Kapitel 3

Cate raste durch die Kurven. Das Blaulicht blitzte über die niedrigen Steinmauern, als sie in südlicher Richtung auf das Dorf Ryhill zuhielt. Diesmal achtete sie nicht auf die Straßenschilder – dafür fuhr sie viel zu schnell, und außerdem gab es in dieser Gegend ohnehin kaum Schilder. Ringsum erstreckten sich nur weitläufige grüne Felder ohne irgendeinen Hinweis, der darüber informierte, wohin eine Abzweigung führte. Sie schlingerte in weitem Bogen durch eine weitere Neunziggradkurve und holperte über die Schlaglöcher. Es war keine besonders gut gewartete Straße – sie wurde eben wenig befahren. Cate vermeinte, eine andere Sirene neben dem Klang ihrer eigenen zu hören, und als sie auf einen geraden Abschnitt gelangte, stellte sie fest, dass sie damit recht hatte: Um die nächste Kurve verschwand ein weiteres Polizeifahrzeug.

Vor ihr erblickte sie flüchtig eine Reihe roter Ziegelsteinhäuser, die den äußersten Rand von Ryhill kennzeichneten. Es handelte sich um ein ehemaliges Bergbaugebiet, in dem die blühenden Grubendörfer früherer Tage nunmehr inmitten üppigen Grüns vor sich hin schlummerten. Das alte Tagebauland war umgewidmet und in den Anglers’ Country Park verwandelt worden. Staubecken, die früher einen Kohlentransportkanal versorgt hatten, boten heute ein ideales Naturreservat. Nicht weit entfernt lag das Vogelbrutgebiet, ein Seepfad mit Plätzen für Vogelbeobachter und einem eigenen Besucherzentrum. Als Kind war sie öfter dort gewesen, um die Enten zu füttern. Sie erinnerte sich noch lebhaft an das Quaken und Krächzen der Tiere, an das Schnappen ihrer Schnäbel.

Cate bog in die Richtung des Vogelbrutgebiets, weg von den Häusern und vom Dorf, fuhr durch eine Linkskurve und gelangte in den Wald. Die Straße fiel sofort ab, und sie geriet in Schatten, dennoch konnte sie sehen, wo das andere Fahrzeug angehalten hatte. Dessen Sirene war verstummt, aber das Blaulicht färbte immer noch rhythmisch die Unterseite der Blätter und Äste.

Zwei Männer standen neben dem Auto. Einer war vielleicht Mitte fünfzig, der andere jünger, noch grün hinter den Ohren. Beide trugen Öljacken und hielten Angelruten. Neben ihnen lag ein schwarz-weißer Hirtenhund mit dem Kopf auf den Pfoten. Ein zuckendes Ohr verriet, dass er nicht schlief. Der ältere Mann hob eine Hand und streckte den Zeigefinger hoch. Die Handbewegung erinnerte Cate an die in der Gegend verbreitete Geste, mit der sich einander entgegenkommende Autofahrer grüßten. Dann zeigte er in Richtung der Bäume. Auf einer kleinen Lichtung prangten zwischen den Stämmen kahle Erdstreifen. Es handelte sich um eine Problemzone: Die Menschen kamen her, um alte Kühlschränke und Matratzen im Schutz der Bäume abzuladen. Müll türmte sich dort; ein Haufen Plastiktüten, die nackten Spiralen von Bettfedern, die aus den konturlosen, verrottenden Formen hervorragten.

Cate drehte den Kopf und erblickte erschrocken den Angler aus nächster Nähe. Er beugte sich über die Motorhaube. Jede Ader seiner Nase und seiner Wangen zeichnete sich deutlich ab. Seine Züge wirkten immer noch ausdruckslos. Sie ertappte sich bei der Frage, wann er vergessen hatte, wie man lächelte. Er streckte den Arm bedeutungsvoll geradewegs in Richtung der Bäume. Cate öffnete die Tür und hörte ein einziges Wort: »Da.« Er sprach es als zwei Silben aus: Da-a.

Ihr Blick folgte seiner Geste, und sie sah eine Gestalt, die im Filigranmuster der Schatten stand. Cate erkannte ihren alten Lehrmeister, Len Stockdale, auf Anhieb; was sie hingegen nicht kannte, war der Glanz in seinen Augen. Als sie sich ihm näherte, konnte sie spüren, dass es in ihm kochte; es ging eine Intensität von ihm aus, die sie beinah sehen konnte. Dann bedeutete er ihr: »Wir sind die Ersten hier.« Als hätten sie etwas gewonnen.

Cate spähte an ihm vorbei. Sie sah verschiedene Farben, das schmutzige Weiß und das knallige Blau von Müllsäcken … Und etwas anderes, ein sauberes, leuchtendes Rotgelb. Auch einen aufdringlichen Geruch nahm sie wahr, der sich zugleich süßlich und bitter vom Gestank verrottenden Mülls und dem leichten Mief von Chemikalien abhob. Stockdale schüttelte den Kopf. »Es ist ein Mädchen, ein Teenager. Für alle Fälle habe ich sie auf Lebenszeichen untersucht – kein Glück. Ist nicht nötig, dass du das auch zu Gesicht bekommst, meine Liebe.« Er griff nach seinem Funkgerät und begann, Meldung zu erstatten.

Cate trat zur Seite, um besser sehen zu können. Der saubere rotgelbe Farbton, den sie flüchtig erblickt hatte, stammte vom Kleid eines Mädchens. Lang und wallend breitete es sich über und um eine Gestalt aus, die auf dem Boden lag. Der Stoff war dünn und glänzend, Satin, vielleicht auch Seide, zu zart, um Wärme zu spenden. Die Farbe hob sich deutlich von den stumpfen Grau- und Brauntönen der Baumstämme, des kahlen Untergrunds und des Mulchs von zertrampeltem Müll ab. In der Nähe befanden sich ein Haufen öliger Lappen und ein halb gegessener, braun gewordener Apfel.

Das Gesicht konnte Cate noch nicht erkennen, aber sie erinnerte sich an das Foto eines unbeschwerten jungen Mädchens in einem gelben Kleid, dessen Züge seiner Mutter so sehr ähnelten. Und sie erinnerte sich an Mrs Farrell, der Tränen aus den Augen getreten waren. Der Gesichtsausdruck der Frau hatte von hohlem, leerem Schock gezeugt; das Leiden einer Frau, die erfahren musste, was ihrer Tochter zugestoßen war.

Cate schaute Len Stockdale an und näherte sich dem Fundort.

Sie war schon des Öfteren mit dem Tod konfrontiert worden. Das gehörte zu ihrer Arbeit, kam regelmäßig vor, und häufig handelte es sich um einen grausamen, unschönen Tod: Körper, die durch einen Unfall mit einem Motorrad zerfetzt wurden, oder Leichen, verheert von Verwesung, bevor man sie in einer stillen Wohnung fand. Deshalb konnte sie sich ihr Zögern nicht erklären, als sie sich verhalten vorbeugte, um sich das Gesicht des Mädchens anzusehen.

Die Haut war blass, wirkte im Vergleich zum grellroten Lippenstift totenbleich. Als Erstes jedoch fielen Cate die Haare auf, die ebenfalls die Blässe der Haut betonten, denn die Haare waren schwarz schwarz. Cate verspürte einen Anflug von Erleichterung, als sie den gefühllos gestutzten Ponyschnitt betrachtete. Chrissie Farrell, die sie auf dem Foto gesehen hatte, besaß üppige blonde Locken, die ihr über die Schultern fielen.

Aber natürlich war auch dieses Mädchen irgendjemandes Tochter gewesen.

Cate verengte die Augen. Die Haare waren nicht geschnitten, sondern regelrecht abgesäbelt worden. Rings um das Gesicht wirkten sie ausgefranst und so dunkel, dass sie beinah bläulich anmuteten. Keine natürliche Farbe, und die Frisur war bestimmt nicht bewusst so gestylt worden. Sie schnupperte die Luft und versuchte, den chemischen Geruch einzuordnen, dachte dabei an künstliche Haarfarbe. Cate glaubte schon, es zu haben, dann verlor es sich im Aroma von Bleiche. Dennoch war sie überzeugt davon, dass die Haare des Mädchens gefärbt worden waren.

Sie begutachtete das Gesicht eingehender. Die Haut war so blass, ausgebleicht wie bei anderen Leichen, die Cate gesehen hatte, und zugleich ganz anders. Allerdings vermeinte sie, die Form wiederzuerkennen; die Linien der Nase, der Wangen, der Lippen des Mädchens. Wieder dachte sie an Mrs Farrell, an das Bild der Frau und ihrer Tochter im gleichen Kleid, die Gesichter nah beisammen. Cate zog unwillkürlich eine Grimasse.

Sie holte tief Luft und zwang sich, den Rest der Szene auf sich wirken zu lassen. Die Leiche Chrissie – hatte eine Hand auf der Brust, die Finger um einen Gegenstand geschlungen, den sie umklammerten. Es sah aus wie ein Handspiegel. Er lag mit der Vorderseite nach unten, weshalb Cate nicht sicher sein konnte, dennoch hielt sie es für genau das – einen altmodischen Spiegel, dessen geschnitzter Griff sich zu einem Holzoval verbreiterte. Sie fand es unwahrscheinlich, dass ein Mädchen dieses Alters so etwas besitzen würde.

Ihr Blick wanderte zurück zu den schwarzen Haaren. Sie hatte geglaubt, dass sich etwas darin verheddert hatte, irgendwelcher Müll, aber sie erkannte, dass sie sich geirrt hatte – das war kein Müll, sondern eine Krone aus Kunststoff mit unechten Juwelen und Pailletten, die in dem Licht, das sich den Weg durch das Blätterdach bahnte, nur stumpf wirkten.

Und die Lippen des Mädchens – der grelle Lippenstift darauf sah plump aufgetragen und billig aus. Cate rief sich das Mädchen auf dem Foto ins Gedächtnis – jenes Mädchen hätte sich die Lippen bestimmt nicht so bemalt. Vielleicht lag sie trotz allem falsch; vielleicht handelte es sich ja doch nicht um Chrissie Farrell. Es konnte auch der Beginn eines Albtraums für jemand anderen sein.

Das Bild der mit Seidenpapier ausgekleideten Schachtel auf Angie Farrells Küchentisch tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Sie dachte zurück an den Stöpsel der Glasflasche und blickte zu den Füßen des Mädchens hinab. Das Kleid verdeckte sie so, dass Cate sie nicht sehen konnte, aber sie erinnerte sich an die Farbe des Nagellacks, der ihr an der abgetrennten Zehe aufgefallen war, und hatte nicht vergessen, dass sie beinah dem Farbton des hellen, rotgelblichen Stoffs entsprach.

Cate trat einen Schritt näher hin und versuchte stattdessen, die Finger des Mädchens auszumachen – vielleicht würden ihre Fingernägel in derselben Farbe lackiert sein. Eine Hand umklammerte den Spiegel so, dass er die Nägel verbarg. Die andere lag an ihrer Seite. Cate schaute hin – und ihr stockte der Atem.

»Nicht, was du zu sehen gewohnt bist, nicht wahr, meine Liebe?«, ertönte hinter ihr Lens Stimme, und sie zuckte zusammen. Langsam schüttelte sie den Kopf.

»Verstärkung ist unterwegs. Die Kriminalpolizei kommt.« Seine Stimme klang eine Tonlage tiefer als sonst, und Cate fiel ein, dass er zwei Kinder hatte, einen Jungen und ein Mädchen, beides Teenager. Bei ihren Patrouillen hatte er sich endlos über sie beklagt und behauptet, sie lebten nur, um ihn zu ärgern. Cate glaubte vielmehr, dass sie ihn verwirrten. Sie fand es seltsam, dass Menschen im selben Haus zusammenleben und einander doch überhaupt nicht verstehen konnten. Dabei musste sie erneut an Mrs Farrell denken. Zweifellos würde sie im Augenblick alles dafür geben, von Chrissie geärgert zu werden.

»Wir müssen eine Absperrung errichten. Geh du besser und rede mit denen. Nimm ihre Aussagen für das Tatortprotokoll auf. Und halt sie von hier fern.« Er deutete zu den Anglern, und Cate nickte. Sie warf einen letzten Blick auf Chrissie Farrell, auf das zerzauste Haar, auf die verheerte Hand. Die offenen Augen des Mädchens starrten zu den über ihr aufragenden Bäumen hoch, und etwas an ihnen ließ Cate innehalten. Sie hatte die Reflexion der verschlungenen, überhängenden Äste in den Augen gespiegelt gesehen, nun jedoch erkannte sie, dass es sich doch nicht um eine Reflexion handelte. Die Male befanden sich in ihren Augen. Sie waren in Wirklichkeit geplatzter Blutgefäße: petechiale Blutungen, Anzeichen für einen Erstickungstod. Als Cates Blick jedoch zum Hals des Mädchens wanderte, wies die Haut dort keine Makel auf und präsentierte sich so blass wie das Gesicht.

Die Angler stellten sich als Vater und Sohn heraus, obwohl sie einander nicht einmal ansahen, als Cate mit ihnen sprach. Nur gelegentlich begegneten sich ihre Blicke – bevorzugt jedoch starrten sie auf den Boden oder die Straße entlang, als wünschten sie, irgendwo anders zu sein. Sogar der Hund stand ein Stück abseits und glotzte ins Leere. Die Zunge baumelte aus einem ahnungslos grinsenden Maul. Der Junge spähte immer wieder zu dem Tier, als versuche er, sich zusammenzureimen, was es überhaupt hier tat. Die Knöchel seiner Finger traten in der Farbe von Knochen hervor, so fest hielt er immer noch die Angelrute umklammert.

Die Züge des Älteren der beiden blieben regungslos, als er sprach. Ihr Nachname lautete Dereham, und sie kamen häufig zum Angeln in die Gegend. Doch diesmal hatte ihr Ausflug ein jähes Ende erfahren. Als der Hund in den Wald abgebogen war, waren sie gerade aus dem Dorf herübergewandert – der Mann nickte in die Richtung der Reihe von Häusern, die den Rand von Ryhill kennzeichneten, und Cate erhaschte einen flüchtigen Blick auf roten Ziegelstein durch die Bäume.

»Normalerweise rennt er nicht weg«, sagte er. »Und er wollte auch nicht zurückkommen. Wir mussten ihm folgen.« Cate sah Kummer in seinen Augen. »Mein Junge hier hat die Polizei angerufen. Ich hab’s nicht so mit diesen Mobiltelefonen. Aber geredet hab trotzdem ich. Also ich war’s, der’s euch gemeldet hat.«

Sein Sohn nickte und schaute weg, als schäme er sich.

»Und dann haben wir gewartet. Das war alles.«

Cate stellte einige weitere Fragen und fand heraus, dass es sich damit tatsächlich hatte. Die Derehams hatten ein paar Autos vorbeifahren gesehen – Familien auf der Durchreise woandershin oder vielleicht zum Besucherzentrum weiter unten entlang der Straße. Aber niemand hatte angehalten oder auch nur in den Wald geschaut, ehe die Polizei eingetroffen war.

Mittlerweile konnte Cate in der Ferne weitere Sirenen hören. Sie wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie hier wären, und kurz danach bog auch schon ein weiterer Streifenwagen um die Kurve und hielt beim Heck ihres Autos an. Dahinter folgte noch ein Zivilfahrzeug – die Kavallerie.

Für Chrissie Farrell kam das alles zu spät.

Bald würde es im Wald von Kriminalpolizisten, Tatorttechnikern, Fotografen und dem Gerichtsmediziner wimmeln; und danach würde nur eine leere Stelle zurückbleiben, an der Chrissie gelegen hatte, ein kleines Fleckchen, auf dem der Müll etwas platter gedrückt sein würde als überall sonst.

Autotüren schwangen auf, Menschen stiegen aus. Einige erkannte Cate, andere nicht. Die Kriminalpolizisten präsentierten sich in Zivilkleidung. Sie würden das Ruder übernehmen, Len und Cate würden ihnen assistieren, ihre Aussagen abgeben, und damit wäre die Angelegenheit für sie erledigt. Schon beim Eintreffen am Tatort hatte Cate gewusst, dass sie nicht lange mit dem Fall befasst sein würde.

Sie fragte sich, wer Mrs Farrell die Neuigkeit mitteilen würde und ob die Frau ihr Kind identifizieren musste. Ob Erleichterung in ihre ausdruckslosen Augen treten würde, wenn sie zuerst das pechschwarze Haar erblickte.

Len Stockdale befand sich bereits im Revier, als Cate zurückkam; wieder knapp vor ihr. Wie zu erwarten, hatte die Kriminalpolizei die Ermittlungen übernommen; für sie blieb nur noch, ihre Aussagen abzuschließen. Cate fühlte sich erleichtert, wenngleich sie nun, da sie mit der Sache nichts mehr zu tun hatte, unwillkürlich etwas empfand, das sie nicht recht einzuordnen vermochte. Oder war das ein leichter Anflug von Enttäuschung? Noch so früh in ihrer Karriere, und schon war sie flüchtig mit etwas in Berührung gekommen, das ein großer Fall sein musste. Wie die Leiche zurückgelassen worden war … Das zeugte von keinem gewöhnlichen Gewaltverbrechen. Warum waren diese Dinge mit ihren Haaren, ihren Lippen, ihren Händen angestellt worden?

Ihre Hände.

Eine Hand hatte eingerollt an der Seite des Mädchens gelegen, trotzdem war Cate in der Lage gewesen, die Finger zu erkennen. Es hatte ausgesehen, als wären die Nägel ausgerissen worden; verkrustetes Blut hatte die Kuppen überzogen. Cate ballte die eigenen Hände zu Fäusten, eine Geste, die eher sie selbst schützen als Aggression ausdrücken sollte.

Natürlich lag es nicht nur an Chrissies Händen – und sie betrachtete die Leiche als Chrissie, war überzeugter denn je davon, dass es sich um das Mädchen von dem Foto handelte, ungeachtet der Haare. Auch die Füße deuteten darauf hin. In Summe hatte ihr jemand die Nägel ausgerissen, eine Zehe abgeschnitten, ihre Haare und ihre Lippen bearbeitet und ihr anschließend jene Krone auf den Kopf gesetzt, vielleicht zum Hohn.

Cate schloss die Augen. Als sie es tat, tauchte ein völlig anderes Bild von Chrissie in ihrem Geist auf. Ein Bild, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es existierte. Sie stellte sie sich als kleines Kind mit goldenen Locken vor, das sich wohlbehalten zu Hause aufhielt und von der Mutter, die ihr gerade aus einem Buch vorlas, in den Armen gehalten wurde. Nur ein kleines Mädchen, dem eine Gutenachtgeschichte vorgelesen wurde.

Cate schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, warum ihr der Gedanke gekommen war, aber irgendwie schien er wichtig zu sein.

Natürlich ist er das, dachte sie. Chrissie ist jemandes Tochter. Und ihre Mutter sollte nie sehen müssen, was ihrem Kind widerfahren ist.

»Es geht um Eitelkeit«, ertönte eine Stimme an ihrer Schulter.

Zum zweiten Mal an jenem Tag zuckte Cate zusammen; es war Len. »Was?«, fragte sie nach.

»Passt genau. Der Spiegel, die Krone, die gefärbten Haare. Das Ausreißen ihrer Fingernägel. Alles deutet auf Eitelkeit hin. Er hat sie sich geholt, weil sie sich so herausgeputzt hatte. Und sie dann beim Müll abgeladen.«

Cate runzelte die Stirn.

»Und die Flasche. Er hat ihrer Mutter die Parfümflasche geschickt, als wollte er damit sagen, das sei alles, was ihre Tochter ausgemacht hat.«

Cate drehte sich zu ihm um. »Eitelkeit«, wiederholte sie.

»Wahrscheinlich ist es jemand, der sie beobachtet hat, oder vielleicht hat es sich auch zufällig ergeben. Irgendjemand, der junge Mädchen hasst, die sich so aufbrezeln, wollte ihr eine Lektion erteilen. Aber wie die Leiche platziert wurde – das ist schon merkwürdig. Das war niemand, der bloß die Beherrschung verloren und sie an der Kehle gepackt hat. Nein, darüber hat jemand nachgedacht. Das war definitiv vorsätzlich. Wahrscheinlich ein älterer Kerl, der es nicht ausstehen kann, wie sie ihre Haare herrichten, wie sie sich schminken, wie sie miteinander plappern und wie sie kichernd mit hohen Absätzen herumstolzieren.« Kurz verstummte er. »Wenn sie in Gesellschaft sind. Vielleicht ist dieser Typ gesellschaftsfeindlich. Er könnte ein Einzelgänger sein, der andere hasst, die dazugehören, die …«

»Lebendig sind«, stieß Cate hervor.

»Genau. Und deshalb hat er es getan.«

Stockdale sagte nicht, dass er sie deshalb umgebracht hatte. Cate fiel durchaus auf, wie er das Wort vermied. Sie mochte ihn dafür. Ihr fiel das Foto ein, auf dem sie Chrissie gesehen hatte; das Mädchen im gelben Kleid, die Mutter im weißen. Cate schien außerstande zu sein, diese Assoziation von dem zu trennen, in was das lächelnde Mädchen verwandelt worden war: die blicklos starrenden Augen, die blutigen Hände. »Der Mistkerl hat sie gefoltert«, sagte sie.

»Er mag solche Mädchen nicht, was? Wie sie in ihren hübschen Kleidern und mit ihrem Make-up aufreizend rumlaufen. Ich schätze, so sieht er das.«

In Stockys Stimme schwang irgendetwas mit, und Cate dachte an seine Tochter. Sie fragte sich, ob sie ihm gerade durch den Kopf ging. Vermutlich schon. Wie sie in ihren hübschen Kleidern und mit ihrem Make-up aufreizend rumlaufen. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass er dasselbe über sein eigenes Kind sagen könnte, doch sie wusste, dass sich seine Stimme dabei schlimmstenfalls resignierend anhören würde – vielleicht mit einem verträumten Unterton, aber es würde noch etwas anderes herausklingen: Stolz. Die Vorstellung, dass jemand seine Tochter anfassen und dafür bestrafen könnte, dass sie sich weiterentwickelte und zur Frau heranwuchs, würde Wut in ihm entfachen und ihn vor Kummer zerstören.

Sie fragte sich, ob schon jemand mit Mrs Farrell über die im Wald gefundene Leiche gesprochen hatte. Cate ertappte sich dabei, einen Moment lang zu hoffen, dass dem nicht so sein möge. Lasst ihr noch etwas Zeit, dachte sie. Gönnt ihr wenigstens das.

Aber etwas von dem, was Stocky gesagt hatte, nagte noch an ihr. Da war etwas, das nicht stimmte. Es gelang ihr nicht, zu bestimmen, worum es sich handelte. Cate schloss die Augen, und sofort erschien das Bild von Chrissie: ein junges Mädchen, das sich über ein Buch beugte, während die Mutter im Hintergrund lächelte. Mrs Farrells Lippen bewegten sich mit den Worten.

Plötzlich begriff Cate, weshalb sie das geistige Bild eines Kindes und einer Gutenachtgeschichte vor Augen hatte. Sie öffnete den Mund, um es Stocky zu sagen, und schloss ihn wieder. Es war lächerlich, lag nur an ihren Emotionen, die sich in den Vordergrund drängten. Er würde sie für albern halten und hätte damit sogar recht. Die Krone, die Haare, der Spiegel – Len hatte es auf Anhieb erkannt. Es ging tatsächlich um Eitelkeit, und hätte Cate klar gedacht, hätte sie es selbst bemerkt.

Nur hatte die Flasche, die Mrs Farrell zugestellt worden war, nicht wirklich wie eine Parfumflasche ausgesehen, oder? Bei einer so großen Flasche müsste es sich schon um ziemlich billiges Parfum gehandelt haben. Außerdem war das Glas alt und von so schlechter Qualität gewesen, dass ihr winzige Bläschen darin aufgefallen waren. Und dann noch diese tiefen Rillen, bei denen durch die dickeren Erhebungen der Inhalt kaum erkennbar gewesen war – das erinnerte eher an etwas, das man in einem Antiquitätenladen finden würde. Glas mit solchen Rillen – hatte das nicht früher einmal bedeutet, dass die Flasche Gift enthielt?