gesehen zu werden.
Ein leises Geräusch ertönte, und das Licht vom Eingang wurde trüber. Jemand hatte sich davor aufgebaut und zeichnete sich als Silhouette ab. Die Augen waren gegen das Sonnenlicht nur als fahle Ovale erkennbar. Wer immer es war, verlagerte sein Gewicht und trat einen Schritt vor. Die fahlen Ovale kristallisierten sich als Brille in einem lächelnden Gesicht heraus.
Alice starrte ihn an. Dann schluckte sie und zwang sich, das Lächeln zu erwidern. Der Ausdruck fühlte sich seltsam in ihrem Gesicht an.
Er trat einen weiteren Schritt vor, blockierte aber unverändert den Eingang, der zu schmal war, um an dem Mann vorbeizuhuschen. Immer noch lächelte er, und mittlerweile erkannte Alice, dass es sich nicht um ein angenehmes Lächeln handelte.
Sie versuchte, ruhig zu atmen. Es musste ein Zufall sein, mehr nicht. Nur der Vogelbeobachter – er hatte ein neues Versteck gebaut, und sie war darüber gestolpert. Falls er vorhatte, ihr wehzutun, hätte er das schon bei früherer Gelegenheit tun können.
Sei kühn, dachte sie, ertappte sich jedoch dabei, einen Schritt zurückzuweichen, weg von ihm.
Bernard Levitt nickte, eine gesellige Geste, ein freundlicher Gruß, als wäre es das Natürlichste der Welt, sie hier anzutreffen. Er deutete mit den Armen nach vorne, und ihr wurde klar, dass er etwas trug, das quer darüberlag. Sie starrte darauf.
Sein Lächeln wurde breiter, und er befreite eine seiner Hände, nahm die Schüssel vom mittleren Stuhl, stellte sie auf den Boden und legte anschließend behutsam den Gegenstand auf dem Stuhl ab.
»So«, sagte er. »Alles genau richtig.«
Alice erwiderte nichts.
Levitt drehte sich ihr zu und streckte die Hand aus. Er konnte sie nicht ganz erreichen, vollführte aber eine Bewegung, als streichle er ihr Haar. Der Mann trug Lederhandschuhe. »Genau richtig«, wiederholte er. Dann ging er zum Holzstuhl, nahm jene Schüssel in die Hand und stellte sie auf den Boden darunter, bevor er den Vorgang bei dem Schemel wiederholte. In jeder Schüssel befand sich eine angetrocknete, zähflüssige Masse, die an Überreste von Haferbrei erinnerte.
Alice wich zurück und spürte die Wand im Rücken. »Das hier ist keine Geschichte«, stieß sie hervor. »Ich bin nicht Goldlöckchen; das ist kein Märchen.«
Überrascht sah er sie an. »Aber natürlich ist es das.« Er grinste und entblößte dabei vergilbte Zähne.
»Wenn dem so ist, müssen Sie mich gehen lassen. Goldlöckchen ist nichts passiert. Sie wurde nicht … Sie ist weggerannt, und die Bären haben sie laufen lassen.«
»Sie war eine garstige kleine Diebin«, entgegnete Levitt. »Bist du eine garstige kleine Diebin oder bloß eine garstige kleine Lügnerin?«
»Eine Lügnerin?«
»Ich weiß, dass du ihn gesehen hast.«
Alice wusste nicht, was er meinte; sie musterte Levitt, seinen kräftigen Körperbau, und fragte sich, ob es ihr gelingen konnte, ihn aus dem Weg zu stoßen und zurück zu ihrem Haus zu rennen. Ihr kam der Gedanke, dass die Polizei bereits hinter ihr her sein könnte – vielleicht hatten die Beamten gesehen, wie sie in den Wald aufgebrochen war.
Levitt wirkte belustigt, als wüsste er, was sie gerade dachte. Er legte den Kopf schief und sagte mit Singsangstimme: »Ich hoffe, er wird zu Ihnen kommen, Mr Levitt.«
Alice erkannte, dass er sie nachahmte, obwohl sie nicht wirklich dieselben Worte gesprochen hatte.
»Oh ja, ich hoffe es, Mr Levitt. Weil ich ihn nicht gesehen habe, ich hab ihn nie gesehen, überhaupt nicht.« Kurz verstummte er. »Und jetzt stehst du hier und behauptest, keine Lügnerin zu sein. Das ist lustig. Das ist sogar sehr lustig.« Abrupt setzte sich Levitt auf den größten Stuhl, streckte die Hand aus und ergriff den Schemel. Er stellte ihn vor seinen eigenen Sitz und schlug mit der Hand darauf. Wartend musterte er Alice.
Ihr Blick wanderte zum Eingang. Er blockierte ihn nicht mehr – sie konnte wegrennen, an ihm vorbeistürmen. Dann bewegte er sich schneller, als sie erwartet hatte, und zog seinen Stuhl so zurück, dass er ihr den Weg versperrte. »Setz dich«, befahl er barsch. »Du kannst bleiben oder später gehen, je nachdem, was ich entscheide. Vorerst habe ich dir eine Geschichte zu erzählen. Also setz dich.«
Sie tat, wie ihr geheißen. Der Schemel war für ein Kind gedacht und erwies sich als wackelig unter ihr, schaukelte auf dem unebenen Untergrund. Sie musste die Füße auseinandersetzen, um sich abzustützen; dadurch wurden schnelle Bewegungen unmöglich.
»Ich werde dich töten«, erklärte Levitt in vertraulichem Tonfall. Dabei beugte er sich Alice zu, wodurch sie fühlen konnte, wie sein Atem sie berührte, und sie konnte die langsam voranschreitende Fäulnis in seinem Mund riechen. »Aber zuerst kannst du zuhören. Du magst doch Geschichten, nicht wahr, Alice? Tja, ich werde dir die Geschichte erzählen, die mich ausmacht. Möchtest du sie hören?«
Zögerlich nickte sie.
Erfreut richtete sich Levitt auf dem Stuhl auf und klopfte sich mit beiden Handflächen auf die Knie. Einen Moment lang wirkte er wie ein enthusiastischer Großvater. »Das ist wunderbar. Also, meine Liebe, dann fange ich mal an.
Vor langer Zeit hatte ich eine Schwester. Sie starb, als ich noch jung war. Meine Schwester, Marlenchen.«
Alice öffnete den Mund, um einzuwenden, dass sie nicht so geheißen hatte, dass dies nicht ihr Name sein konnte, dass er ihn aus einer anderen Geschichte gestohlen hatte; doch sein Blick war verträumt geworden, als betrachtete er etwas weit Entferntes, und sie wusste instinktiv, dass sie ihn nicht von dort zurückholen sollte.
»Meine Mutter hat Marlenchen geliebt. Es war genau wie in den Geschichten. Die jüngere Schwester wird immer am meisten geliebt, nicht wahr? Die Jüngste und die Schönste. Alter, Heranwachsen – das alles ist in Märchen bedeutungslos. Meine Schwester wusste das, weil es ihr meine Mutter jeden Tag mit ihren Geschichten erzählte, und oh, was haben sie diese Märchen geliebt. Sie hatten etliche Reihen von Büchern mit rosa Einbänden, mit blauen Einbänden und mit grünen Einbänden, und sie haben sie wieder und wieder gelesen, immer zusammen.«
Unverhofft musste Alice an ihre eigene Mutter denken. Sie wünschte, sie könnte sie nun sehen, und sei es nur für einen Augenblick. Warum hatte Alice sie so lange nicht besucht? Auch ihre Mutter hatte ihr früher Geschichten vorgelesen, und Alice hatte ihr umgekehrt Geschichten erzählt, wenngleich keine so magischen, keine erfundenen, sondern alltägliche Begebenheiten aus ihrem gemeinsamen Leben. Nun würde sie vergessen, alles würde vollständig verblassen, wenn Alice nicht käme, um sie ihr zu erzählen.
Levitt verzog das Gesicht. »Marlenchen saß dann immer auf dem Schoß meiner Mutter, die das Buch vor sie hielt, damit sie etwas sehen konnte und ich nicht. Es war, als bildeten das Buch, ihre Arme, meine Schwester und meine Mutter einen kleinen Kreis, in den ich nicht hineinkonnte. Mehr als einmal habe ich es versucht, aber sie haben gesagt, es stünde mir nicht zu: Ich sei zu alt und außerdem ein Junge. Und weißt du, sie hatten alle Macht, denn ihnen gehörten alle Geschichten, die guten wie die schlechten, die über Prinzessinnen und Türme und Vögel und Königreiche.«
Levitt seufzte und senkte den Blick. Seine Miene vermittelte Resignation. »Es war immer die jüngere Schwester, die das Königreich bekommen hat. Wer hat das Königreich jetzt, was glaubst du? Jetzt, da sie im Grab liegt – jetzt, da außer ihren Zähnen nichts mehr von ihr übrig ist?«
Alice stockte der Atem, und Levitt lächelte, als hätte sie applaudiert. »Genau«, sagte er. »Ja, genau!« Und er beugte sich vor. »Hast du gewusst, dass Katzen die einzigen Geschöpfe sind, die ihre Beute foltern, bevor sie sie töten – abgesehen von einer Ausnahme?«
Alice brachte keine Antwort zustande, aber er fuhr ohnehin fort, als hätte er gar keine Frage gestellt. »Ach, die Jüngste. Immer die Jüngste. Vielleicht nicht überraschend, wenn der Ältere eine Verkörperung aller Fehler ist, die man begangen hat und nicht mehr ausbügeln kann, weil es zu spät ist. Weißt du, sie hätte es zumindest versuchen können. Aber sie hatte gar kein Interesse an einem Jungen, nicht wirklich. Sie wollte immer ein Mädchen, und als Marlenchen auf die Welt kam … na ja, den Rest kannst du dir vermutlich denken, oder? Es ist so erfrischend, mit jemandem zu reden, der sich auskennt. ›Der Böse gab es ihr ein, dass sie dem kleinen Jungen ganz gram wurde.‹«
Levitt schaute auf und wartete, und nach einem kurzen Moment nickte Alice.
»Gut, also stell dir die Szene vor: Die jüngere Schwester wird vergöttert. Der Vater ist schon länger verschwunden, als irgendjemand zurückdenken kann – nur Gott weiß, was ihm die Mutter angetan hat. Es hätte so anders sein können, glaubst du nicht auch? Aber ohne Verlust, ohne Tod wäre es schließlich keine gute Geschichte geworden. Ohne das Böse.« Kurz verstummte er. »Ich habe sie nicht bedrängt.«
Sein Mund bewegte sich, seine Lippen wirkten feucht. »Ich habe sie nicht bedrängt, und ich habe ihr nicht gesagt, was sie tun soll. Ich habe nur etwas vorgeschlagen, verstehst du? Jeder kann etwas vorschlagen. Und sie hat nichts gemacht, nicht wirklich – das hat sie nie. Ich war immer derjenige, der alles gemacht hat, und sie hat bloß dagesessen, ihre Lieder gesungen und so getan, als wäre sie eine Prinzessin – hat ihre imaginären Röcke über den Boden gebreitet und glatt gestrichen.«
Mittlerweile atmete er schwer. »Ich sollte auf sie aufpassen, und das habe ich getan. Wirklich. Wir sind in den Wald gegangen. Meine Mutter hatte mal wieder Kopfschmerzen, und sie meinte, mit meinen Bausteinen, meinen Autos und meinen Spielen sei ich dabei nicht hilfreich. Das waren Dinge, die sie nicht mochte, und ich glaube, zu dem Zeitpunkt hat sie mich auch nicht mehr gemocht. Aber diesmal mochte sie sogar Marlenchen nicht, und sie hat uns zum Spielen rausgeschickt. Wir sind zu diesem Ort gegangen – ich bin hingegangen. Marlenchen ist mir nur gefolgt. Denn weißt du, sie hat ja nie etwas gemacht. Die Entscheidungen musste immer ich treffen. Und mir gefiel es an dem Ort. Dort hing ein Seil von einem Baum, ein ausgebleichtes blaues Seil. Es hing über einen tiefen Abgrund, und man konnte sich hoch und weit hinausschwingen und alles unter sich sehen, alles zugleich fest und auch wieder nicht. Das hatte etwas Magisches – wie in den Geschichten, obwohl ich damals natürlich nicht so darüber gedacht habe. Nein, ich war ein Junge, und alles, was ich wollte, war zu schwingen. Aber nach einer Weile wurde sogar das langweilig, und ich beschloss, dass ich sie schwingen sehen wollte.«
Mit einem Räuspern fuhr er fort. »Also habe ich es zu ihr gesagt. Ich habe zu ihr gesagt, sie solle sich hoch hinausschwingen, weil sie dann wie ein Vöglein wäre, ein albernes Vöglein aus einer ihrer Geschichten. Einfach so. Und sie hat mir geglaubt.« Das Licht schwand aus seinen Augen, und er wandte den Blick ab. Alice dachte schon, dass er nicht weiterreden, dass er seine Erzählung nicht beenden würde.
Dann jedoch holte er tief Luft und fuhr fort. »Ich wollte nicht, dass sie fällt. Ich wollte sie nur fliegen sehen, wollte die Federn sehen.« Wieder verstummte er, schien Alices Gegenwart kaum noch wahrzunehmen. Schließlich sprach er weiter und verfiel in eine Art Sprechgesang, wodurch seine Worte wie ein Lied klangen oder wie ein Reim, den er einmal gehört hatte: »Sie ist gefallen und hat sich das hübsche Genick gebrochen. Hat dabei ihr hübsches Kleidchen zerrissen und verdreckt. Hat sich die Knochen gebrochen. Dann war sie tot, und Mama war so traurig. So sehr, sehr traurig.« Er schaute auf, aber sein Blick schien in weite Ferne gerichtet zu sein. »Ihr Schrei hat wie der Ruf eines Vogels geklungen. Ich habe sie gehört – danach. Ihre in der Nacht weinende Stimme. In der Dunkelheit.«
Alices Mund fühlte sich trocken an. »Es war nicht Ihre Schuld«, versuchte sie es.
Jäh fuhr sein Kopf herum. »Meine Mutter hat etwas anderes gesagt! Sie hat es mich deutlich wissen lassen, meine liebe Mutter. Jeden Tag hat sie mir Vorwürfe gemacht. Und sie hat es mich auch spüren lassen. Sie hat mich gezwungen, sie mit eigenen Händen zu begraben. Sie genau dort zu begraben, wo sie meinte, dass Marlenchen hätte sein wollen – unter dem Wacholderbaum im Wald. Damals war er noch ein junges Bäumchen, an dem kaum etwas dran war. Danach sind wir für lange Zeit weggezogen. Es hieß, sie sei krank, trotzdem hat es schier ewig gedauert, bis sie gestorben ist. Nach ihrem Tod konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich musste hierher zurückkommen, wo ich hingehöre, das wusste ich. Und Marlenchen – oh, sie war noch unverändert, verstehst du? Sie würde immer jung, immer wunderschön bleiben. Wie Schneewittchen in ihrem Glassarg – in der Zeit erstarrt, für immer bezaubernd und bewundert, ohne je zu altern und zur Vettel oder zur Hexe oder zur bösen Stiefmutter zu werden, ohne je zu enttäuschen … War sie wunderschön? Was meinst du? In ihrem Grab, wo sich Würmer durch ihre Haut gewühlt haben? Glaubst du, die Maden haben ihre Augen gefressen?«
Alice erwiderte nichts.
»Und meine Mutter hat mir immer erzählt, dass meine Schwester eines Tages zurückkommen würde. Sie würde zurückkommen, um sich zu rächen.« Levitt sah Alice an. »All die Geschichten, die meiner Schwester gehört hatten, wurden mein. Meine Mutter hat sie mir vorgelesen, aber ach, wie sie mir die Geschichten vorgelesen hat – es wurden schreckliche Dinge daraus, wild und grausam. Aber am häufigsten hat sie mir das Märchen vom Wacholderbaum vorgelesen. Und sie meinte dann immer, meine Schwester würde wie in der Geschichte zurückkehren, sich durch die Erde emporkämpfen, sich einen Weg nach oben bahnen, um sich an ihrem wertlosen Bruder zu rächen. Und ich habe gelernt, mich zu fürchten. Aber ich habe auch etwas anderes gelernt. Die ganze Zeit, die sie getrauert hat – die ganze Zeit, die sie geweint hat –, war sie eine falsche Mutter, ein unnatürliches Wesen. Sie war falsch, denn es hat ihr nicht wirklich leidgetan, nicht in ihrem Innersten, nicht in ihrem Herzen. Nein. Davon bin ich überzeugt. Ich glaube, es ist von Anfang an sie gewesen. Sie muss meine Schwester gehasst haben. Immerhin hat sie gesehen, wie sie immer bezaubernder wurde, wie sie sich jeden Tag weiter von ihr entfernt hat. Sie aber wollte, dass Marlenchen für immer so bleibt, wie sie war. Deshalb hat sie uns in den Wald geschickt; sie wollte, dass wir vom Weg abweichen. Sie hatte uns satt. Sie wollte, dass ich Marlenchen dazu bringe, auf das Seil zu klettern – sie wollte das alles.«
Er schaute auf, und seine Stimme nahm einen matten Tonfall an. »Es war nicht meine Schuld«, beteuerte er. »Nicht meine Schuld.«
Alices Augen weiteten sich.
»Du weißt das, Alice, du verstehst es. Du weißt, dass die Geschichten behaupten, die Stiefmütter seien die Bösen, aber das sind sie nicht, das waren sie nie. Die wahren Geschichten, die alten Geschichten – die wussten es: Es waren die echten Mütter, die böse wurden, die das Krebsgeschwür in sich hatten. Genau das haben sie immer zu verbergen versucht, nicht wahr? Das ist die eine Geschichte, die sie nicht gerne erzählen. Ich war bloß derjenige, dem sie die Schuld geben wollte, das war alles. Ich hätte all die Jahre lang nicht weinen sollen. Ich war unschuldig. Es war nicht meine Schuld, sondern ihre.« Levitt teilte die Lippen zum Abklatsch eines Lächelns.
»Unschuldig«, betonte er. »Ich habe getan, was ich tun sollte – was sie für mich geplant hatte. Und das ist alles, was ich jetzt tue. Und all die Zeit haben sich die Geschichten fortgesetzt. Oh, wie hat sie diese Märchen geliebt. Sie hat mich leiden lassen. Sie hat mir eingeredet, dass sie immer ihre Rache bekämen, dass die braven kleinen Mädchen nie wirklich verschwänden. Manchmal habe ich ins Bett gemacht, sie war so … Aber in meinem Inneren wusste ich, was ich wusste: Und es war die Geschichte vom Wacholderbaum, die es mir am eindringlichsten klargemacht hat. Zwei Kinder: Eines hasst die Mutter, das andere liebt sie. Das Kind, das sie hasst, tötet sie. Sie hackt ihm mit dem Deckel der Truhe den Kopf ab, wie du weißt, Alice. Und dann lässt sie das andere Kind glauben, es hätte den Bruder getötet. Genau das Gleiche war es beim Tod meiner Schwester. Meine Mutter war die Autorin des Stücks, ich nur der Schauspieler. Danach wurde es besser. Ich habe aus den Geschichten gelernt, habe mehr und mehr davon zu hören bekommen. Das hat ihr nicht gefallen. Sie fing an, mich deshalb zu verhöhnen, mich auszulachen, doch mir war das egal. Ich wusste, dass sie es nur tat, weil sie Angst hatte. In den Geschichten gab es Magie, das hatte ich erkannt. Ich musste nur geduldig sein und aus ihnen lernen, bis ich einen Weg fand, sie mir anzueignen – sie zu benutzen.«
Ein Leuchten blitzte in seinen Augen auf. »Und dann sah ich den Vogel und wusste, dass ich recht hatte. Ich erkannte meine Schwester auf Anhieb – ich hätte sie überall erkannt. Wie meine Mutter gesagt hatte, war sie zurückgekommen.«
»Wie meinen Sie das? Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass Ihre Schwester zu dem blauen Vogel geworden ist – und außerdem haben Sie ihn doch nie selbst gesehen.«
»Und ob ich sie gesehen habe – natürlich habe ich sie gesehen, du Dummerchen. Ich habe sie schon lange vor dir gesehen, vor allen anderen. Als ich diese Federn zu Gesicht bekam … sie war immer etwas Besonderes, meine Schwester.« Er sah sich um, als wäre der Vogel irgendwo in dem Verschlag. »Du weißt aus den Märchen, dass Vögel nie das sind, was sie zu sein scheinen. Der blaue Vogel ist ein Zauber, ein Schwindel; in den Geschichten können Vögel alles Mögliche und so gut wie jeder sein. Und ich muss es wissen.«
»Was müssen Sie wissen?«
Levitt verzog das Gesicht. »Ich muss wissen, ob sie mir die Schuld gibt.« Mittlerweile wirkte der Blick seiner wässrigen Augen zerknirscht. »Ich muss wissen, ob sie den Geschichten meiner Mutter auch gelauscht hat, ob sie von ihnen verdorben, besudelt worden ist. Manchmal glaube ich, dass sie vielleicht doch zurückgekommen ist, um sich zu rächen. Aber andererseits denke ich das auch wieder nicht.« Er schüttelte sich. »Die Jüngste«, sagte er. »Die Schönste. Es geht immer um sie, nicht wahr? Weißt du, ich höre ihr Lied wieder und wieder in meinem Kopf, tagein, tagaus.« Er schlug sich mit den Händen auf die Ohren.
»Aber es ist gar nicht Ihre Schwester«, ergriff Alice das Wort. »Es ist doch nur ein Vogel, verstehen Sie das denn nicht?« Noch während sie die Worte aussprach, dachte sie daran zurück, wie sie selbst dem Tier gefolgt war. Warum hatte sie das getan? Ihre Hand wanderte hinab zu ihrer Tasche – und dort zu der Feder, die sie darin verwahrte.
Levitt beobachtete ihre Bewegung. Er lächelte. »Ich weiß, dass du sie bei dir hast«, sagte er. »Ich habe dich gesehen, wie du durch den Wald spaziert bist. Wie du sie hervorgeholt und betrachtet hast. Ja, du hast es gewusst. Du hast es gewusst.«
Alice schüttelte den Kopf. »Das ist nicht real, nichts davon. Sie sind verrückt. Sie brauchen Hilfe, das ist alles nicht wirklich. Es … es sind bloß Geschichten, nur Märchen.«
»Oh, aber es ist real, kleine Alice.« Er lächelte. »Die Geschichten sind real. Ich habe sie Wirklichkeit werden lassen, begreifst du das nicht?«
Alice erinnerte sich an die in einen Graben geworfene Prinzessin. An das Gesicht einer toten jungen Frau, verborgen von einer scharlachroten Kapuze. An eine Schönheit auf einem Foto, die tot unter den Bäumen lag, die Augen geöffnet. Und sie stellte fest, dass sie nichts erwidern konnte.
»Ihre Leben waren verwirkt«, sagte Levitt. »Für etwas Größeres als sie selbst.« Sein Tonfall wurde sanft. »Es wäre so oder so passiert, verstehst du das nicht? Auf diese Weise hatte es eine Bedeutung. Sie mussten nie alt werden, nie ihre Schönheit verlieren. Jetzt werden sie immer so bleiben. Sie sind zu einem Teil von etwas Größerem, von etwas Wichtigerem geworden. Sie sind zu einem Teil der Geschichte geworden.
Deshalb habe ich ihnen die Geschenke meiner Schwester gegeben – den Spiegel, das Taufarmband, sogar ihre Milchzähne. Meine Mutter hat früher immer behauptet, sie sei die Zahnfee. Sie hat die Zähne jahrelang in einem Glas aufbewahrt, bis sie ihrem Gedächtnis entfallen sind – aber ich habe mich daran erinnert.«
Er seufzte. »Ich brauchte ihre Macht, Alice. Rotkäppchen, Dornröschen, Schneewittchen. Und ich brauche auch deine.« Kurz verstummte er. »Ich glaube, sie wusste es«, flüsterte er. »Die Erste, sie hatte getrunken, aber ich glaube, sie wusste es trotzdem, meinst du nicht auch? Später hat sie zwar gesagt, sie wüsste es nicht, doch da war es schon zu spät. Die Zweite ist mit mir mitgekommen, als hätte sie ihr Leben lang darauf gewartet. Und die Dritte – so stark. Weißt du, ich konnte das Leben in ihr spüren. Oder besser gesagt die Leben.«
»Sie haben gewusst, dass sie schwanger war«, brachte Alice stammelnd hervor.
»Ich nicht, jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt. Aber ich wusste, wo ich sie finden würde. Ich wusste, in welches Märchen sie passen würde.«
Alice schüttelte den Kopf. »Wie? Woher haben Sie es gewusst?«
Levitt lächelte. »Sie hat es mir gezeigt«, flüsterte er.
»Wie meinen Sie das? Wer hat Ihnen was gezeigt?«
»Der Vogel natürlich – meine Schwester. Sie hat mir gezeigt, wen ich nehmen soll. Sie hat mir deren Lieder ins Ohr gesungen.«
»Der Vogel?«
»Sie ist doch auch zu dir gekommen, Alice, nicht wahr? Sie hat mich zu dir geführt. Sie hat dich hier abgeliefert.«
»Aber …«
»Der Vogel ist meine Schwester, Alice. Hast du ihn etwa für deinen Freund gehalten? Tja, das ist er nicht. Sie ist nicht deine Freundin. Sie will, dass ich zu ihr komme, Alice, und das tue ich.« Er hob auf, was er auf den Stuhl gelegt hatte, fuhr mit den Fingern darüber. Es war mit Federn übersät, von denen einige abfielen und zu Boden schwebten. Levitt faltete den Gegenstand auseinander und breitete ihn vor sich aus: Es handelte sich um einen Mantel.
»Ich habe sie studiert«, erklärte er. »Ich kenne die Streptopelia turtur und den Cygnus columbianus. Ich kenne die Asio flammeus, und ich weiß um ihre wahre Natur. Ich kenne ihre Formen. Die Luscinia megarhynchos birgt keine Geheimnisse, der Cuculus canorus kann keine Tricks, jedenfalls nicht für mich, denn ich verstehe sie alle.« Er klopfte sich mit dem Finger seitlich an die Nase, als weihe er Alice in ein Geheimnis ein. »Weißt du, ich habe sie gefüttert. Ich habe ihnen in Schädlingsbekämpfungsmittel getränkte Samen gegeben. Ich habe es in ihr Wasser geschüttet. Ich habe ihnen vergiftetes Brot und vergifteten Fisch gegeben – weil ich auch ihre Macht brauche, Alice. Ich brauche sie, wenn ich ihr folgen will, wenn ich es erfahren will.«
Alice starrte auf den Mantel. Federn übersäten ihn, Federn aller Art – Federn zum Fliegen, zum Wärmen, zum Protzen; Federn von jeder Farbe – graue Federn, braune Federn, rote und rosa Federn und Federn in sämtlichen Schattierungen dazwischen; die scharfkantigen Umrisse von Flügelfedern, die runderen Formen von Konturfedern, vereinzelt weiche Daunen. Ein muffiger, unsauberer Geruch ging von dem Kleidungsstück aus.
»Krähe und Spatz und Rotkehlchen und Fink«, sagte er, »Rabe und Eule und Zaunkönig. Sie alle sind in meinen Garten gekommen, Alice. Sieh nur, was sie mir gegeben haben.« Er fuhr mit den Fingern darüber, liebevoll und hämisch zugleich.
»Ich verstehe nicht.«
»Nein«, meinte er lächelnd. »Tust du nicht. Wirst du aber noch. Ich kann es in dir sehen, Alice. Durch deine Adern fließt genau dieselbe Macht wie bei den anderen, nur ist sie dieses Mal noch besser, noch stärker; weil du glaubst, weil du weißt. Du musst für mich glauben. Sie alle sollten leben. Hast du das erkannt? Allesamt waren sie Prinzessinnen, und sie hätten glücklich bis an ihr Ende leben sollen, aber ich habe sie im Augenblick der Verwandlung aufgehalten. Ich habe ihre Macht in mich aufgenommen. Und der blaue Vogel hat dich – genau wie die anderen – ausgewählt. Sie hat dich auserkoren.«
Er verstummte, fuhr mit einem Finger über die Federn und richtete sich auf. »Der Vogel ruft mich. Hörst du sie? Ich habe ihnen ihre Magie genommen, Alice; ich habe ihre Geschichten beendet und eine neue begonnen.« Levitt hielt den Mantel hoch. »Ich komme ihr näher, meiner Schwester. Ich werde sie wiedersehen – in einer Gestalt, die sie kennt. Und ich werde mit ihr reden und endlich verstehen, was sie von mir will.«
Er schwang die Arme herum und legte sich den Mantel um die Schultern. »Das habe ich gelernt«, sagte er. »Menschen verwandeln sich in Märchen. Immer, oder? Ein Mädchen wird zu einem Vogel. Brüder werden zu Schwänen und verwandeln sich nur zurück, wenn sie in magische Hemden gekleidet werden, gefertigt mit der Liebe und aus dem Blut ihrer Schwester.« Wieder atmete er schwer, und Alice konnte es hören, ein Geräusch, das beinah intim anmutete.
»Ich werde mich auch verwandeln – aber es ist noch nicht vollendet. Eine Feder fehlt noch, Alice, eine Transformation ist noch offen.« Er streifte den Mantel ab und legte eine Hand ans Ohr. »Hörst du es nicht? Sie wartet.«
Da hörte es Alice tatsächlich – ein reiner, hoher, flötender Ton drang aus dem Wald herein. Ein Vogel, der die Luft mit seinem Lied erfüllte.
»Ich brauche mehr Magie«, erklärte Levitt. »Und du wirst sie mir geben.«
Alice stemmte sich hoch und stolperte von ihm weg, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand des Verschlags stieß. Sie bewegte sich daran entlang, aber Levitt erwies sich als zu schnell: Er versperrte ihr den Weg. Alice blickte ihm in die Augen und erkannte den Wahnsinn darin. Er würde sie umbringen und sie wie die anderen inszenieren; eine tote junge Frau, die eine Geschichte erzählte.
Sie beugte sich vor, ergriff den Schemel, auf dem sie gehockt hatte, und streckte ihn vor sich.
»Also, Alice – ich will doch nur die Feder. Das ist alles.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nur die Feder – sie hat sie dir geschenkt, das weiß ich, denn ich habe von meinem Versteck aus beobachtet, wie du sie angesehen hast. Mir hat sie nie eine Feder geschenkt. Ich brauche sie.«
Abermals schüttelte Alice den Kopf. »Nein – Sie irren sich. Ich hatte eine Feder, aber ich habe sie nicht bei mir. Sie ist zu Hause.« Kurz verstummte sie. »Ich hole sie für Sie. Wir könnten auch zusammen gehen.« Nach Hause, dachte sie. War die Polizei noch dort und wartete auf sie? Sie schaute Richtung Eingang, als könnte sie erspähen, wie die Beamten durch den Wald marschierten.
»Was für eine Lügnerin.« Levitt grinste. »Hör nur genau hin. Es kommt niemand, Alice. Und ich habe dich beobachtet, schon vergessen? Ich weiß, dass du sie in der Tasche aufbewahrst. Du hast sie jetzt dabei, du musst sie haben. Wie könntest du sie aufgeben? Das würdest du nicht tun. Ich weiß, dass du es nicht tun würdest, weil du es fühlen kannst, nicht wahr? Du fühlst ihre Stärke. Ihre Magie.«
Alice verspürte einen Anflug von Kälte. Es stimmte, oder? Sie versuchte, sich an eine Gelegenheit zu erinnern, bei der sie sich von der Feder getrennt hatte, seit der blaue Vogel zu ihr gekommen war, und ihr fiel keine ein. Die Feder befand sich in diesem Augenblick – wie immer – in ihrer Tasche.
»Gib sie mir.« Levitt streckte eine zittrige Hand aus.
»Nein«, weigerte sich Alice. »Nur wenn Sie mir aus dem Weg gehen. Ich verschwinde nach draußen und lasse sie für Sie auf dem Boden liegen.« Dann könnte sie zurück durch den Wald rennen, weit weg von ihm.
Er lächelte. Seine Augen leuchteten, als hätte sie einen herrlichen Witz erzählt. »Das brauchst du nicht zu tun, Alice. Keine Sorge. Ich komme und hole sie mir.« Damit trat er vor, gleichzeitig jedoch drehte er sich zur Seite und ergriff etwas, das an der Wand des Verschlags gelehnt hatte.
»Das habe ich für dich gemacht«, verriet er.