Kapitel 33

Sarah Brailsford saß am Küchentisch, die Stirn vor Konzentration gerunzelt, während sie mit den Fingern Kondenströpfchen von einem Glas Saft wischte. Cate ließ sich von der Mutter des Mädchens ebenfalls ein Glas reichen und bedankte sich. »Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie dieses Treffen einrichten konnten«, sagte sie nicht zu Sarah, sondern zu der Mutter. »Wir wollen Sarahs Unterricht nicht zu sehr stören.«

Die Frau brachte ein vages Lächeln zustande; doch sie wirkte dabei zerstreut. »Ich muss sie bald zurückbringen«, erwiderte sie. »Und ich muss selbst zur Arbeit.«

»Natürlich. Es dauert nicht lange. Wie ich am Telefon schon sagte, bin ich ein paar Dingen im Zusammenhang mit der Tanzveranstaltung nachgegangen und hatte gehofft, Sarah könnte mir dabei helfen.« Sie drehte sich dem Mädchen zu. Sarah schaute über den Tisch hinweg ungefähr in ihre Richtung, sah Cate jedoch nicht direkt an.

»Sarah, du hast mir gegenüber erwähnt, dass du spät dran warst und dein Vater darüber alles andere als erfreut war. Kannst du mir sagen, um welche Uhrzeit das war?«

Sarahs Mutter warf ihr einen bohrenden Blick zu, dem sie keine Beachtung schenkte. »Sarah?«

Das Mädchen schaute kurz auf und wieder weg. Sarah biss sich auf die Unterlippe.

»Wie bist du nach Hause gekommen?«

»Warum ist das relevant?«, wollte Mrs Brailsford wissen.

Cate drehte sich der Mutter mit ihrem besten Lächeln zu. »Ich versuche, herauszufinden, welche Mädchen zuletzt dort gewesen sind und was sie gesehen haben könnten. So kann ich einen zeitlichen Ablauf zusammenstellen – wer war noch dort, was haben diejenigen gesehen und so weiter. Ist alles Routine.«

Sie wandte sich wieder Sarah zu, doch es war ihre Mutter, die das Wort ergriff.

»Sie hat ein Taxi genommen. Wir haben einen Freund, der für das Taxiunternehmen arbeitet, deshalb vertrauen wir denen. Sie hat die Nummer, und wir haben ihr das Geld für die Fahrt gegeben. Aber sie sollte zu Hause anrufen, falls es irgendwelche Probleme gegeben hätte – nicht wahr, Sarah?«

Sie nickte ihrer Mutter kaum merklich zu.

»Also ist Sarahs Vater – Ihr Mann, Mrs Brailsford – wach geblieben, falls er losgemusst hätte, um sie abzuholen?«

»Richtig. Wissen Sie, wir sorgen immer dafür, dass sie wohlbehalten …«

»Natürlich tun Sie das. Niemand stellt das infrage. Also, nur um sicherzugehen … Wann bist du nach Hause gekommen, Sarah?«

Diesmal sprach das Mädchen, murmelte die Worte und rieb sich dabei mit der Hand über den Mund.

»Was hast du gesagt?«, hakte ihre Mutter nach.

»Gegen eins«, wiederholte Sarah. »Vielleicht ein bisschen später. Pa ist aus der Haut gefahren. Er hätte dich geweckt, wenn du nicht eine dieser Schlaftabletten eingeworfen hättest.«

»Meine Tabletten gehen dich nicht das Geringste an, junges Fräulein …«

»Das hat Pa darüber gesagt, als ich heimgekommen bin. Er meinte, es wäre am besten, wenn du nichts davon erfährst.« Sarah grinste höhnisch.

Mrs Brailsford holte tief Luft, und Cate hob eine Hand, um sie zu bremsen. »Wenn du so spät gekommen bist, Sarah, musst du eine der Letzten dort gewesen sein. Du musst gesehen haben, wie Mr Cosgrove abgeschlossen hat. Soweit ich weiß, hatte er Schwierigkeiten mit der Alarmanlage.«

Sie erwiderte nichts.

»Wir haben mit einem anderen Mädchen geredet, das bis etwa gegen zwölf dort war, und was wirklich merkwürdig ist, Sarah – sie hat dich nicht gesehen. Sie sagte, außer ihr, ihrem Freund und Mr Cosgrove sei überhaupt niemand mehr dort gewesen.«

»Was soll das?«, ergriff Mrs Brailsford das Wort.

Cate ließ ihr Augenmerk auf die Tochter gerichtet. »Also, wo bist du gewesen, Sarah? Wenn du dort warst, warum hat Hayley dich nicht gesehen? Was genau hast du gemacht?«

»Jetzt warten Sie mal einen …«

Sarah schob das Glas so heftig von sich, dass Saft auf den Tisch schwappte. Gleichzeitig rutschte sie mit dem Stuhl zurück, der dabei geräuschvoll über den Boden schabte. »Halt die Klappe, Ma. Halt einfach die Klappe!«

»Wag es nicht, so mit mir zu …«

Aber Sarah wandte sich Cate zu, das Gesicht vor Wut oder Elend verzogen – Cate war nicht sicher, was von beidem. Die nächsten Worte presste sie in trockenen Stößen hervor. »Ich wollte ihn sehen, in Ordnung? Ich wollte ihn danach einfach sehen, um zu reden. Nach dem, was … Ich meine, ich wusste, dass er mich mag. Er musste mich mögen. Ich wusste es. Diese dumme Kuh – ihr hat nicht mal was an ihm gelegen!«

Mrs Brailsford lauschte mit offenem Mund. Einen Moment lang wusste auch Cate nicht, was sie sagen sollte; ihr Herz raste. Ihre Handflächen wurden feucht. »Mr Cosgrove. Du hast gewartet, um ihn zu sehen?«

»Das hab ich doch gesagt, oder?« Sarah schaute verdrossen drein, doch ihre Wangen standen regelrecht in Flammen. Sie hatte Tränen in den Augen, auch wenn sie noch nicht fielen.

»Also hast du dich rar gemacht, bis alle anderen gegangen waren? Hast dich irgendwo versteckt, wo Hayley dich nicht sehen konnte?« Cate verstummte kurz. »Mr Cosgrove – er hat versucht, den Alarm zu aktivieren, aber das konnte er nicht. Er konnte es nicht, weil du noch im Gebäude warst.«

»Ich habe mich versteckt«, gestand Sarah. »Ich war hinter der Bühne. Hinter den Vorhängen ist ein kleiner Raum. Dort habe ich gewartet. Ich wollte ihn sehen, nur diese Dumpfbacke Hayley … Sie war noch da. Aber ich hab gehört, wie sie ging, wie sie sich völlig unbekümmert verabschiedet hat, und die ganze Zeit hat sie mir die Tour vermasselt. Und er hat sich auch verabschiedet, und ich hab rausgeschaut.«

Cate spürte ein Prickeln auf dem Rücken wie die leichte Berührung von Fingern. Sie holte Luft. »Und was hast du gesehen?«

»Was glauben Sie wohl, was ich gesehen habe? Ich habe ihn gesehen. Er hatte die Schlüssel in der Hand, nur hat er nichts gemacht. Er hat nur nach draußen geschaut, ewig lang hinausgestarrt, als ob er was beobachtet. Dann hat er angefangen, am Alarm rumzufingern, und es wurde irgendwie komisch. Ich hab ihm eine Zeit lang zugesehen und dachte, es würde ihn zum Lachen bringen, verstehen Sie … Aber dann …«

»Dann?«

»Er hat sich umgedreht und mich bemerkt.« Ihre Züge verfinsterten sich erneut, ihre Mundwinkel zuckten, und diesmal fielen die Tränen. »Er hat mich bemerkt und so ausgesehen, als ob … als ob er …«

»Sarah.« Ihre Mutter trat vor und legte dem Mädchen eine Hand auf den Arm. »Nicht, Sarah.«

»Er hat ausgesehen, als ob er mich hasst, verdammte Scheiße!«

Cate ließ die Worte auf sich wirken und wartete. Sie wusste, dass noch mehr kommen würde.

»Davor hat er mich gemocht, das wusste ich«, fuhr Sarah heulend fort. »Wissen Sie, ich habe ihm ein Buch geschenkt. Ich habe es ihm gegeben, und er hat es genommen, und es hat etwas bedeutet. Das wusste ich. Aber diesmal war es, als würde er mich nicht mal kennen. Ich habe versucht … Ich wollte reden, aber er …« Ihre Worte gingen in ein heftiges Schluchzen über. Sie rieb sich das Gesicht, und als sie die Hände senkte, war ihre Schminke verschmiert, und die Wimpern standen als feuchte Spitzen von der Haut ab.

»Hat er dich angefasst?«, ergriff ihre Mutter schließlich das Wort. »Wenn er dich angefasst hat, dann … dann … Sarah, ich bringe ihn um.«

Das Mädchen schniefte und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Sarah schüttelte den Kopf. »Er hat mir was vorgemacht. Ich meine, er hatte doch mein Geschenk angenommen, oder? Ich dachte, er mag mich.« Wieder begann sie zu weinen, laut und schluchzend.

Ich dachte, er mag mich. Dieselben Worte, die sie schon geäußert hatte, als alles angefangen hatte.

»Was hat er getan, Sarah? Hat er dich aufgefordert zu gehen?«

Langsam nickte das Mädchen.

Cate seufzte. Aber er war dort gewesen. Der Lehrer war dort gewesen, und er hatte gelogen. Er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er dieses Mädchen, dieses Kind, nach der Tanzveranstaltung noch gesehen hatte.

Andererseits: Hätte an seiner Stelle nicht jeder dasselbe getan?

»Du warst also dort«, sagte Cate leise. »Ihr beide wart dort. Und du hast Chrissie Farrell nicht gemocht, Sarah, oder? Hast du sie gesehen? Hast du …«

Sie sah nicht, wie die Mutter sich bewegte, hörte nur, wie sie die Luft zischend zwischen den Zähnen hervorstieß; dann stand die Frau plötzlich mit verzerrter Miene vor ihr. »Das reicht«, fauchte sie. »Es ist an der Zeit, dass Sie gehen, und zwar sofort.«

»Schon gut, Mrs Brailsford, ich entschuldige mich. Aber ein Mädchen ist tot, und ich muss …«

»Ist schon gut, Ma«, schaltete sich Sarah ein. »Du musst aufhören, so zu sein – ich schaffe das. Hören Sie, er hat nichts gemacht. Ist es das, was Sie wissen wollen? Und ich bin um eins aufgebrochen. Ich hab zu ihm gesagt, er hätte mein Buch nicht annehmen sollen. Ich hab ihm vorgeworfen, dass er mich damit in die Irre geführt hat. Und er hat immer wieder beteuert, dass er das nicht wollte, dass er es nicht gewusst hätte und dass ich jetzt nach Hause gehen sollte. Und danach hab ich mir ein Taxi gerufen und musste warten. Und er hat auch gewartet, bis es gekommen ist. Da hat er gar nicht mehr mit mir geredet, hat nur noch ins Leere gestarrt. Und dann bin ich losgefahren, und ich schätze mal, er auch. Das ist alles, okay? War’s das?« Sie schaute von Cate zu ihrer Mutter. »Kann ich jetzt gehen?«

»Nur noch eine Frage«, gab Cate zurück. »Wenn es deiner Mutter recht ist. Ich wollte noch wissen … dieses Geschenk, das du ihm gegeben hast. Worum ging es in dem Buch? Wie war sein Titel?«

Schniefend wandte Sarah den Blick ab.

»Hast du bei ihm Märchen und Sagen gelernt, Sarah? Hatte es etwas damit zu tun?«

Mit gerunzelter Stirn schüttelte das Mädchen den Kopf. »Shakespeare«, sagte Sarah. »Er hat Shakespeare durchgenommen. Ich habe ihm eine Ausgabe von Romeo und Julia geschenkt.« Sie richtete einen finsteren Blick auf Cate. »Er hätte es nicht annehmen sollen. Er wusste, was es bedeutet. Er wusste es genauso gut wie jeder andere.« Ihr Blick wanderte von Cate zu ihrer Mutter. »Er hätte es nicht annehmen dürfen, wenn er es nicht ernst gemeint hat, oder?«